«Märkische Allgemeine», 11. Oktober 2006: Der Gewinner des höchsten in Deutschland je ausbezahlten Jackpots sei ein 41-jähriger Krankenpfleger aus Westfalen, teilt die federführende Land Brandenburg Lotto GmbH mit. Die Rekordsumme von 37,6Millionen
Euro geht damit in den Westen.
EIGENTLICH WUSSTEN ANDREAS UND SEINE FREUNDE, dass etwas im Tun war. Sie hatten schon am Nachmittag beobachtet, wie die Rechtsextremen sich beim «Lindenhof» besammelten.
«Aber wir dachten, die haben das Übliche im Sinn», sagt Andreas: mit dem Auto vor dem Jugendhaus aufkreuzen, Faschogebrüll, Flaschen werfen und so. Also kümmerten sie sich nicht weiter darum. Sie saßen den ganzen Abend des 3. Juni 2005 draußen vor dem Jugendhaus, einst für die Direktoren der IG Farben an bevorzugter Lage am See von Premnitz erbaut, nun zum Treffpunkt für den lokalen Nachwuchs umfunktioniert. «Dann kam auf einmal dieser Angler und sagte uns, wir sollten uns ins Innere zurückziehen, da gebe es welche, die uns plattmachen wollen.»
Über ein Jahr ist seither vergangen. Andreas steht am selben Ort wie damals der Angler. Herbstmorgen, Nebelwasser tropft von den Buchen, grau glänzt der Seespiegel. «Der Mann hat hier gefischt, als sich in seiner Nähe eine Gruppe von Glatzen versammelte und ihren Plan zu verhandeln begann.» Irgendwann bemerkten sie den Schatten und riefen in die Dunkelheit, wer immer da stehe, er solle sich besser verpissen, hier werde gleich etwas passieren. Der Angler ging und avisierte die Polizei. Und er ging hinüber zum Jugendhaus und warnte die Jugendlichen. Schließlich sei die Polizei gekommen und habe jene Glatzen eingepackt, die nicht davongerannt waren, ein halbes Dutzend aus Premnitz, der Rest aus der Umgebung, Rathenow und so, sechzehn insgesamt, fährt Andreas fort. Aber die Baseballschläger und den Benzinkanister fand erst die Kripo, am nächsten Tag. Dann wurde auch klar, dass das hier mehr als nur eine Rauferei hätte werden sollen. Viel mehr. Andreas ist zusammen mit den Glatzen aufgewachsen. Sie kämpften sich nebeneinander die Kletterstange hoch, oder sie kannten sich zumindest von der Strasse. Nun ist er vierundzwanzig und ein Linker, ein Alternativer, eine Zecke. So bezeichnen ihn die Faschos, die Neonazis, die Rechtsextremen von Premnitz.
Weshalb wird man hier links? Weshalb wird man rechts? Weshalb steht auf Andreas´ Kapuzenshirt «Welcome Refugees» und nicht «White Power»? – Mann, du stellst Fragen!
«Süddeutsche Zeitung», 23. April 2006: Eine Woche nach dem rassistischen Überfall auf Ermyas M. in Potsdam hat sich dessen Gesundheitszustand leicht stabilisiert. Die Ärzte stellten fest, dass er mit Unterstützung einer Beatmungsmaschine erste eigene Atemzüge machen kann.
DIE FAHRT VON BERLIN NACH PREMNITZ quert das Land der Havel mit dreitausend Seen, gesäumt von weiten Schilfgürteln, darin Biber und Seeadler. Im Hintergrund grüssen die roten Ziegeldächer der Dörfer, entlang der Geleise stehen verlassene Ställe der ehemaligen LPG, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Nach einer Stunde hält der Zug. Vier der fünf Geleise sind rostrot; das einstige Bahnhofgebäude mit der Aufschrift «Premnitz Hbf» steht leer. Ersetzt wird es durch ein Wartehäuschen, auf dessen Bank sich ein halbes Dutzend Personen zusammendrängen kann. Sofern es noch so viele Reisende gibt. Dafür ist das Häuschen in derselben Glas-Stahl-Architektur gebaut wie das glanzvolle Regierungsviertel der Hauptstadt, und es ist einer der wenigen Beweise dafür, dass die Wende auch diese Ecke Brandenburgs erreicht hat. Die Firma «Security R. Zarnikow» wache über die Ruhe der stillgelegten Schienen, besagt ein Schild.
