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(Anti-)Rassismus Wohnen & Stadt

Euer Berichtsstakkato kotzt uns an!

Sechs Monate nach dem ras­sis­tis­chen Atten­tat in Hanau wurde am ver­gan­genen Woch­enende auch in Pots­dam der Opfer gedacht und der deutsche Ras­sis­mus gemah­nt. Und dann greift die Pots­damer Lokal­presse in ihrer eili­gen Suche nach reißerischen Schlagzeilen gründlich daneben.

Die PNN schießt sich in ihrem Bericht über die Demon­stra­tion auf die Rede der Geschäfts­führerin der Opfer­per­spek­tive ein [1], ein Pots­damer Vere­in, der seit vie­len Jahren Opfer rechter Gewalt berät. Judith Porath würde die Polizei angreifen und auch die Stadt Pots­dam. Die Kri­tik am Gesagten ist allerd­ings inhaltlich so der­maßen hah­nebüchen, dass man meinen kön­nte, der Autor hätte sich eine pauschale Diskred­i­tierung zum Tagesziel gemacht. Judith Porath redet über ras­sis­tis­che Stig­ma­tisierung und Gewalt, der Men­schen ohne weiße Haut­farbe auch in Bran­den­burg noch immer tagtäglich aus­ge­set­zt sind, auch durch Beamte. Sie spricht auch über die fahrläs­sige Unter­bringung von Geflüchteten in Masse­nun­terkün­ften, die dort dem Coro­n­avirus schut­z­los aus­geliefert sind. 

Wer traut schon den Opferverbänden?

Für ersteres ist sich die PNN nicht zu fein, fehlende Belege für Poraths Aus­sagen zu monieren. Der Vere­in ist die erste Instanz zur Unter­stützung von Opfern rechter Gewalt und Diskri­m­inierung in Bran­den­burg, seit vie­len Jahren. Kaum eine Organ­i­sa­tion dürfte eine ver­gle­ich­bare Qual­i­fika­tion zur Ein­schätzung zu Art und Umfang ras­sis­tis­ch­er Vor­fälle im Land haben. Zu kri­tisieren, dass zu einzel­nen Aus­sagen in ein­er Rede auf ein­er Protestkundge­bung keine Belege ange­führt wer­den, ist lächer­lich. Wohl kaum kann man ver­lan­gen, dass vor 500 Men­schen Details aus den Schick­salen der Klient*innen offen­gelegt wer­den, die sich der Opfer­per­spek­tive anver­traut­en. Schließlich wer­den viele ras­sis­tis­che Über­griffe in Deutsch­land eben nicht bei der Polizei vorge­bracht aus der Angst her­aus, nicht ernst genom­men zu wer­den oder eben aus Angst vor der Art Täter-Opfer-Umkehr, wie sie die PNN hier neben­her schon­mal anklin­gen lässt. Den­jeni­gen, die sich auf die Seite der Opfer stellen, wird zunächst ein­mal mit Skep­sis begeg­net, selb­stver­ständlich ahnt man Unge­nauigkeit, Übertrei­bun­gung oder gar Lüge. Der Vere­in gibt regelmäßig Berichte mit umfan­gre­ichem Zahlen­ma­te­r­i­al her­aus. Die reflexar­tige Darstel­lung im PNN-Artikel ist ein Lehrstück über das, was in dem Artikel selb­st als “so genan­nter” struk­tureller Ras­sis­mus abge­tan wird. Zur Ken­nt­nis genom­men hat der Autor sicher­lich auch, dass vor Kurzem im Nach­bar­land Berlin ein Gesetz auf den Weg gebracht wurde, dass den Betrof­fe­nen von Ras­sis­mus durch Staatsdiener*innen den Weg zur Anzeige erle­ichtert. Schön wäre gewe­sen, hätte der Autor die Rede zum Anlass für weit­ere Recherchen genutzt, um Poraths Darstel­lun­gen auf den Grund zu gehen. Noch schön­er hät­ten wir gefun­den, gar eine jour­nal­is­tis­che Glan­zleis­tung wäre aus dem lauwar­men Bericht gewor­den, hätte der Jour­nal­ist aus der von maßge­blich durch Peo­ple of Col­or organ­isierten Demon­stra­tion nicht nur eine weiße Red­ner­in zitiert, son­dern vielle­icht auch ein paar Worte der dort anwe­senden schwarzen Press­esprecherin mitgenom­men. Ver­mut­lich hätte sie ihm einiges an Bele­gen zu Poraths Äußerun­gen beib­rin­gen kön­nen. Eine andere Möglichkeit wäre übri­gens gewe­sen, der Ver­anstal­tung noch eine Weile beizu­wohnen und später den Aus­führun­gen Lutz Boedes über Polizeige­walt gegenüber viet­name­sis­chen Gastarbeiter*innen zu lauschen.

