Günter Morsch, Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, über deutsche
Nabelschau in der Erinnerung ans Kriegsende und eine verpasste Chance für
Oranienburg
Wie erklären Sie sich, dass 60 Jahre nach Kriegsende das Interesse daran
stärker ist als zum 50-jährigen Gedenken?
Das stärkere Interesse bezieht sich sicher nicht in erster Linie auf die
Geschichte der Konzentrationslager, auf die Geschichte der Opfer. Größeres
Interesse findet stattdessen das Schicksal der Deutschen. Es gibt heute eine
Art GermanoZentriertheit. Das ist ein entscheidender Unterschied zum 50.
Jahrestag. Man schaut weniger auf die Opfer als auf den eigenen Bauchnabel.
Das macht Ihnen Sorge?
Zweifellos. Wir dachten, dass Weizsäckers Rede von 1985, in der der 8. Mai
unmissverständlich ein Tag der Befreiung genannt wurde, einen Stand
markiert, hinter den man nicht zurückfallen kann. Aber dieser Konsens
scheint zu bröckeln. Und er bröckelt inzwischen auch in den intellektuellen
Schichten. Vor zehn Jahren gab es zwar auch Versuche, die Verbrechen zu
relativieren, aber dem ist entschieden entgegengetreten worden. Da sind wir
heute in einer anderen Situation. Das führt auch erkennbar zu Resignation
bei ehemaligen KZ-Häftlingen. Natürlich hat diese Stimmung auch mit dem
Rechtsextremismus zu tun, der seither nicht zurückgegangen ist. Und dazu
kommt nun die verstärkte Hinwendung der Deutschen zu sich selbst hinzu. Das
macht den Überlebenden Sorge.
Wie verändert sich das Gedenken, wenn die Zeitzeugen tot sind?
Die Formen des Erinnerns und Gedenkens befinden sich in einem Prozess des
Wandels. Die KZ-Gedenkstätten dürfen nicht nur internationale Friedhöfe,
sondern sie müssen immer stärker auch moderne zeithistorische Museen sein.
Außerdem geht es nicht nur um die Erinnerung an die konkreten historischen
Zusammenhänge, sondern immer mehr auch um prinzipielle Fragen menschlichen
Verhaltens, die sich im KZ-System offenbarten. Die Gedenkstätten müssen sich
auch für Diskussionen über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen
öffnen, zum Beispiel über die Frage der Wiederholbarkeit von Genoziden. Wir
müssen verstärkt wissenschaftliche Forschung und moderne pädagogische
Methoden integrieren, und so auf die veränderten Wahrnehmungsweisen von
Jugendlichen eingehen.
Wie soll das aussehen?
In der alten Bundesrepublik waren KZ-Gedenkstätten Orte, die eher auf
schulddidaktische Methoden hin orientiert waren. Das hat sich verändert. Wir
in Sachsenhausen sind heute sowohl ein modernes Museum als auch eine moderne
Bildungsstätte, die den Vergleich mit dem Jüdischen Museum in Berlin oder
dem Holocaust-Museum in Washington nicht zu scheuen brauchen. Es gibt neue
Formen der Pädagogik, die auf die Selbststudien der Besucher setzen. Dennoch
muss man konstatieren, dass die Gedenkstätten gegenüber vergleichbaren
Museen personell und materiell nach wie vor weit unterprivilegiert sind. Da
gibt es eine riesige Kluft, trotz der großen Zahl von Besuchern und der
Größe der betreuten Areale und Ausstellungen. Wir haben zu geringe
Kapazitäten, um die Wünsche und Bedürfnisse der Besucher erfüllen zu können.
In Sachsenhausen etwa müssen wir jede zweite Besuchergruppe zurückweisen.
Ist diese Unterprivilegierung Ergebnis der Gedankenlosigkeit oder einer
systematischen Geringschätzung?
Sie ist mehr das Ergebnis einer westdeutschen Tradition politischer
Geringschätzung. Aber seit der deutschen Einheit hat sich vieles verbessert,
vor allem in den großen KZ-Gedenkstätten. Diese haben sich in den letzten
Jahren stark gewandelt. Allerdings droht dieser unverzichtbare Prozess der
Neukonzeption und Neugestaltung in Zeiten knapper Haushalte abzubrechen.
Außerdem gibt es nach wie vor grundsätzliche Vorbehalte.
Was heißt das?