Der Bahnhof war einst der Umschlagplatz des Volkseigenen Betriebs Chemiefaserwerk Friedrich Engels. So hieß das Kombinat, das aus den weiten Kiefernwäldern herausgeschlagen worden war, die gesamte Republik mit Textilien versorgte und den Landflecken Premnitz zur Kleinstadt machte. Siebentausend Menschen gingen durch die Tore I bis IV, drei Schichten an sieben Tagen.
Entlang der Havel entstanden in nur einundsiebzig Tagen Plattenbauten, und an der Farbe des Flusswassers konnten die Arbeiter am Abend erkennen, ob sie Rot, Grün oder Blau gemacht hatten.
In der Freizeit trieb man Sport beim TSV Chemie, holte den Titel als Landesmeister im Bowling, oder man sah sich im Kulturhaus ein Stück an, das vom Premnitzer Zirkel schreibender Arbeiter verfasst worden war: «Kalle – König der Stadt». Es handelte von einem Halbstarken und seinem Motorrad.
Andreas startet seinen Peugeot. «Wäre hier nicht meine Heimat, gäbe es keinen Grund zum Bleiben.» Auf der Rückbank drängen sich Regina, Bernd und Herbert. Auch sie gehören zur Szene derer, die jeden Tag mit einem Gefühl der inneren Erfüllung ins Bett gehen wollen: etwas Sinnvolles tun, helfen, die Welt teilen, so ungefähr. Dazu gehört, dass sie manchmal mit der Soko Tomeg Streife fahren, der Sonderkommission Täterorientierte Maßnahmen gegen rechtsextreme Gewalt. Nun machen sie sich auf den Weg, um im Zentrum von Premnitz ein paar Döner zu kaufen, vorbei an der Bushaltestelle bei der Kirche, angeschrieben mit «irch», vorbei an den gedrungenen Fischerhäusern des alten Dorfteils, in den Fenstern Porzellannippes und Kupferkesselchen mit Zyklamen, vorbei an der großen Sporthalle mit der Aufschrift «Objekt geschützt durch Security R. Zarnikow», vorbei an struppigen Besen, die für das taumelnde Laub bereitstehen.
Hier wird der Herbst nicht weggeblasen, hier wird noch gewischt. Und das Zentrum? «Das bisschen da», sagt Andreas.
Einige neue, schneeweiß verputzte Häuser mit neuer Einkaufspassage um einen neuen Platz. Einmal in der Woche stellen Marktfahrer ihre Stände auf. Es sind hauptsächlich Chinesen und
Roma. Sie verkaufen vor allem Billigkleider.
Dann biegt er in die Goethe-Strasse ein, wo der «Lindenhof» steht, der Treffpunkt der Neonazis; im Innern Glücksspielautomaten, Deutschlandfähnchen und eine Holzbar, an der ein Kind liest: «M – a – m – a». Eine Gruppe steht draußen an den Zaun gelehnt, Tarnjacken über den Lonsdale-Shirts: «White Power».
Klar kennen sie Andreas´ Peugeot, genau so, wie er ihre Autos kennt. Premnitz ist ein Dorf. Andreas fragt: «Ob wir da vorbeikommen?
» Er starrt auf das Kopfsteinpflaster. Aber sie reagieren nicht, auch sie schauen unbewegt geradeaus, als sei die Straße leer. «24 h Notruf-Leitzentrale», besagt die Zarnikow-Tafel vor
der Kneipe. Der «Lindenhof» ist nicht einmal eine Kneipe, er ist eine Höhle, ein Loch.
«Märkische Allgemeine», 30. September 2006: Im Vergleich zum
Bundesgebiet hat die Region Havelland mit 4,2 Prozent den höchsten
Krankenstand. Bedenklich ist die Zahl psychischer Erkrankungen.
Sie stieg um 30 Prozent.
