DDR-Forscher Klaus Schroeder über Schönbohms Thesen und die Reaktion
der Ostdeutschen
Wie erklären Sie sich den kollektiven Aufschrei der Ostdeutschen über
die Äußerungen von Schönbohm und Stoiber?
Es gibt ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Ostdeutschen. Offenbar eine
Nachwirkung des Kollektiv-Lebens in der DDR, aber auch eine Folge des
Zusammenrückens nach der Vereinigung. Viele Ostdeutsche, selbst jenseits
der PDS, glauben heute: Wer schlecht über die DDR redet, will sie
persönlich herabwürdigen. Man fühlt sich immer gleich kollektiv
angegriffen.
Aus mangelnder Souveränität?
Ja, es fehlt den Ostdeutschen offenbar immer noch an Selbstbewusstsein,
aber auch an Differenzierungsvermögen. Das merkt man auch am Verhältnis
zur Linkspartei: Eigentlich ist die ostdeutsche Gesellschaft längst viel
differenzierter, haben etwa Unionswähler mit der Linkspartei nichts am
Hut. Trotzdem wird die Linkspartei über ihre eigene Anhängerschaft
hinaus in Schutz genommen. Nach dem Motto: Das sind auch unsere Leute.
Hat Jörg Schönbohm mit seiner Proletarisierungs-These diesen Reflex
verstärkt?
Herr Schönbohm hat ein wichtiges Thema angesprochen, aber leider falsch
begründet. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Erziehung in der DDR
und Gewaltexzessen oder gar Kindesmorden. Wo er Recht hat: Es gibt in
Ostdeutschland eine Kultur des Wegschauens und mehr alltägliche Gewalt
als im Westen. Gründe dafür liegen sowohl in Nachwirkungen aus der
DDR-Zeit als auch in den Erfahrungen mit der Einheit.
Was meinen Sie konkret?
Früher sorgte der Staat für alles, die Kinder und Jugendlichen wurden
betreut. Die Eltern brauchten sich kaum zu kümmern. Aber nach 1990
mussten sie das plötzlich. Man war gar nicht gewohnt, mit Kindern so
viel Zeit zu verbringen. Und die Kinder und Jugendlichen, die gemerkt
haben, wie stark der soziale Umbruch die Eltern, die Erwachsenen
verunsichert hat, sind in dieses Vakuum hineingestoßen. Das erklärt das
deutlich höhere Ausmaß an Jugendgewalt, an rechtsextremistischem Denken
im Osten, wobei es nicht verfestigt ist. Es sind meist Provokationsrituale.
Warum ragt Brandenburg bei der Gewaltkriminalität in Ostdeutschland
besonders heraus?
Das hängt vermutlich mit Traditionen dieses Landstrichs zusammen. Schon
vor der DDR war Brandenburg, ja, der ganze Nordosten Deutschlands in der
Kriminalitätsstatistik auffällig. Das hat sich in der DDR fortgesetzt,
offenbar bis heute. Hier scheint es eine Nord-Süd-Achse zu geben,
übrigens auch im Westen.
Auch im Westen?
Es gibt Indizien dafür. Wir haben eine Studie zu Jugendgewalt und
Rechtsextremismus gemacht. Das Ergebnis: Jugendliche in norddeutschen
Städten – ob West oder Ost – waren stärker gewaltbereit, hatten häufiger
rechtsextreme Einstellungen als im Süden. In Bayern und Thüringen waren
die Jugendlichen toleranter und weniger gewaltbereit.
Stimmt die These von der „geistigen Deformierung“ im Osten durch die SED?
Ob man diesen Negativ-Begriff verwendet, ist eine Frage des
Standpunktes. Aber es ist eine Tatsache, dass die Sozialisation, die
Erfahrungen in der DDR nachwirken, die Menschen prägen. Und zwar
unabhängig davon, wie sie zur SED-Diktatur standen. So haben ja selbst
ehemalige Bürgerrechtler teilweise DDR-typische Verhaltensweisen. Viel
erstaunlicher ist aber, dass die alten Milieus selbst bei den Jungen
nachwirken, was am Einfluss der Erwachsenen, der Eltern und Lehrer
liegen muss.
Führt das zur Verklärung der DDR?
Ja, gerade bei jungen Leuten im Osten. Viele halten die DDR für ein
soziales System, wo jeder Arbeit hatte, wo es soziale Geborgenheit,
Solidarität gab. Kritisches wie fehlende Demokratie und Reisefreiheit
sieht man zwar auch. Aber das Soziale wird überhöht. Ausgeblendet wird,
dass das auch zu Unselbstständigkeit des Einzelnen, zu Entmündigung
geführt hat.
Die Identifikation der Ostdeutschen mit der DDR ist heute also größer
als vor 1989?
