Günter Müller hat ein Buch herausgebracht. Darin schrieb der ehemalige Soldat der nationalsozialistischen Wehrmacht unter dem Titel „Letzte Kriegstage in Rathenow 1944/1945“ (1.) seine Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges nieder. Das war 2009. Jetzt kam eine Neuauflage (2.) heraus, die über die eigenen Erinnerungen heraus ein Gesamtbild der Kampfhandlungen und deren Begleiterscheinungen in der Region vermitteln sollte. Als Zugabe wurde zudem, ZDF-Historiker Guido Knopp hätte es nicht besser machen können, die kurze Verweildauer von Hitlers Leiche im Rathenower Stadtforst thematisiert. Schwerpunkt der Publikation, die gestern im Rahmen eines Vortrages in einer Rathenower Buchhandlung vom Autor höchstpersönlich vorgestellt wurde, war aber eindeutig die Auseinandersetzung mit dem Kampfgeschehen in Stadt und Umland. Das Ende zwischen Havel und Elbe würde nämlich, so Müller, nur peripher in der bisherigen Kriegsliteratur tangiert.
Kampf und Zerstörung der Stadt
Für Müller ist das Kriegsgeschehen zwischen den beiden Flüssen jedoch keine Banalität, es enthält einen entscheidenden Abschnitt seines Lebens. Mit 17 war er im November 1944 zu einem Pionierbataillon der NS Wehrmacht in die Rathenower Garnison einberufen worden, fünf Monate später kämpfte er in der selben Stadt gegen die vorrückende Rote Armee. (3.) Dabei ist bei Müller, wenn er davon erzählt, ein gewisser Stolz klar herauszuhören. 2.000 Soldaten hätte die Wehrmacht zur „Verteidigung“ höchstens zur Verfügung gehabt, während der Gegner, die Rote Armee, mit bis zu 10.000 Soldaten angriff. Dennoch sei die Stadt über einen langen Zeitraum verbissen gehalten und der Zeitplan der „Russen“ durchkreuzt worden, so Müller. Das der Krieg dadurch aber unnötig verlängert und Rathenow völlig zerstört wurde, erscheint ihm noch heute als notwendiges Übel. Schließlich galt es, alle Angehörigen der nationalsozialistischen Armeen noch über die Elbe in die vermeintlich bessere amerikanische Kriegsgefangenschaft zu überführen. Und für die Zerstörung der Stadt an sich seien nach Müllers Meinung sowieso die „Russen“ verantwortlich. Diese hätten nämlich mit Katjuschas nach Rathenow reingefeuert. Scharf kritisierte Müller in diesem Zusammenhang den Autor eines älteren Artikels aus einer Regionalzeitung (4.). Dieser hatte dort nämlich geschrieben, dass zwei Flak-Batterien von Stellungen in Klein-Buckow und Göttlin nach Rathenow reinschossen und dadurch die Stadt zerstört hätten. Dies sei unwahr, so Müller gestern, und begründet seine Behauptung mit der vermeintlichen Gefährdung der eigenen Soldaten. Ein Zeitzeuge aus Milow, der sich im gestrigen Publikum befand, untermauerte jedoch die Version des starken Beschusses durch die Wehrmacht bzw. ergänzte diese durch eigene Wahrnehmungen. Auf der ehemaligen Kleinbahnstrecke zwischen Kuxwinkel und Schlagenthin war demnach auch ein Eisenbahngeschütz stationiert, das permanent in die Stadt hineinschoss. Müller beharrte jedoch trotzdem auf seinen Standpunkt, dass in erster Linie die „Russen“ mit ihren Katjuschas Rathenow zerstört hätten.
Für ihn rückte nunmehr die Frage nach der Motivation für die verbissene Verteidigung der Stadt in den Mittelpunkt seiner Veranstaltung. Dabei widersprach er der landläufigen Meinung der alliierten Militärliteratur, dass die Angst vor der Rache der Rote Armee die Soldaten des NS Regimes antrieben. Für Müller war dies vielmehr die Aussicht auf eine vermeintlich bequemere amerikanische Kriegsgefangenschaft, die kaum 25km weit entfernt, jenseits der Elbe wartete.
Außerdem, so ein Mann aus Premnitz während der Veranstaltung, wäre Rathenow, im Hinblick auf die Folgen der verbissenen Verteidigung, höchstwahrscheinlich auch ohne Kampfhandlungen von der Roten Armee abgebrannt worden. Über ähnliche Beispiele hätte er jedenfalls in der Kriegsliteratur gelesen. Keine Stadt wäre demnach von derartigen Zerstörungen verschont geblieben. Das aber beispielsweise gerade Premnitz kampflos an die Rote Armee übergeben und danach nicht niedergebrannt wurde, war dem Mann offenbar entfallen.