WER VOM RECHTSEXTREMISMUS IN PREMNITZ nichts spüren will, spürt nichts. Das ist Andreas und seinen Freunden zu verdanken. Seit Jahren reinigen sie den Ort von allen Hinweisen. Plakate reißen sie weg, Autos mit Nazi-Slogans wie «Meine Ehre heisst Treue» melden sie der Polizei. Aufkleber entfernen sie mit Messern, Schraubenziehern und Fingernägeln. Manchmal sind es einige wenige, manchmal zehn; seit Anfang Jahr sind es insgesamt gegen tausend: «Freiheit für alle gefangenen Nationalisten!», «Ein neues Deutsches Reich», «Deutschland uns Deutschen», «Arbeit macht frei». Einzelne sind konkret gegen bestimmte Personen gerichtet, etwa gegen den hörbehinderten Eugen: «Eugen, du
brauchs
t kein Hörgerät, denn mit dir will sowieso niemand sprechen! » Andere zeigen eine Roma-Familie: «Wir müssen draußen bleiben.» Andreas und seine Freunde notieren jedes Stück und publizieren die Liste samt Fotos im Internet. Damit nichts vergessen geht: Im KZ von Brandenburg, eine halbe Stunde entfernt, sind seinerzeit im Verlaufe der Säuberungsaktionen der Nazis 9772 behinderte Menschen ermordet worden.
Doch das ist nur die Oberfläche. Nachdem zu DDR-Zeiten Rechtsradikalismus als ein aus dem Westen importiertes Phänomen gegolten und man die Anhänger auf die andere Seite der Mauer abgeschoben hatte, fanden in Premnitz drei Jahre nach der Wende die ersten Übergriffe statt. Eine Gruppe Neonazis lauert einem jungen Linken auf und knüppelt ihn zusammen. Der Mann muss für zwei Wochen ins Krankenhaus; die Schläger werden zu Geldstrafen zwischen 50 und 100 DM verurteilt. Die Tat spornt an, und die Szene beginnt sich zu organisieren. Im Premnitzer Jugendklub liegt regelmäßig das Blatt «Der Angriff» auf, eine Kopie der einstigen «Gauzeitung» der Berliner NSDAP, später kommt ein «9‑Punkte-Plan zur Ausländerrückführung» dazu.
Nach weiteren gewalttätigen Attacken setzt die Staatsanwaltschaft die Rädelsführer für mehrere Jahre hinter Gitter.
Die Wirkung bleibt gering. Im März 2000 dringen Rechtsextreme erstmals in den Jugendklub ein und schlagen ohne Vorwarnung zu. Im Sommer desselben Jahres wird die «Kameradschaft Hauptvolk» gegründet, zu deren Programm es gehört, die Deutschen als überlegenes Volk und den Holocaust als Schwindel zu bezeichnen. Im gleichen Zeitraum werden mehrere ihrer Mitglieder vom Premnitzer Sicherheitsunternehmen Zarnikow angestellt.
Die im Ort allgegenwärtige Firma kontrolliert nicht nur die meisten Firmen im Industriegelände, das Stadion, die Supermärkte und Teile der Bahnanlagen, sie übernimmt auch den Sicherheitsdienst an Volksfesten, und das Schild mit den beiden Schwertern hängt sogar vor dem Polizeiposten. Im Havelland beaufsichtigen Neonazis das Volk, und sie bewachen die Hüter von Recht und Ordnung; sie sind mitten in der Gesellschaft.
Zu lautstarken Protesten kommt es erst, als die Firma den Auftrag erhält, auch das Flüchtlingsheim im benachbarten Rathenow zu kontrollieren. Der Verfassungsschutz mischt sich ein, und Zarnikow sieht sich gezwungen, seine Leute abzuziehen. Den Neonazis kündigt er. Am Geschäftssitz präsentiert er jedoch weiterhin Fotos, die Mitglieder der «Kameradschaft Hauptvolk» in den schwarzen Zarnikow-Uniformen zeigen. Alle seine Angestellten hätten polizeiliche Führungszeugnisse, sagt er. «Was sie denken und am Feierabend tun, kann ich nicht überprüfen.» 2004 wird sein Sohn wegen eines Angriffs mit rechtsradikalem Hintergrund zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt.
Das Brandenburger Innenministerium hat die «Kameradschaft Hauptvolk» inzwischen verboten. Mit dem Effekt, dass zwei neue Vereinigungen gegründet wurden, die «Nationalen Sozialisten Premnitz» im Juni und der «Nationale Widerstand Premnitz» im September 2006.