Pot­dam ist nicht Brandenburg

Weit­er­hin stört den Autor, dass Porath so gar nicht mit loben­dem Eifer erwäh­nt hat­te, dass die Stadt Pots­dam vor kurzem einen Beschluss für einen Zeit- und Maß­nah­men­plan erstellt hat, dessen Ziel die Abschaf­fung der Sam­melun­terkün­fte in Pots­dam ist. Ganz von allein und aus eifrig anti­ras­si­tis­chen Motiv­en sind die Stadtverord­neten auf diese Idee nicht gekom­men, dafür war erst eine weltweite Pan­demie und der Druck zivilge­sellschaftlich­er Organ­i­sa­tio­nen nötig. Doch so oder so, Pots­dam ist nicht Bran­den­burg. Die in der Rede beschriebe­nen Zustände, denen Men­schen auf der Flucht in Bran­den­burg aus­ge­set­zt sind, sind aktuell. Beispiel­sweise für 400 Geflüchtete in der Unterkun­ft in Hen­nigs­dorf. Im ganzen Land sind tausende Men­schen gezwun­den in Masse­nun­terkün­ften zu leben, in denen Abstand hal­ten unmöglich ist. Auch in Pots­dam leben hun­derte Men­schen auf eng­stem Raum und sind so einem deut­lich erhöht­en Infek­tion­srisiko ausgesetzt.
Der Beschluss der Pots­damer Stadtverod­neten, die erzwun­gene Unter­bringungs­form aufzulösen, ist sehr zu begrüßen. Doch wer regelmäßig für die Pots­damer Neuesten Nachricht­en schreibt, kön­nte wis­sen, dass auch ein Beschluss erst in die Tat umge­set­zt wer­den muss und auch ein Maß­nah­men­plan zu Gun­sten- oder Ungun­sten der Betrof­fe­nen aus­fall­en kann. Dass dessen Umset­zung die Men­schen noch während der Pan­demie in sicherere Wohn­for­men ziehen lässt, bleibt unwahrschein­lich. Lobende Worte kön­nen wir ja danach noch finden.

Etwas Hal­tung, bitte!

Doch damit nicht genug. Der Autor schreibt über den Atten­täter von Hanau von einem “mut­maßlich” deutschen Ras­sis­ten. Wir empfehlen dem Autor drin­gend mehr Mut und eine Pack­ung Rück­grad. Natür­lich ist es richtig, dass qua Presse keine Vorverurteilung stat­tfind­en darf, auch nicht, wenn der Täter nicht mehr am Leben ist. Doch wenn ein ras­sis­tis­ches, anti­semi­tis­ches Pam­phlet als Begleitlek­türe zu einem Anschlag veröf­fentlicht wird und gezielt neun nicht-weiße Men­schen zu ermor­den noch immer nicht aus­re­icht, damit der Täter in der PNN als nicht mut­maßlich­er, son­dern hand­fester Ras­sist beze­ich­net wer­den darf, wis­sen wir auch nicht mehr weit­er. Zur Not hätte sich der Autor ja auch auf die Aus­sage des Präsi­den­ten des Bun­deskrim­i­nalamts Hol­ger Mün­sch beziehen kön­nen: “Das BKA bew­ertet die Tat als ein­deutig recht­sex­trem­istisch. Die Tat­bege­hung beruhte auf ras­sis­tis­chen Motiv­en“ [2]. Um darauf zu kom­men, hätte es gere­icht, kurz bei Wikipedia nachzuschlagen.

Gelun­gen, aber da geht noch was!

Und der Voll­ständigkeit hal­ber noch ein paar Sätze zur Berichter­stat­tung in der MAZ [3]: Nein, nicht neun aus­ländis­che Mit­bürg­er hat der Anschlag in Hanau das Leben gekostet. Fünf von ihnen waren tat­säch­lich deutsche Staats­bürg­er. Inwiefern jemand dann noch Aus­län­der (oder Aus­län­derin!) ist, lässt sich bes­timmt pri­ma bei einem Bier auf der näch­sten MAZ-Klausurta­gung berat­en. Staats­bürg­er­schaft schützt tat­säch­lich vor Ras­sis­mus nicht. Dieses Licht hätte der MAZ eventuell nach dem Inter­view mit dem deutschen Staats­bürg­er Fer­at Koçak aufge­hen kön­nen. Trotz­dem find­en wir den Artikel ins­ge­samt gelungen.

Viele Grüße, einige besorgte antifaschis­tis­che Bürger*innen Potsdams

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