Dies ist ein offener Brief eines Zusammenschlusses demokratischer und
antifaschistischer Menschen.
In letzter Zeit wird zunehmend in der medialen Berichterstattung von einer
„Gewaltspirale“ zwischen linken und rechten Jugendlichen geschrieben. Wir
sehen es als unser Recht und unsere Pflicht an, dazu Stellung zu nehmen.
Anlass für die breit angelegte Medienöffentlichkeit war ein vermeintlicher
Überfall von linken Jugendlichen auf einen Neonazi. Dabei soll es neben
Tätlichkeiten zum Einsatz von einem sogenannten Teleskopschlagstock gekommen
sein. Diese Art der Gewaltanwendung und der Vorwurf, die Beschuldigten
hätten einen gemeinschaftlichen Mord versucht wird in der Öffentlichkeit in
den Vordergrund gestellt. Dadurch werden die wahren Verhältnisse in
Brandenburg und Potsdam verdrängt.
In Brandenburg ist der Rechtsextremismus ein ernstes, aber in der
Öffentlichkeit leider an den Rand gedrücktes Problem.
In den vergangenen Jahren kam es häufig zu massiven Gewalttaten von Rechten.
Hier einige wenige Beispiele: eine Brandanschlagserie auf Imbisse in den
vergangenen Jahren, die von Ausländern betrieben wurden; ein alternativer
Jugendlicher wurde auf Grund seines Aussehens erst mit einem Totschläger
traktiert und anschließend auf die Schienen geworfen, um ihn vom Zug
überfahren zu lassen. Dabei war es ein glücklicher Umstand, dass der Zug
Verspätung hatte. Als Beispiel soll auch der April 2003 dienen (MAZ vom
29.04.2003): In Teltow wird ein ausländischer Mitbürger von 6 Männern und
Frauen aus der rechten Szene beschimpft, geschlagen und getreten. In
Jüterbog schlugen und traten 3 Neonazis auf einen
Libanesen ein und bedrohten ihn mit einem Messer und einer zerschlagenen
Bierflasche.
Marinus Schöberl wurde in der Nacht vom 12. zum 13.07.2003 ermordet, da er
in den Augen der neonazistischen Täter als„nicht lebenswert“ angesehen
wurde.
Opfer sind auch in dieser Gesellschaft als „behindert“ geltende Menschen
sowie Obdachlose. Beispielhaft sei hier Folgendes erwähnt: Am 16.06.2004
wurde ein Wohnungsloser in Beeskow ausgeraubt und angezündet. Am 02.06.2004
beleidigten Neonazis einen „behinderten“ Jugendlichen rassistisch und
verletzten ihn lebensgefährlich mit einer Rasierklinge.
In Potsdam gab es seit Mai diesen Jahres 17 öffentlich bekannt gewordene
Übergriffe von Neonazis, wobei die Dunkelziffer weit höher liegt.
Ein Auszug: Am 21.05.2005 fand im Rahmen der Babelsberger- Live- Nacht ein
organisierter Angriff von vermummten Nazis mit Schlagstöcken auf mehrere
Jugendliche statt. Am 13.06.2005 wurden drei Jugendliche von Rechten auf dem
Hauptbahnhof angegriffen und es wurde versucht, sie über das Geländer aus
ca. 8 m Höhe zu stürzen. Am 18.06.2005 wurden zwei Besucher des
Antirassistischen Stadionfestes in der Tram von ca. 10 Nazis angegriffen,
geschlagen und verletzt. Zuletzt wurde am Abend des 12.07.2005 ein
alternativer Jugendlicher wegen seines T‑Shirts von zwei Rechten
misshandelt.
Seit kurzem hat die neonazistische Vereinigung AntiAntifa Potsdam
Verstärkung aus Berlin. Dabei handelt es sich um Neonazis aus den verbotenen
Kameradschaften Tor und BASO.
Sie veröffentlichen auf einer Internetseite demokratische und
antifaschistische Projekte und Personen mit Adressen und Fotos. Ziel dieser
Seite ist Bedrohung und Einschüchterung. Die Rechten verleihen ihrer Drohung
durch Gewalttaten Nachdruck.