Bemerkung auf der Webseite «Nationaler Widerstand Premnitz»
anlässlich der Online-Schaltung: «Wir werden die Seite natürlich noch vergröSSern. Hand zum GruSS.»
IM PASSAT-KOMBI VON MIKE STAMPEHL läuft Radio Berlin-Brandenburg, easy listening am frühen Nachmittag. Stampehl ist Wirtschaftsförderer von Premnitz, studierter Betriebswissenschafter und durch die Schule der Nationalen Volksarmee gegangen. Dass er nicht selbst aus Premnitz stammt, empfindet er als Vorteil.
Stampehl macht die Tour für Firmenvertreter, die nach günstigen Standorten für Niederlassungen suchen. Also fährt er über die Karl-Marx-Strasse ins Industriegelände, vorbei an der verlassenen DDR Kindertagesstätte mit ihrem überwucherten Spielplatz, angeschrieben mit «Kinderstadt Neues Leben», vorbei am Dampfrohr mit dem gesprayten Spruch «Premnitz muss sterben». Dann dreht er ab in Richtung der endlosen Kiefernwälder, wo sich die neuen Unternehmen angesiedelt haben, etwa die Adsor, Herstellerin von Aktivkohle für Hightech-Anwendungen. Ein sensationelles Produkt, plus sechzig Arbeitsplätze. Und hier die Havelländische Zink-Druckguss, auch sehr innovativ, höchste Präzision, plus achtundsechzig Arbeitsplätze. Und dort der Kunststoff-Recyclingpark, der das PET von Lidl und Aldi verarbeitet. Stampehl rechnet: «Insgesamt haben wir jetzt dreiundvierzig Firmen. Das ist besser als früher. Damals hatten wir nur das Kombinat, und als das ins Husten kam, stand gleich alles auf dem Spiel. Siebentausend Arbeitsplätze! Wir sind durch ein tiefes Tal der Tränen gegangen, und ja, zwanzig Prozent sind immer noch arbeitslos, aber das heisst auch: Achtzig Prozent haben wieder zu tun! Wir sind wieder wer! Man muss, verdammt noch mal, einfach aktiv sein.»
Als Stampehl den Wagen wendet, schiebt sich eine Industriebrache mit Unkraut vor die Windschutzscheibe. Hier grenzte einst Fabrikhalle an Fabrikhalle, jede zehntausend Quadratmeter groß, zwölftausend gar. Jetzt herrscht Stille unter dem grauen Herbsthimmel.
Die Leere wird einzig durchbrochen von jenen letzten Ruinen, bei denen man nicht weiß, wie es um die Schadstoffbelastung der Mauern steht. Also rührt man sie nicht an. Taubenschwärme kreisen um die Schlote, auf dem Asphalt liegen überfahrene Igel: einer, zwei, drei. Wo sind die Menschen, die hier einst arbeiteten? Stampehl antwortet: «Wer flexibel ist, der ist gegangen.»
«Märkische Allgemeine», 21. September 2006: Nach den Wahlerfolgen der NPD zeigten sich die Vertreter der etablierten Parteien bestürzt.
Doch zeitgleich droht in Brandenburg das «Netzwerk gegen rechts» zusammenzubrechen. Der Verein Opferperspektive hat seinen Mitarbeitern zum 31. Dezember gekündigt.
BEZÜGLICH RECHTSEXTREMER ANGRIFFE steht Brandenburg in Deutschland an zweitoberster Stelle. Eine Befragung von Wahlberechtigten aus dem Jahr 2005 leuchtet den Hintergrund aus. Die Reaktionen auf Feststellungen wie «Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten» oder «Es gibt wertvolles und unwertes Leben» zeigen, dass in Brandenburg rund ein Viertel der Bevölkerung die Ideologie der Nazizeit befürwortet. Ein Drittel der Befragten wünscht sich sogar eine Diktatur zurück: «Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland mit starker Hand regiert.» Ebenso viele vertreten eine fremdenfeindliche Haltung, obwohl der Ausländeranteil im gesamten Bundesland – exklusive
Asylsuchender – nur 1,9 Prozent beträgt. Zusammengefasst stellen die Befrager bei zwölf Prozent der Bevölkerung ein «rechtsextremes Potenzial» fest, doppelt so häufig wie in der Hauptstadt.
Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich kaum; jedoch finden sich rechtsextreme Positionen vor allem bei Schulabgängern mit tiefem Bildungsniveau. Bei Jugendlichen ist das Potenzial vergleichsweise gering, es verdoppelt sich bei der nächsten Altersgruppe, den 25- bis 34-Jährigen, um schließlich bei Wählern und Wählerinnen im Rentenalter das Maximum zu erreichen.
Der Nachwuchs Brandenburgs exekutiert, was ihm am Mittagstisch eingetrichtert wird. Weshalb gibt es Rechtsextremismus in Premnitz? Was ist sein Nährboden? Drei Antworten aus drei Perspektiven.
Der Malermeister: Jürgen Ritter wohnt am Puschkin-Weg, in einem Einfamilienhaus, das mit seinen dicken Teppichen und Nussbaummöbeln Wohlstand verrät. 1949 war er aus der Lagerhaft in Sibirien zurückgekehrt, heiratete und eröffnete sein Geschäft.
Ritter sagt: «Sechzig Stunden am Tag h&aum
l;tten wir vor der Wende arbeiten können, so viel gab es zu tun. Die Jugendlichen hatten alle ihre Ausbildung und ihren Arbeitsplatz. Wer trank, wurde vom VEB aufgefangen. Einziger Nachteil von damals: Wir waren eingesperrt. Heute ist alles anders. Die Jugendlichen wissen gar nicht, was machen. Da ist nur Leere und Verzweiflung. Deshalb planen sie Brandanschläge – wie damals.» Seine Frau Simone fügt an: «Wir nahmen uns noch Zeit für unsere Kinder. Aber wenn schon die Eltern mit dem Leben nicht zurechtkommen, wie sollen es dann die Kinder? Heute ist die Jugend traurig.»
Der Direktor: Michael Schönberg ist auch am Samstag im Büro. Seinen Betrieb, die Havelländische Zink-Druckguss GmbH, hat er nach der Wende aufgebaut; für einen Ostler eine schwierige Sache, bemerkt er. Schönberg ist ein Mensch, der gerne lacht. In seiner Freizeit engagiert er sich in der Jugendarbeit: «Das Thema Rechtsextremismus wird aufgebauscht. Bei unserem letzten Siedlungsfest kam die Polizei mit fünf Einsatzfahrzeugen wegen einer blutenden Nase. Das ist völlig übertrieben, das sind doch alles Bagatellen. Dabei gibt es Grund für den Ärger. Die Neger, die hier ankommen, erhalten sofort Geld. Der Ausländer wird auf dem Tablett getragen. Es gibt keine Gleichberechtigung. Die Deutschen versuchen sich gegen dieses übertriebene soziale Engagement zu wehren.» Genau so sei es, pflichtet eine Autoverkäuferin bei, die Schönberg zu früh zu seinem nächsten Termin bestellt hat: «Der Türke, unser Konkurrent, kann sich erlauben, was für uns unmöglich ist. Ihm geht es hier besser als den Deutschen, weil er Ausländer ist. Was ist das für ein Land?»
Die Textilingenieurin: Hildegard Seeger ist nur nach Premnitz gekommen, weil sie aus einer als kapitalistisch geltenden Familie stammt und deshalb hierhin «eingewiesen» wurde, wie sie sagt. Sie ist in der Acrylfaserforschung tätig und spielt Geige auf Konzertniveau.
Ihr Übungsraum befindet sich im Kulturhaus beim einstigen Tor II, das immer noch mit Möbeln aus der DDR-Zeit eingerichtet ist: «Die extremen Richtungen sind ganz grosser Mist. Das wissen wir inzwischen doch. Hier bei uns ist die SA auferstanden, die
Sturmabteilung der Nazis. Aber die gefährlichen Rechtsextremen sind nicht unsere Jugendlichen, sondern die mit Hemd und Krawatte.
Diese Rattenfänger kommen alle aus dem Westen, alle. Sie erkannten das Vakuum sofort. Wenn man den Acker nicht bestellt, dann wächst das Unkraut.»
«Der Tagesspiegel», 19. September 2006: Das Land Brandenburg stellt für die Biografie von No¨elMartin 5000 Euro bereit. Am 16. Juni 1996 hatten Neonazis den Schwarzen in seinem Auto angegriffen; seither ist er vomHals abwärts gelähmt. Noel Martin hat angekündigt, sich an seinem nächsten Geburtstag das Leben zu nehmen.
