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Fast gleich vor dem Gesetz


Das Landgericht Pots­dam behan­delt derzeit die Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen linken und recht­en Jugendlichen vom vorigen Som­mer. Einige Neon­azis erwarten hohe Haft­strafen, aber auch eine Antifaschistin muss vielle­icht ins Gefängnis.

Die min­der­jähri­gen Angeklagten kamen rel­a­tiv glimpflich davon. Am Mon­tag der vorigen Woche fällte das Pots­damer Landgericht die ersten Urteile im Prozess um den so genan­nten Tram-Über­fall. Es geht um einen Angriff von elf Neon­azis auf die zwei Pots­damer Stu­den­ten Tamás B. und Christoph B. im Juli vorigen Jahres. (Jun­gle World, 28/05) Die Gruppe hielt damals eigens eine Tram­bahn an, um ihre Opfer bru­tal anzu­greifen, bei­de mussten mit schw­eren Verletzun­gen im Kranken­haus behan­delt wer­den. Nur eine der Angeklagten, die 18jährige San­dra C., muss vor­erst eine Haft­strafe von dreiein­halb Jahren antreten. Neun Monate davon hat sie bere­its in Unter­suchung­shaft ver­bracht. Die Pots­damerin hat zugegeben, eine Flasche auf dem Kopf von Tamás B. zer­schla­gen zu haben. »Hass auf poli­tisch Ander­s­denk­ende« sei ihr Tat­mo­tiv gewe­sen, hieß es im Urteilsspruch. Eine Tötungsab­sicht kon­nte im ersten Teil der Ver­hand­lung nie­man­dem nachgewiesen werden.

Drei andere Angeklagte, die zum Zeit­punkt der Tat jünger als 21 Jahre waren, wur­den zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Sie müssen Sozial­stun­den leis­ten, an einem Anti-Aggres­sion­strain­ing teil­nehmen und Entschuldigungs­briefe an die Opfer schreiben. Außer­dem sind sie verpflichtet, das Konzen­tra­tionslager Sach­sen­hausen zu besuchen. Ein­er der Beschuldigten wurde nur wegen unter­lassen­er Hil­feleis­tung verwarnt.

Am 30. März begin­nt der zweite Teil des Prozess­es, in dem es um die sechs strafmün­digen Angeklagten gehen wird. Die Staats­anwaltschaft fordert hohe Haft­strafen für sie, kein­er soll für weniger als drei Jahre ins Gefäng­nis. Ob es sich bei dem Angriff der elf Neon­azis um ver­sucht­en Mord han­delt, muss die Staat­san­waltschaft noch klären.

Die Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen linken und recht­en Jugendlichen in Pots­dam haben seit dem Über­fall ein­er Gruppe Neon­azis auf den linksalter­na­tiv­en Chamäleon e.V. zum Jahreswech­sel 2003/04 zugenom­men. In der Folge kam es immer wieder zu Schlägereien. Die rechte Szene erhielt zudem Unter­stützung von den ver­bote­nen Berlin­er Grup­pen »KS Tor« und »Berlin­er Alter­na­tive Südost«. Der Vere­in »Jugend engagiert in Pots­dam« verze­ich­net einen enor­men Anstieg von rechtsex­tremen Straftat­en, der vor allem mit der geziel­ten »Anti-Antifa-Arbeit« des recht­sex­tremen Milieus zu tun habe.

Wegen der juris­tis­chen Ver­fol­gung der Gewalt­tätigkeiten geri­et ins­beson­dere der Staats­anwalt Peter Petersen in die öffentliche Kri­tik. Bürg­er­meis­ter Jann Jakobs (SPD) etwa befürchtete, dass der Ein­druck er­weckt wer­den kön­nte, in Pots­dam werde mit »zweier­lei Maß« gemessen.

Der Ein­druck drängt sich in der Tat auf. Die 22­jährige Antifaschistin Julia S., die Vor­sitzende des Vere­ins Chamäleon, wurde im Som­mer nach ein­er Schlägerei mit Neon­azis sofort in Unter­suchung­shaft genom­men. Obwohl der Ange­grif­f­ene dabei nur leicht ver­let­zt wor­den war, ermit­telte die Staat­san­waltschaft wegen ver­sucht­en Mordes. Julia S. soll in der Nacht vom 19. Juni 2005 den Neon­azi Ben­jamin Ö. mit einem Teleskop­schlag­stock ver­let­zt und zuvor mit drei anderen Jugendlichen durch die Stadt ver­fol­gt haben.