„Kriegsverbrechen“
Überhaupt wurde sich gestern wieder gern und viel über die „Barberei der Sowjets“ echauffiert. Ein junger Mann aus dem Publikum nannte das von der NS Propaganda instrumentalisierte „Massaker von Nemmersdorf“, bei dem ungefähr 30 deutsche Zivilist_innen während der dortigen Kampfhandlungen durch Angehörige des sowjetischen Militärs erschossen wurden (5.), als besonderes Beispiel dafür. Müller ergänzte ihn mit einem schaurigen Bericht über Vergewaltigungen durch Rotarmisten in einem Lazarett bei Beelitz. Nun war die deutsche Leidensgeschichte voll entflammt. Der junge Mann meldete sich wieder zu Wort und bemerkte, dass auch die amerikanische Kriegsgefangenschaft nicht wirklich eine gute Option für die Angehörigen der nationalsozialistischen Armeen gewesen sei. Ihm lägen Dokumente über tausende Tote in den so genannten „Rheinwiesenlager“ (Kriegsgefangenenlager) vor. Müller sprach in seinen Ausführungen indes nur von etwas über 700, dort in der Gefangenschaft an mangelnder Hygiene und Unterernährung, Gestorbenen. Dann thematisierte der junge Mann die Bombardierung Dresdens, wobei die durch die Historikerkommission vorgenommene Korrektur der Opferzahlen von 35.000 auf 25.000 Tote als „Krone der Schöpfung politischer Korrektheit in der BRD“ von ihm scharf gerügt wurde. Als er dann aber noch, im Zusammenhang mit Müllers Kapitell über Hitlers Leiche in Rathenow ernsthaft auf ein Buch von Verschwörungstheoretikern hinwies, demnach Hitler den Krieg überlebt hätte und 1945 mit einem U‑Boot nach Südamerika entkommen sei, war die Veranstaltung endgültig zur Farce geworden.
Eine Betrachtung der regionalen Verbrechen des NS Regimes, als Teil des beabsichtigten Gesamtbildes der Kampfhandlungen und deren Begleiterscheinungen, war so nicht mehr zu erwarten und fand auch nicht statt. Auch in seinen Büchern behandelt Müller diese Thematik nur am Rande. Lediglich den Deserteuren ist ein größerer Abschnitt gewidmet. Konzentrationslager und deren Häftlinge werden nur beiläufig erwähnt, obwohl es in Rathenow ein KZ Außenlager gab. Die Shoa, das Schicksal der Zwangsarbeiter_innen sowie die Todesmärsche in den letzten Kriegstagen spielen hingegen überhaupt keine Rolle. Allerdings bekräftigt Müller in seinem Buch, das die „Vergeltung“ der Rotarmisten in keinem Verhältnis zu dem stehe „was deutsche Soldaten in Polen und in der UdSSR angerichtet hatten“ (6.). Trotzdem drängt sich bisweilen die Vermutung auf, dass diese entlastenden Kurzpassagen im Werk nur eine Alibifunktion für eine allgemeine Diskreditierung der Roten Armee sind. Seitenweise wird nämlich recht emotional von „Exzessen“, „entsetzlichen Gräueltaten“ oder der „Barbarei“ der „Russen“ und ihrer Streitkraft gesprochen, während die nur sehr vereinzelt genannten, vorangegangenen Untaten der Nazis – betont sachlich – schlimmstenfalls als „Verbrechen“ bezeichnet wurden.
Fazit
Auch mit Günter Müllers Buch bzw. dessen Neuauflage wurde kein abschließendes Dokument, kein Gesamtbild, über die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges in Rathenow und Umgebung verfasst. Zu viele Fragen sind noch offen, zu viele Dinge ungeklärt. Dennoch ergaben sich aus seinen Büchern sowie der gestrigem Buchvorstellung einige neue Details zum Kampfablauf.
Die Abhandlung der „Kriegsverbrechen“ wird von Müller auffällig einseitig geführt und könnte als vorzügliche Argumentationsgrundlage für (Neo)nazis, von denen gestern übrigens auch eine Handvoll im Publikum saß, dienen.
Quellen:
1.) Günter Müller: „Letzte Kriegstage in Rathenow 1944/1945“, Rathenow, 2009
2.) Günter Müller: „Die Verteidigung von Rathenow 1945 und Hitlers Leiche in Rathenow“, Potsdam, 2011
3.) Wie (1.)
4.) Rudolf Bergau: „Während dessen plünderten SS – Leute die Sarkophage im Böhner Mausoleum“ in Märkische Allgemeine Zeitung, Seite 16, 18. März 1995
5.) http://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Nemmersdorf
6.) aus Quelle 2.), Seite 82–83