DIE GERÄUSCHE IN DER PREMNITZER NACHT stammen von fallenden Kastanien, sie dringen aus der Bar Elfmeter, und sie werden vom Wind erzeugt, der in die Rollläden des Asia-Shops
gleich neben dem «Lindenhof» fährt. Die Läden werden jeden Abend heruntergelassen, seit die Scheiben eingeworfen worden sind. Irgendwo startet ein Motor. In der Ferne fingert gelbes Licht über den reglosen Seespiegel, es kommt aus dem Jugendhaus.
Andreas und seine Freunde sind noch an der Arbeit. Sie haben die Möbel unter Plastic zusammengerückt und malen eine Landschaft mit Palmen an die Wand.
Die Welt hier ist größer geworden seit der Wende, die Heimat kleiner. Von den einst drei Schulen ist noch eine geöffnet. Zehntausend Einwohner hatte der Ort früher, heute sind es noch achttausend.
Premnitz kämpft. Die verlassenen Häuser mit ihren toten Fenstern werden abgerissen, Plattenbauten erhalten farbige Balkone, und in das Umfeld des neuen Bahnhofs hat die Verwaltung 350 000 Euro investiert; nun gibt es hier sogar eine südliche Stimmung verbreitende Pergola, Eröffnung war am 10. November.
Doch die neue Fröhlichkeit ist wie Schminke, die die Traurigkeit im Gesicht des Clowns überdeckt.
Geblieben ist, wer sich in Premnitz begraben lassen will. Geblieben ist, wen die Zukunft vergessen hat. Und geblieben ist der Rechtsextremismus: Die Wissenschaft vermutet als Ursache eine Nachwirkung der autoritären, weitgehend vom Staat übernommenen Erziehung der DDR-Zeit mit ihrem sehr hohen Anpassungsdruck bei gleichzeitiger Aversion gegen alles Fremde. Das Ende des Staates hat ein Vakuum hinterlassen, das vom Westen weder materiell noch ideell genügend schnell aufgefüllt werden konnte, mit dem Ergebnis, dass die nie ganz vergessene Ideologie des Dritten Reiches zur einzigen rasch greifbaren Ersatzlösung wurde.
Zur Menge der Orientierungslosen gesellt sich die Flutwelle der Modernisierungsverlierer. An ihnen ist die Wiedervereinigung als eine Abfolge leerer Versprechen vorbeigezogen. Je älter die Betroffenen, desto größer die Not. Die Verzweiflung schlägt sich in einem simplifizierten Weltbild mit einer entsprechend eindimensionalen Projektion der Verantwortung nieder: Schuld an der Situation ist, wer anders aussieht und anders denkt. Der Vollzug der Rache an den Verursachern wird dabei an die Jugend delegiert, die, überzeugt von ihrer eigenen Minderwertigkeit, jede Fähigkeit zur Empathie verliert und Anschläge von kaum vorstellbarer
Grausamkeit und Empfindungslosigkeit verübt.
Irgendwo unter dem Plastic liegt auch die neue Hausordnung des Jugendhauses. Nach dem versuchten Brandanschlag im Sommer letzten Jahres ist sie geändert worden und besagt nun, dass «in Auswertung der Ereignisse vom 3. Juni» Hausverbote ausgesprochen werden können, und zwar gegen Personen, die «permanent tätliche Auseinandersetzungen haben und das Jugendzentrum und sein Gelände als Rückzugsgebiet ansehen». Der Wisch macht
die Freunde ratlos. Regina bläst den Rauch an die Decke, Herbert gähnt, Bernd und Andreas starren auf die Palmen. Was soll das heißen? Was haben sie falsch gemacht? Wer genau ist da permanent gewaltbereit? Und: Ist es ihnen künftig also verboten, in diesem Haus Schutz zu suchen, sollten die Faschos, die Rechtsextremen, die Neonazis wieder mit Molotowcocktails am Ufer stehen wie im Vorjahr? Falls ja, weshalb? Die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen die Glatzen lautet auf Verabredung zum Mord.
Hinweis: Namen und Umfeld der Personen, die sich kritisch über Rechtsextremismus äußern,
wurden geändert.