War das vorher vor allem in den Randbezirken Potsdams zu erleben, spielt es
sich nun schon seit geraumer Zeit auch vor allem am Bahnhof, in öffentlichen
Verkehrsmitteln und in der Innenstadt ab.
Wir und viele andere auch erleben den „Aufstand der Anständigen“ als ein
Lippenbekenntnis.
Präventive Arbeit gegen Rechtsextremismus wird durch Leistungskürzungen bei
sozialen Projekten für Jugendliche wesentlich erschwert. Opferberatungen
müssen um ihr Überleben kämpfen, weil Gelder gestrichen werden.
Rechtsextremismus wird nur unzureichend thematisiert und nicht als
gesellschaftliches Problem erkannt. Die Arbeit gegen Neonazismus findet eher
einseitig statt.
So greift die Justiz in Brandenburg mittlerweile zum Teil hart gegen
Neonazis durch. Aber das Problem liegt auf der Straße. Wie viele Taten
können nicht verfolgt werden, weil die Staatsgewalt überfordert ist? Die
Angst vor weiteren Übergriffen führt nicht selten dazu, dass Opfer bzw.
Zeugen von Gewalttaten keine Anzeige erstatten. Die Beamten treffen oftmals
zu spät am Tatort ein. Auch die Polizei räumt Probleme bei der Bekämpfung
von Rechtsradikalismus ein; erst vor kurzem musste sie zugeben, den
Ereignissen mit rechter Tatbeteiligung nicht gewachsen zu sein. Nur ein
Beispiel dafür: im April 2003 wurden drei Polizisten in Fürstenwalde
angegriffen, als die Beamten vier Nazis Platzverweise aussprechen wollten,
da diese rechte Parolen grölten. Die Rechten traten und schlugen auf die
Beamten ein, so dass diese ärztlich behandelt werden mussten. Das setzt sich
auch auf anderen Ebenen durch.
Im sogenannten Chamäleonprozess wurden drei Nazis angeklagt aus einer bis zu
50-köpfigen Gruppe einen Brandanschlag gegen das Vereinshaus verübt zu
haben. Am Tag des Prozesses hatten Neonazis die Hoheit im Gerichtssaal und
–gebäude. Vor und im Gerichtsgebäude kam es zu Rempeleien und Beleidigungen
seitens der Rechten. AntifaschistInnen wurde der Zugang zu dem öffentlichen
Prozess verwehrt. Eine Schulklasse musste den Saal am 03.06.2005 aus Angst
vor Übergriffen verlassen! Durch diese Gebietshoheit wurden Zeugen des
Prozesses allein auf Grund der Tatsache, dass ca. bis zu 40 (!) Nazis
anwesend waren, eingeschüchtert, eine Aussage zu machen. Und das alles unter
den Augen, des mit dieser Situation überforderten Gerichts. Am 12.06.2005
versuchten mehrere Neofaschisten in das Vereinshaus des Jugend- und
Kulturvereins Chamäleon e.V. einzudringen und somit Zeugen des Prozesses
einzuschüchtern .Nach dem Prozess wurde seitens der Nazis weiter versucht,
Zeugen und UnterstützerInnen anzugreifen. Nur durch das Eingreifen des
massiven Polizeiaufgebotes konnte Schlimmeres verhindert werden.
Neonazis besetzen den öffentlichen Raum! Sie praktizieren in ihrer
menschenverachtenden Ideologie Gewalttaten gegen ihre „Feinde“. Potenzielle
Opfer sind Ausländer, linksorientierte Menschen, alternative Jugendliche,
Homosexuelle, Obdachlose, „Behinderte“ oder einfach nur Menschen, die nicht
in das Bild der Nazis passen. Sie meiden diesen Raum, um nicht zum Opfer zu
werden! Es handelt sich eben nicht um eine Auseinandersetzung zwischen
rechts und links und schon gar nicht um eine diesbezügliche Gewaltspirale.
Neonazis und ihre Strukturen sind das Problem!
Es ist die Pflicht eines/ einer Jeden sich solchen Kräften
entgegenzustellen.
