Umstrittene Abschiebung einer kurdischen Familie aus dem Asylbewerberheim Hohenleipisch offenbart kollektive Ohnmacht
Die Abschiebung der kurdischen Familie Filiz aus dem Asylbewerberheim
Hohenleipisch ist Beispiel dafür, wie ein Rechtsstaat seine Bürger im Stich
lassen kann. Im Elbe-Elster-Kreis gerieten Kirche und Landkreis aneinander,
obwohl beide keinen entscheidenden Einfluss auf das Asylverfahren hatten.
Über das Schicksal der Filiz wurde tatsächlich schon 2002 im Bundesrat
entschieden. Damals gab es den Eklat bei der Abstimmung um das
Zuwanderungsgesetz. Noch heute warten die Betroffenen auf konkrete
Regelungen und kämpfen wie im Elbe-Elster-Kreis gegen unsichtbare
Windmühlen.
«Wir werden es wieder machen.» Stefan Branig spricht diesen Satz aus, wie es
sonst nur sturköpfige Teenager tun. Der 44-Jährige ahnt, dass er auch beim
nächsten Mal kaum Erfolg haben wird. Doch er fühlt sich im Recht. Branig ist
kein Querulant, sondern Pfarrer der Gemeinde Tröbitz. Er taugt nicht
unbedingt zum Don Quichotte, hat nicht einmal Spitzbart und Lanze. Dafür
aber ein großes Herz.
Seit gut einem Jahr hatte sich Stefan Branig für den 34-jährigen Gazi Filiz,
seine Frau Halime (25) und die drei in Deutschland geborenen Kinder Süleyman
(6), Bucra (3) und Zeynep (2) eingesetzt. Im Frühjahr 2003 erfuhr er, dass
im 25 Kilometer entfernten Hohenleipisch die fünfköpfige Familie abgeschoben
werden soll. In die Osttürkei, wo den Kurden ob ihrer unerlaubten Heirat die
Steinigung drohte. «Blutschande» haben die Filiz in den Augen der Familie
von Halime begangen. In einigen türkischen Regionen noch immer
gleichzusetzen mit dem Todesurteil.
Branig entschied aus Bauch und Herz heraus. Dort sitzt bei ihm der tiefe
Glaube, er vertraut auf die Bibel. Das Gebot der Nächstenliebe steht für den
44-Jährigen an erster Stelle. Auf des Pfarrers Betreiben hin gewährte der
Gemeindekirchenrat den Kurden kurzfristig Kirchenasyl. Mutig, denn im
deutschen Recht gibt es dieses Asyl nicht — strafrechtliche Konsequenzen
drohten. Bibel gegen Rechtsstaat, eine Zwickmühle für den Christen Branig.
Die Evangelische Kirche hilft ihren Pfarrern mit einem Handzettel aus dem
Dilemma. Darauf beschreibt sie das Asyl als Auszeit, «um bei den Behörden
eine rechtlich und humanitär vertretbare Lösung zu erwirken» .
Tröbitz besonders sensibilisiert
Stefan Branig will sein Einmischen erklären, sucht Begründungen. «Vielleicht
sind wir in Tröbitz besonders sensibilisiert» , sagt er mit gesenktem Blick.
Der Pfarrer meint den «verlorenen Zug» , der am 22. April 1945 mit 2500
jüdischen Häftlingen in Tröbitz landete, von den Russen befreit wurde. Zuvor
war der Transport zwischen den Fronten hin und her geirrt. Ursprünglicher
Zielbahnof: Theresienstadt. Nur wenige überstanden die zehntägige Odyssee.
Nicht alle im Dorf scheinen diese Vorgänge so verinnerlicht zu haben wie der
Pfarrer. Die Resonanz sei «deutlich negativ» gewesen, erzählt Branig. «Jetzt
helfen die den Türkenschweinen» , gibt er eine ihm zu Ohren gekommene
Äußerung wieder. Der Christ will es den Menschen nicht verdenken: «Schauen
Sie sich die Arbeitslosenquote an» , meint er resigniert. «Die Leute sind
frustriert, müssen selbst sehen, wo sie bleiben.»
Mittlerweile hat sich der Pfarrer in die Masse der Frustrierten eingereiht.
Nicht die wirtschaftliche Lage, sondern die Niederlage im ungleichen Kampf
gegen die Behörden lässt ihn verzweifeln. Die Enttäuschung sitzt tief. Auch
wenn es Branig nicht ausspricht, die hilflos zuckenden Schultern verraten
ihn.
Am 10. April 2003 hatten Gerichtsbeamte mit Unterstützung von Polizei und
Jugendamt die Familie aus dem Tröbitzer Kirchenasyl geholt. Gazi und Halime
waren von ihren Kindern getrennt worden. Die drei landeten verstört in einem
Fürstenwalder Heim. Es gab heftigen öffentlichen Protest,
Elbe-Elster-Landrat Klaus Richter (SPD) schaltete sich ein. Bereits am Abend
saß die Familie wieder vereint an einem Tisch im Hohenleipischer
Asylbewerberheim.
