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Eine Klasse für Schulschwänzer

POTSDAM “Disko war cool — Jan total bescheuert.” Nach einem Piep­ton ist die SMS versendet. Der Schul­banknach­bar berichtet vom Woch­enende. Sein Vor­der­mann wiederum schlürft Kakao. Die jun­gen Leute besuchen keinen Jugend­klub, son­dern die erste Unter­richtsstunde nach dem Woch­enende. Ger­ade der Mon­tag­mor­gen ist vie­len Lehrern ein Graus. Doch in ein­er Klasse der Gesamtschule Neused­din (Pots­dam-Mit­tel­mark) ist der Schülertalk aus­drück­lich erwün­scht. An dem Schul­haus läuft eins von ins­ge­samt 35 Schul­ver­weiger­erpro­jek­ten in Brandenburg. 

“Der Mon­tag begin­nt mit der Ankom­men­srunde — die Schüler kön­nen alles raus­lassen, was sie am Woch­enende erlebt haben”, erk­lärt Heike Bach. Die Sozialpäd­a­gogin betreut schon seit zehn Jahren schul­müde Jugendliche. Vor zwei Jahren wurde an der Gesamtschule Neused­din (Pots­dam-Mit­tel­mark) eine eigene Klasse für Schulschwänz­er gebildet. Derzeit ler­nen dort neun junge Leute in der Klassen­stufe neun. Zwei Sozialpäd­a­gogen und zwei Lehrer bemühen sich in der Spezialk­lasse um prax­is­na­hen Unter­richt. Zum Ler­nen geht es auch schon mal ins Jugend­camp nach Blossin (Dahme-Spree­wald). “Hier kön­nen die Schüler zwis­chen­durch an der Klet­ter­wand Energie raus­lassen”, sagt Bach. Nicht alle Schu­la­b­sti­nen­zler könne man ret­ten. Doch etwa 80 Prozent der Ex-Schul­ver­weiger­er schaf­fen in Neused­din die neun­jährige Pflichtschulzeit. 

Nach Schätzun­gen des Bun­des­bil­dungsmin­is­teri­ums besuchen in Deutsch­land min­destens 100 000 schulpflichtige Jugendliche nicht mehr den Unter­richt. In Bran­den­burg gehen die einzel­nen Träger der Jugend­hil­fe von bis zu 2000 behar­rlichen Schul­ver­weiger­ern aus, Ten­denz steigend. “Genaue Zahlen existieren nicht, da nicht definiert ist, wann ein Schüler als Schul­ver­weiger­er gilt”, so Thomas Hainz, Sprech­er des Pots­damer Bil­dungsmin­is­teri­ums. Die meis­ten Schulschwänz­er sind 13 bis 16 Jahre alt. Seit zwei Jahren unter­stützt Bran­den­burg 14 “Inte­gri­erte Pro­jek­te von Jugend­hil­fe und Schule zur Ver­mei­dung von Schu­la­b­brüchen”. Durch EU-Fördergelder ste­hen dafür 5,9 Mil­lio­nen Euro zur Ver­fü­gung. 30 Prozent der Mit­tel kom­men vom Land. Aktuell befind­en sich in der Mark mehr als 150 Schüler in geförderten Koop­er­a­tionspro­jek­ten von Schule und Jugend­hil­fe. Dieses Ler­nange­bot gilt bun­desweit als wegweisend. 

Kri­tik an den sep­a­rat­en Klassen für Schul­müde kommt von anderen Pro­jek­thil­fen gegen Schul­ver­weigerung. “Inte­gra­tive Arbeit wäre bess­er als die Jugendlichen aus dem Klassen­ver­band her­aus zu isolieren”, moniert Jugendpsy­chologe Thomas Wolter. Der 42-Jährige leit­et die Jugen­dein­rich­tung Haus Far­ben­froh in Prieros (Dahme-Spree­wald). 90 Prozent der Klien­ten sind frühere Schul­ver­weiger­er, die heute in “nor­malen” Schulk­lassen unter­richtet werden. 

Schul­ver­weigerung sei nicht automa­tisch eine Null-Bock-Hal­tung. Lust­losigkeit entste­he durch fehlende Per­spek­tiv­en für die spätere Beruf­saus­bil­dung oder in der Fam­i­lie. Zu hohe Klassen­stärken und über­forderte Lehrer spie­len eben­so eine Rolle, so Wolter. Viele junge Märk­er bleiben wochen‑, manch­mal monate­lang dem Unter­richt fern. Schei­dungskinder wür­den beson­ders oft schwänzen, so die Ein­schätzung des Jugendpsy­cholo­gen aus Prieros. Der ver­weist auf die wach­sende Diskrepanz zwis­chen steigen­den Schu­lan­forderun­gen und schwierigem famil­iären Umfeld. Eltern kön­nten oder wollen ihrem Erziehungsauf­trag nicht mehr aus­re­ichend nachkom­men. “Ger­ade davon hängt aber der schulis­che Erfolg ab”, so Wolter. Das Hil­f­sange­bot der geförderten Pro­jek­te set­ze in der 8. bzw. 9. Klasse zu spät ein. “Trödeln und Träu­men sind die ersten Symp­tome bere­its in der Grundschule.” 

Mike (Name geän­dert), ein­er der Bewohn­er im Haus Far­ben­froh, schiebt den schwarzen Peter den Schulen zu. “Mich wun­dern die laschen Anwe­sen­heit­skon­trollen der Lehrer. Bei anstren­gen­den Schülern, die fehlen, denken manche vielle­icht: Wun­der­bar, den bin ich los.” In der Neused­din­er Pro­jek­tk­lasse holt Mon­tag­mit­tag ein Schüler seinen Schlaf nach. Ein Jugendlich­er kann seine Energie an einem Punch­ing­ball raus­lassen. Der Mathe­un­ter­richt muss ohne ihn weitergehen.

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