Deshalb finden wir uns als AntifaschistInnen mit dieser Situation nicht ab.
Wir wollen nicht, dass der rechte Mob die Straße beherrscht. Wir nehmen die
Politik beim Wort und vollziehen den „Aufstand der Anständigen“. Wir sind
es, die sich den Nazis in den Weg stellen. Wir wehren uns mit aller
Entschiedenheit dagegen, dass AntifaschistInnen und Neonazis, mit ihrer
menschenverachtenden Ideologie, auf eine Stufe gestellt werden, indem von
einem „Bandenkrieg“ gesprochen wird. Diese Art der Rhetorik verschleiert die
wahren Verhältnisse.
Brutale Gewalt gegen andere Personen ist bei den Rechten akzeptiert und
gewolltes Mittel der Aktion.
Der antifaschistische Kampf ist so aktuell wie eh und je, aber die
öffentliche Darstellung macht potenzielle Opfer zu extremistischen Tätern.
Dabei handelt es sich um eine (!) Gewalttat, die antifaschistischen
Jugendlichen vorgeworfen wird.
Das Ziel antifaschistischer Arbeit ist legitim; nämlic
h die Straßen sicher
und angstfrei zu machen für Ausländer, linke Menschen, Obdachlose,
Behinderte oder all diejenigen, die auf Grund ihres Äußeren Opfer von
neonazistischer Gewalt werden können.
Ebenso verwehren wir uns gegen den Vergleich in den Medien und durch die
Staatsgewalt. Es handelt sich nicht um Auseinandersetzungen zwischen links
und rechts. Die neonazistische Bedrohung auf der Straße ist Realität.
Menschenleben spielen dabei keine Rolle. Deswegen mussten Menschen wie
Silvio Meier am 21.11.1992, Marinus Schöberl und über einhundert Andere seit
1990 ihr Leben lassen.
Eine antifaschistische Bedrohung in der Öffentlichkeit gibt es nicht. Das
Geschehen um den behaupteten Angriff von AntifaschistInnen auf einen
stadtbekannten und gewaltbereiten Neonazi wurde durch die politische
Abteilung bei der Staatsanwaltschaft Potsdam und die Richterin am
Amtsgericht Schilling als ein versuchter gemeinschaftlicher Mord eingestuft.
Dabei konnte der Geschädigte nach kurzer ambulanter Behandlung wieder nach
Hause und am nächsten Tag mit anderen Neonazis am Stadtwerkefest teilnehmen
und Menschen anpöbeln.
Das „Opfer“ des vermeintlichen Angriffs war ebenso auch an einen Überfall
von 15 Neonazis auf zwei Studenten am 03.07.2005 beteiligt.
Die Straßenbahn wurde mittels Notbremse zum Stehen gebracht, die Türen
gewaltsam geöffnet. Bei dem Überfall wurde einem Menschen eine Flasche über
den Kopf geschlagen. Nachdem er bewusstlos zu Boden ging, sprangen einzelne
Täter ihm auf dem Kopf herum und beide Opfer wurden getreten und geschlagen.
Dem Zweiten wurde das Gesicht mit einer Flasche zerschnitten und es fehlten
nur 2 Zentimeter zur Halsschlagader. Die Sache wurde „professionell“
durchgezogen. Einige sicherten ab, der Angriff war von kurzer Dauer, aber
mit unvorstellbarer Härte. Die beiden Opfer mussten mehrere Tage stationär
behandelt werden. Die Täter sind großteils keine Unbekannten für Polizei und
Justiz.
Dieselbe (!) Abteilung 496 der Staatsanwaltschaft beantragte Haftbefehle,
die auf gefährliche Körperverletzung lautet. Erst als einer der Verteidiger
der beschuldigten AntifaschistInnen nachfragte, ob diese geänderte
Rechtsauffassung von Mord auch Bedeutung für seinen Prozess, insbesondere
den Bestand der Haftbefehle hat, gab sich die Anklagebehörde in der
Öffentlichkeit empört und ermittelt nun auch wegen versuchten Mordes.