Ein Gutachten sollte nun nochmals klären, ob der Gesundheitszustand der
Familie eine Ausweisung in die Türkei überhaupt zulässt. «Das war unser
letzter Strohhalm» , erinnert sich Klaus Richter heute. Ein «Strohhalm, der
richtig Geld kostete» , fügt er hinzu. Der Landrat hat das dringende
Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Vor ihm liegt ein Brief — Absender anonym.
Darin wird Richter gelobt, «die Abschiebung dieser Türken als eine
stabsmäßig organisierte Meisterleistung» bezeichnet, durch die «alle
Quertreiber überrumpelt wurden.» Der Landrat schüttelt den Kopf, diesen
Bierkeller-Strategen wollte er nicht in die Hände spielen. Aber er hatte
keine Wahl.
Schnell wurde deutlich, dass sich der Filiz-Fall speziell für den Landrat
zur Filiz-Falle entwickelte. Dessen Amtskollege Dieter Friese (SPD)
formulierte bei einer Abschiebung in seinem Spree-Neiße-Kreis: «Ich wähle
zwischen Staatsanwalt und Menschenwürde.» Klaus Richter ging es so:
Einerseits musste er den Entscheidungen der Gerichte folgen, andererseits
raubte ihm der Gedanke an die Abschiebung den Schlaf. «Besonders wegen der
Kinder habe ich mich gesorgt» , sagt Richter.
Die Wahl zwischen Recht und Moral, wer sollte bei dieser Entscheidung
helfen« Eine Härtefallkommission» Landrat Richter sagt Ja, die würde ihn
entlasten. Doch Ordnungsdezernent Erhard Haase, in seinem Ressort werden
Ausländerfragen geklärt, widerspricht. Er will eine konkrete gesetzliche
Regelung. «Egal wie» , sagt er. Aber die Zuwanderung müsse endlich
ordentlich geklärt werden.
Seit der theaterreifen Bundesrat-Debatte im März 2002, als Hessens
Ministerpräsident Roland Koch (CDU) wütend auf den Tisch trommelte, liegt
die Sache jedoch auf Eis. Ausgerechnet Brandenburg hatte in Person von
Manfred Stolpe (SPD) und Jörg Schönbohm (CDU) das unentschiedene Zünglein an
der Waage gespielt. Das Bundesverfassungsgericht verkündete daraufhin, das
Zuwanderungsgesetz sei «verfassungswidrig zu Stande gekommen» . Noch immer
fehlt eine rechtmäßige Regelung. Längst ist bekannt, dass Deutschland die
Zuwanderung braucht, um wirtschaftlich mithalten zu können. Warum werden
dann junge Familien wie die Filiz ausgewiesen«
Antworten darauf gab es nicht, stattdessen avancierte der Fall im
Elbe-Elster-Kreis zum Spielball der Instanzen. Für seine im April 2003
ausgesprochene Duldung bekam Klaus Richter einen Rüffel aus dem
Innenministerium. Durch seinen Sprecher ließ Innenminister Jörg Schönbohm
die Verantwortung für die Elbe-Elster-Entscheidung von sich weisen. Dass der
Christdemokrat damals mit Blick auf die Kommunalwahlen parteipolitisch
taktierte, will SPD-Mann Richter heute nicht ausschließen.
Der Landrat blättert sichtlich mitgenommen in einem dicken Aktenordner. Der
Filiz-Fall war ein außerordentlicher Rechtsfall. Seit 1997 sollte die
Familie abgeschoben werden. Immer wieder wurde Halime schwanger. Erst griff
der Mutterschutz, danach stellte sie für das neugeborene Kind ein
Asylantrag. Wieder ein Verfahren, das dauerte. So mancher im
Elbe-Elster-Kreis glaubt, dass die Familie so versuchte, Zeit zu schinden -
offen aussprechen will das niemand.
Überhaupt ist es schwer, in dieser Geschichte Opfer und Täter auszumachen.
Wieso haben die Filiz erst um politisches Asyl gebeten, als sie 1997
aufgegriffen wurden» Schließlich waren sie schon seit 1996 illegal in
Deutschlan
d. War er verzweifelt oder skupellos, als Gazi Filiz drohte, im
Fall des Falles werde er seinen Kindern etwas antun, sie gar anzünden?
Hartnäckig halten sich auch Gerüchte, Gazi sei in den Schwarzhandel mit den
Gutscheinen für die Asylbewerber verwickelt gewesen — nicht einfach für
seine Mitmenschen, ihn nur als Opfer zu betrachten.
«Wenn die Leute sehen, wie die Ausländer bei uns kistenweise Schnaps auf
ihre Gutscheine kaufen, dann wissen die, dass da was nicht rechtens ist» ,
ist sich ein Elsterwerdaer Geschäftsmann sicher. Aber das seien wenige,
nicht alle Ausländer seien Verbrecher, weiß er zu berichten. «Sie wissen ja,
wie die Stimmung bei den Menschen ist» , fügt er viel sagend hinzu.
Offiziell wolle er aber nichts sagen. Der Mann steht für jene, die lieber
schweigen statt anzuecken.