Zum einen haben wir Konflikte mit denjenigen, die immer noch an alten
antifaschistischen Konzepten orientiert sind, nämlich dass diese
authentischen Orte in erster Linie Betroffenheit erzeugen sollen. Das ist
aber nicht mehr ausreichend. Wir haben es mit Generationen zu tun, bei denen
es so gut wie keinen direkten biografischen Zusammenhang zur Zeit des
Nationalsozialismus mehr gibt. Da ist jede Schuldpädagogik völlig
unangebracht. Eine einfache Betroffenheitspädagogik kann auch deshalb nicht
mehr funktionieren, weil sich die Wahrnehmungsweisen inzwischen durch den
Gebrauch moderner Medien, die viel drastischere Bilderwelten liefern, völlig
verändert haben. Schließlich treffen wir auch auf tradierte Vorbehalte
gerade bei manchen Ostdeutschen. Nicht wenige verbinden mit diesen Orten
negative Erfahrungen, weil ihnen dort antifaschistische Erweckungserlebnisse
abverlangt wurden.
Haben Sie Sorge, dass mit der Eröffnung des Holocaust-Mahnmals die
Aufmerksamkeit für die Gedenkstätten in Sachsenhausen und Ravensbrück
zurückgeht?
Nein. Der Besucherzustrom wächst; allerdings verändert sich die
Zusammensetzung der Besucher. Sie werden deutlich jünger und sie werden
internationaler. Wir haben gegenwärtig in Ravensbrück und Sachsenhausen etwa
eine halbe Million Besucher jährlich. Vor allem Ausländer kommen vermehrt zu
den authentischen Orten, zum einen weil hier die Gräber der Opfer aus den
unterschiedlichen Ländern sind, aber auch weil die Überlebenden, denken Sie
etwa an die Präsidentin des €päischen Parlaments Simone Veill oder den
norwegischen Ministerpräsidenten Einar Gerhardsen, in ihren Heimatländern
oft eine bedeutende Rolle in der Nachkriegsgesellschaft gespielt haben.
In Sachsenhausen befand sich die zentrale Leitung aller Konzentrationslager.
Wird dieser Apparat der Vernichtung gebührend thematisiert?
Sie haben Recht, dass das T‑Gebäude in Oranienburg das wichtigste noch
erhaltene Täter-Gebäude ist, und es zumal in Berlin zu wenig wahrgenommen
wird. Das mag an einer bestimmten Berliner Provinzialität liegen: Dinge
außerhalb der Stadtgrenze einfach nicht in den Blick zu nehmen. Das führt
zum Beispiel auch dazu, dass es uns bis jetzt nicht gelungen ist, die
gleiche Kooperation mit der Berliner Schulbehörde zu erreichen wie mit den
Brandenburgern, obwohl der größte Teil unserer Schulgruppen
erfreulicherweise aus Berlin kommt.
Man hat den Eindruck, dass es noch immer starke Konflikte gibt zwischen
Gedenkstätte und Stadt Oranienburg.
Solche Konflikte sind natürlich immanent: Eine KZ-Gedenkstätte, die sich mit
negativer Geschichte befasst, und ein Ort, der Lokalpatriotismus hat und
braucht, werden immer in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das
kennen wir auch aus Dachau oder aus Bergen-Belsen. Ein positives Beispiel
für den gemeinsamen Umgang mit Stadtgeschichte und Konzentrationslager war
das Oranier-Jahr 1998. Damals wurde das Thema Oranier und Niederländer in
all seinen Aspekten gemeinsam bearbeitet, also die mit dem Schloss des
Großen Kurfürsten verbundene Geschichte war ebenso Thema wie die Geschichte
der Niederländer im Konzentrationslager Sachsenhausen. Das hat erstaunlich
gut funktioniert und wirkte sich auf das kulturelle Klima in Oranienburg
ausgesprochen positiv aus. Die geplante Landesgartenschau 2009 ist leider
aus unserer Sicht das Gegenbeispiel. Das Umgestaltungskonzept für das
ehemalige KZ-Außenlager Klinkerwerk zum “Geschichtspark” wurde gemeinsam mit
der Stadt entwickelt und erarbeitet. Dann aber müssen wir in der Presse
lesen, dass die Idee einer gemeinsamen Realisierung von “Geschichtspark” und
Schlosspark im Rahmen der Landesgartenschau, ohne uns zu informieren,
aufgegeben wurde.
Halten Sie eine Lösung des Konflikts f&
uuml;r möglich?
Nein, die Sache ist gelaufen, die Chance vertan. Die Geschichte des
Konzentrationslagers ist nicht berücksichtigt, bis auf ein symbolisches Band
aus “Licht und Schatten”. Symbole gab es in der DDR- Zeit genug. Das
brauchen wir wirklich nicht. Einer Metaphernsymbolik der alten
antifaschistischen Art, der entziehen wir uns ganz massiv. Das ist ein
Rückschritt, bei dem wieder das Schöne gegen das andere, die dunkle
Vergangenheit, aufgewogen werden soll. Das bleibt ein hilfloser Versuch. Man
wird zwar eine schöne Gartenschau bekommen, aber man entkommt der
Problematik so nicht.