Auf jeden Fall: Weil es heute um eine idealisierte DDR geht, nicht mehr
um die reale. Die reale DDR wollen inzwischen wirklich nur noch ein paar
ideologische Betonbauer zurück, wahrscheinlich nicht einmal zehn Prozent
der Ostdeutschen.
Inwiefern „ticken“ Ostdeutsche anders als Westdeutsche?
Man merkt es zum Beispiel am verbreiteten Glauben, dass der Staat alles
richten muss, an der Mentalität, dass es möglichst keinen Streit geben
darf. Dazu passt, dass sich Ostdeutsche häufig persönlich angegriffen
fühlen, selbst wenn es um sachliche Differenzen geht. Man sieht es aber
auch an der geringeren Bereitschaft, sich zu engagieren. Da ist vieles
kaputt gegangen nach 1990. Freiwilliges ehrenamtliches Engagement ist im
Osten, seit der Druck weg ist, wesentlich geringer ausgeprägt als im
Westen.
Dauert es wegen der mentalen Unterschiede so lange bis zur „inneren
Einheit“?
Ja, denn Menschen verändern sich nicht auf Knopfdruck. Der Wechsel von
Systemen, von Institutionen dauert immer lange. Man kann das bis in den
Alltag hinein beobachten: Viele Fahrzeuge mit ostdeutschen Kennzeichen
fahren immer noch auf der linken Spur. Früher fuhr man links, weil die
linke Spur besser war. Ganz viele Angewohnheiten sitzen eben tief, nicht
nur im Osten, auch im Westen.
Was hat Politik nach 1990 falsch gemacht?
Man hat naiv geglaubt, dass sich mit der Übernahme der bundesdeutschen
Institutionen, der D‑Mark alles von selbst regelt. Man hat kulturelle,
mentale Prägungen unterschätzt. Man hat die Vereinigung über Geld und
Institutionen, nicht über gemeinsame Werte vermittelt. Das war der
zentrale Fehler. Und: Man hat die Ostdeutschen, ähnlich wie die SED, oft
wie kleine Kinder behandelt.
Gibt es die von Jörg Schönbohm beklagte „Verproletarisierung“ durch die
SED?
Richtig ist, dass man die bürgerlichen Schichten, die Bildungselite, die
ökonomische Elite, Künstler vertrieben hat – und das über die ganze Zeit
der DDR. Das hat natürlich Folgen, bis heute. Der Begriff
Proletarisierung trifft aber nicht den Kern. Die SED hat zwar den
Proletarier als kulturelles Leitbild auserkoren, aber das war nicht der
von Marx und Engels. Es war der SED-Proletarier, wozu auch die Leute in
der NVA oder beim MfS zählten. Es war also im Grunde keine
Proletarisierung, sondern eine Verformung der Gesellschaft nach einem
ideologischen Bild vom Arbeiter: Walter Ulbricht und Erich Honecker als
oberste Proletarier.
Dabei war die DDR ein zutiefst kleinbürgerlicher Staat.
Es war jedenfalls ein spießiger, biederer Staat. Aber es war auch ein
Staat der kleinen Leute, der armen Schweine. Der SED ist es ja nicht
gelungen, den neuen Menschen zu konstruieren. Gott sei Dank lassen sich
Menschen nicht beliebig formen. Sonst wäre die DDR nicht untergegangen.
Stehen die so lange nachwirkenden alten Denkmuster nicht im Widerspruch
dazu?
Überhaupt nicht, die Leute haben damals vielleicht noch stärker gespürt,
dass die Indoktrination nicht mit der Lebensrealität übereinstimmt. Aber
trotzdem blieb offenbar etwas hängen. Man merkt es am alten
Freund-Feind-Denken. In der DDR wurde schon in der Schule zum
Klassenhass erzogen, was damals viele gar nicht wahrhaben wollten. Heute
aber bricht das bisweilen durch, wie sich auch an Hass-Reaktionen auf
Schönbohm und Stoiber zeigt. Warum soll ein frustrierter Herr Stoiber
nicht sagen dürfen, dass er die Wähler der Linkspartei für frustriert
hält? Warum mü
;ssen dann die Nicht-Frustrierten in Ostdeutschland die
Frustrierten verteidigen? Die Folgen der DDR werden wohl erst überwunden
sein, wenn die Ostdeutschen auf kritische Äußerungen souverän reagieren
und nicht empört wie kleine Kinder. Wäre für diesen Mentalitätswechsel
in Ostdeutschland eine ostdeutsche Kanzlerin womöglich hilfreich?
Das sollte man keinesfalls unterschätzen. Selbst wenn Angela Merkel von
einer Mehrheit der Ostdeutschen nicht gewählt wird, hätte eine
ostdeutsche Bundeskanzlerin natürlich Auswirkungen auf die
Befindlichkeiten im Osten, aber nicht nur dort. Eine Bundeskanzlerin aus
dem Osten würde lieb gewonnene Vorstellungen und Hierarchien in
Deutschland gehörig durcheinander wirbeln.