Angst vor Missverständnissen
Auch Martina Funke will nicht missverstanden werden. Sie ist
stellvertretende Leiterin des Asylbewerberheims Hohenleipisch, der
zeitweisen Heimat der Filiz. Fast reflexartig betont die blonde Frau: «Das
soll jetzt nicht rassistisch oder so klingen.» Aber: «Bei den Asylbewerbern
gibt es genauso Idioten, wie bei uns Deutschen» , sagt sie. Martina Funke
bleibt sachlich, obwohl sie ganz schön sauer sein könnte. Sie hat einiges
erlebt: Als «Nazi» haben sie Asylbewerber beschimpft, als «Arschloch»
tituliert. Ausgerechnet sie, die Heimbewohnern bei Rechtsangelegenheiten
hilft, für sie Briefe beantwortet. «Der meisten Bewohner sind aber liebe
Menschen, mit denen wir keine Probleme haben» , fügt sie an.
Die 45-Jährige zeigt die Asylbewerber-Baracken auf dem ehemaligen
Militärareal. Rechts das asiatische Haus, davor das afrikanische.
Schmucklos, aber stabil. Für manche ein Zuhause für mehrere Jahre. Ihr
Gefühl sagt Martina Funke: «Wer hier freiwillig lebt, in dessen Heimat muss
es fürchterlich sein.» Sie hat Mitleid mit Halime und ihren Kinder, denkt
oft an sie. «Es war allerdings eine rechtlich saubere Sache» , betont sie.
Rechtlich sauber und für manch einen im Kreis längst überfällig. Mit den
Ausländern sei es immer dasselbe, meint zum Beispiel Klaus in Elsterwerda.
Die kämen nach Deutschland, um mit großen schwarzen Augen die Hand
aufzuhalten. Der Mittvierziger steht vor der Tür des Bahnhofsgebäudes, nickt
wissend mit dem Kopf und zieht mechanisch an einer Zigarette. Seinen
Nachnamen will er partout nicht sagen, dafür aber noch etwas «zu den
Ausländern» : «Anderswo hätte man die sofort rausgeschmissen» , so sein
argumentativer Keulenschlag.
Klaus hat von der aufwändigen Filiz-Abschiebung gehört. Von ihm könnten «die
Türken» kein Mitleid erwarten. «Ich würde auch gern mal für 50 000 Euro in
die Türkei fliegen» , sagt der Arbeitslose. Diese Summe hat er sich gemerkt,
weiß, dass er damit am Stammtisch punkten kann. Gelangweilt schnippt der
Elsterwerdaer die Zigarette weg. «Wir haben selbst genug Probleme.» Ende der
Durchsage. Klaus wendet sich ab, will zurück in die Bahnhofskneipe. Der Fall
Filiz ist für ihn erledigt.
«Dumpfbacken» nennt Thomas Meißner solche Menschen. Meißner ist Pfarrer der
evangelischen Gemeinde Bad Liebenwerda und hat seinen Tröbitzer Freund
Stefan Branig bei der Filiz-Sache unterstützt. Für ihn ist sie noch längst
nicht erledigt. Er redet sich den Frust von der Seele. Besonders die geheim
gehaltene Abschiebung mit Polizeiaufgebot am 20. Januar macht ihn noch immer
wütend. «Das war unmenschlich» , sagt der 39-Jährige. «Die wurden wie
Schwerverbrecher behandelt.»
Vater Gazi wurde von der Familie getrennt, «die Filiz auf einer Irrfahrt»
zum Charterflug nach Bremen geschafft. Meißner und Branig fuhren hinterher -
ein hoffnungsloser Rettungsversuch. Die beiden Pfarrer fühlen sich
hintergangen, hatte ihnen der Landkreis doch zugesichert, vor der
Abschiebung seelsorgerisch mit der Familie sprechen zu können. «Wir hätten
sie dann wieder ins Kirchenasyl genommen» , gibt Meißner unumwunden zu. Die
Blitzaktion der Behörden durchkreuzte ihre Pläne.
Zurück bleibt Ratlosigkeit
Landrat Richter und Ordnungsdezernent Haase verteidigen die Abschiebeaktion.
Sie rechtfertigen den Aufwand damit, die Kinder vor dem Vater zu schützen.
Mittlerweile sind die Filiz in der Türkei bei der Familie von Gazi
untergekommen. Per Handy hat Stefan Branig davon erfahren. «Ob es ihnen aber
wirklich gut geht, kann ich nicht sagen» , fügt er an. Zu weit weg ist die
Türkei, die Hilflosigkeit hat eine neue Dimension angenommen.
Zurück in Deutschland bleibt enttäuschte Ratlosigkeit.
Bei Martina Funke im Asylbewerberheim, die nicht einmal beim Kofferpacken
helfen konnte.
Bei Landrat Richter, der noch immer angestrengt in seinen Akten wühlt, wohl
auch, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen.
Und bei den Pfarrern Branig und Meißner, die sich von verschiedenen Seiten
vorwerfen lassen müssen, der kurdischen Familie falsche Hoffnungen gemacht
zu haben. Sie bestehen trotzig darauf: «Wir betrachten immer den
Einzelfall — und wir werden es wieder tun.»