Erst seit Novem­ber befind­et sie sich wieder auf freiem Fuß. Vor zwei Wochen wurde sie von der Staat­san­waltschaft Pots­dam darüber informiert, dass es »unver­hält­nis­mäßig« sei, »die Anklage wegen ver­sucht­en Mordes in ihrem Fall aufrechtzuer­hal­ten«. Sei­ther lautet die Anklage gegen sie und die drei Mitangeklagten auf gefährliche Kör­per­ver­let­zung. Ein unab­hängiges Gutacht­en hat­te ergeben, dass ein Schlag mit einem Teleskop­schlag­stock nicht unbe­d­ingt aus ein­er Tötungsab­sicht erfol­gen müsse.

Petersen bewog vor allem der poli­tis­che Hin­ter­grund der Auseinan­der­set­zung dazu, zunächst wegen ver­sucht­en Mordes zu ermit­teln. Den Hass auf poli­tisch Ander­s­denk­ende bew­ertete er als niederen Beweg­grund. Zudem war Julia S. nicht bere­it, mit der Staat­san­waltschaft zu kooperieren; sie ver­weigerte die Aussage.

Das war im im Tram-Prozess anders. Der 32jährige Mar­cel S. belastete unmit­tel­bar nach sein­er Ver­haf­tung seine Mitangeklagten. Vor allem beschuldigte er Oliv­er O. schw­er, der mehrmals eines der Opfer getreten haben soll, als es bere­its am Boden lag. Wegen dieser Aus­sage ging die Staat­san­waltschaft kurzzeit­ig von ver­suchtem Mord aus, ehe sie die Anklage auf gefähr­liche Kör­perverletzung her­ab­set­zte. Vielle­icht wird Mar­cel S. für seine Aus­sagen belohnt. Nach dem Plä­doy­er vom Dien­stag der vorigen Woche kön­nten die zweiein­halb Jahre Haft, die ihm wegen gemein­schaftlich began­gener Kör­per­ver­let­zung dro­hen, auf Bewährung aus­ge­set­zt werden.

Für den zweit­en Teil des Prozess­es gegen die erwach­se­nen Angeklagten ist zu hof­fen, dass der Ablauf des besagten Abends voll­ständig rekon­stru­iert und der­jenige ermit­telt wird, der einem der Opfer mit ein­er Bier­flasche schwere Schnittver­let­zun­gen im Gesicht zuge­fügt hat. Denn außer Mar­cel S. behaupten die übri­gen Angeklagten weit­er­hin, an der Tat nicht beteiligt gewe­sen zu sein. Zwei von ihnen sollen nach einem Bericht der Pots­d­samer Neuen Nachricht­en auf der Liste der Hil­f­sor­gan­i­sa­tion für nationale poli­tis­che Gefan­gene (HNG) ste­hen. Sie alle sind polizeilich bekan­nt und zum Teil wegen Kör­per­ver­let­zung, Ver­wen­dung verfassungsfeind­licher Sym­bole oder Haus­friedens­bruchs vorbe­straft. Sie gehören zum Kern der recht­sex­tremen Szene in Pots­dam. Auch darüber soll Mar­cel S. der Staat­san­waltschaft diverse Auskün­fte erteilt haben.

Wann es zu dem Ver­fahren gegen Julia S. kom­men wird, weiß sie auch nach mehr als einem hal­ben Jahr noch nicht. Der Fall wird eben­falls vor dem Landgericht ver­han­delt, sie und ihr Anwalt rech­nen deshalb mit ein­er hohen Haft­strafe. »Drei Jahre Gefäng­nisaufen­thalt kön­nten mich erwarten«, befürchtet sie. Seit sie wieder frei ist, ist sie ständig unter­wegs, von ein­er Infor­ma­tionsver­anstal­tung zur näch­sten. »Nach dem Knast geht der Stress erst richtig los«, sagt sie. Ihr Gesicht sei den Neon­azis jet­zt bekan­nt, sie begrüßten sie mit ihrem Namen, wenn es mal zu ein­er Begeg­nung komme, erzählt sie. Die fünf Monate in Unter­suchung­shaft hät­ten sie sehr verän­dert. Den­noch habe sie es bish­er nicht bereut, die Aus­sage ver­weigert zu haben. 

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