Dieselbe (!) Richterin sieht in dem Geschehen lediglich eine gefährliche
Körperverletzung.
Wir wehren uns gegen diese offensichtliche juristische Ungleichbehandlung.
Wir sehen in dem Verfahren ein Politikum gegen AntifaschistInnen und eine
Kriminalisierung von Antifaschismus. Uns ist kein vergleichbarer Fall von
Neonazis bekannt, wo die Anklage versuchter Mord gelautet hätte.
Noch einmal: Neonazis gefährden und verletzen tagtäglich Menschen auf
unseren Straßen. Sie sind verantwortlich für die Angst von Ausländern,
Linken, Obdachlosen, Behinderten und all jenen, die den Rechten auf Grund
ihres Äußeren nicht passen! Es ist nicht gerechtfertigt von einer
Gewaltspirale zwischen links und rechts zu sprechen; die Gewalt ist
einseitig!
Es ist kein Grund ersichtlich, den von Presse und Staatsanwaltschaft
behaupteten Vorfall mit nicht gekannter Härte der Justiz zu ahnden und
anders zu behandeln, als die ständigen menschenverachtenden und brutalen
Übergriffe von Neonazis.
Wir fordern die Aufhebung der Anklage wegen versuchten Mordes und daher die
sofortige Freilassung der Beschuldigten Julia S. aus der Untersuchungshaft,
in der sie sich seit dem 20.06.2005 befindet. Des weiteren setzen wir uns
entschieden gegen eine Diskriminierung des demokratischen Widerstandes gegen
Neonazis ein. Wir fordern alle Kräfte dazu auf, ihre Verantwortung im Kampf
gegen Rassismus und Neofaschismus zu übernehmen.
Soligruppe Potsdam
Die Forderung nach Freilassung der Antifaschistin Julia S. und die offensive
Bekämpfung von Rechtsextremismus unterstützen: AG Antifaschismus der
Universität, AG Antirassismus der Universität Potsdam, ak_antifa potsdam, Aktionsfond für
Toleranz und Demokratie e.V., MdL Anita Tack, Gruppe B.A.S.T.A., Brandenburger Lebensart e.V.,
BundessprecherInnenrat von Solid — Marco Heinig, Bündnis madstoP, Cafe Laleander, Cafe/Kneipe
Haftorn, Cafe Lapizlazuli, Duisburger Netzwerk gegen Rechts, Günter Jacob (Redakteur der Konkret), FAU Ortsgruppe Münster, Flüchtlingsrat Brandenburg, freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs), FreundInnen des
Sachsenhausenkomitee, Prof. Dr. Jürgen Gessinger (Bündnis 90/Die Grünen), Kamil Majchrzak (Journalist), Dr. Klaus-Uwe Gunold, (Fraktion Die Linke.PDS in der SVV Potsdam), Initiative für Begegnung, Infoladen Bankrott (Münster), Jirka Witschak (SPD), Initiative für soziale Gerechtigkeit Gera, JAB — Jugendantifa Belzig, JungdemokratInnen/Junge Linke Brandenburg, Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und
Militär Potsdam, Kritik & Praxis Berlin, Landesausschuss der Studentinnen und Studenten der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW-LASS) Brandenburg, Initiative Libertad!, Madia Arbeitskreis 2./3. Welt e.V., Marion Böker (Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Berlin), Naturfreundejugend
Berlin, Offene Linke Liste, Opferperspektive e.V., Perlenspiel,
Polizeikontrollstelle — Initiative zur Stärkung der Grund- und Bürgerrechte
gegenüber der Polizei, Filmemacherin Rosa von Praunheim, Rote Hilfe e.V. Frankfurt (Oder), Rote Hilfe OG Duisburg,
Solid Brandenburg, Soligruppe Frankfurt (Oder), Stefan Sarrach (MdL der Linkspartei.PDS),
Professor Dr. Klaus Stanjek (Studiendekan an der HFF Potsdam),Thalia Kino
Potsdam, Tierra Unida, Gregor Vöhse — Fanbetreuer des Fanprojektes SV Babelsberg, Wählergruppe “Die Andere”, WASG