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Führerlos

«Märkische All­ge­meine», 11. Okto­ber 2006: Der Gewin­ner des höch­sten in Deutsch­land je aus­bezahlten Jack­pots sei ein 41-jähriger Krankenpfleger aus West­falen, teilt die fed­er­führende Land Bran­den­burg Lot­to GmbH mit. Die Reko­rd­summe von 37,6Millionen
Euro geht damit in den Westen.

EIGENTLICH WUSSTEN ANDREAS UND SEINE FREUNDE, dass etwas im Tun war. Sie hat­ten schon am Nach­mit­tag beobachtet, wie die Recht­sex­tremen sich beim «Lin­den­hof» besammelten.
«Aber wir dacht­en, die haben das Übliche im Sinn», sagt Andreas: mit dem Auto vor dem Jugend­haus aufkreuzen, Faschogebrüll, Flaschen wer­fen und so. Also küm­merten sie sich nicht weit­er darum. Sie saßen den ganzen Abend des 3. Juni 2005 draußen vor dem Jugend­haus, einst für die Direk­toren der IG Far­ben an bevorzugter Lage am See von Prem­nitz erbaut, nun zum Tre­ff­punkt für den lokalen Nach­wuchs umfunk­tion­iert. «Dann kam auf ein­mal dieser Angler und sagte uns, wir soll­ten uns ins Innere zurückziehen, da gebe es welche, die uns plattmachen wollen.»
Über ein Jahr ist sei­ther ver­gan­gen. Andreas ste­ht am sel­ben Ort wie damals der Angler. Herb­st­mor­gen, Nebel­wass­er tropft von den Buchen, grau glänzt der Seespiegel. «Der Mann hat hier gefis­cht, als sich in sein­er Nähe eine Gruppe von Glatzen ver­sam­melte und ihren Plan zu ver­han­deln begann.» Irgend­wann bemerk­ten sie den Schat­ten und riefen in die Dunkel­heit, wer immer da ste­he, er solle sich bess­er ver­pis­sen, hier werde gle­ich etwas passieren. Der Angler ging und avisierte die Polizei. Und er ging hinüber zum Jugend­haus und warnte die Jugendlichen. Schließlich sei die Polizei gekom­men und habe jene Glatzen eingepackt, die nicht davonger­an­nt waren, ein halbes Dutzend aus Prem­nitz, der Rest aus der Umge­bung, Rathenow und so, sechzehn ins­ge­samt, fährt Andreas fort. Aber die Base­ballschläger und den Ben­zinkanis­ter fand erst die Kripo, am näch­sten Tag. Dann wurde auch klar, dass das hier mehr als nur eine Raufer­ei hätte wer­den sollen. Viel mehr. Andreas ist zusam­men mit den Glatzen aufgewach­sen. Sie kämpften sich nebeneinan­der die Klet­ter­stange hoch, oder sie kan­nten sich zumin­d­est von der Strasse. Nun ist er vierundzwanzig und ein Link­er, ein Alter­na­tiv­er, eine Zecke. So beze­ich­nen ihn die Faschos, die Neon­azis, die Recht­sex­tremen von Premnitz.
Weshalb wird man hier links? Weshalb wird man rechts? Weshalb ste­ht auf Andreas´ Kapuzen­shirt «Wel­come Refugees» und nicht «White Pow­er»? – Mann, du stellst Fragen!

«Süd­deutsche Zeitung», 23. April 2006: Eine Woche nach dem ras­sis­tis­chen Über­fall auf Ermyas M. in Pots­dam hat sich dessen Gesund­heit­szu­s­tand leicht sta­bil­isiert. Die Ärzte stell­ten fest, dass er mit Unter­stützung ein­er Beat­mungs­mas­chine erste eigene Atemzüge machen kann.

DIE FAHRT VON BERLIN NACH PREMNITZ quert das Land der Hav­el mit dre­itausend Seen, gesäumt von weit­en Schil­fgürteln, darin Biber und Seeadler. Im Hin­ter­grund grüssen die roten Ziegeldäch­er der Dör­fer, ent­lang der Geleise ste­hen ver­lassene Ställe der ehe­ma­li­gen LPG, der Land­wirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Nach ein­er Stunde hält der Zug. Vier der fünf Geleise sind ros­trot; das ein­stige Bahn­hofge­bäude mit der Auf­schrift «Prem­nitz Hbf» ste­ht leer. Erset­zt wird es durch ein Warte­häuschen, auf dessen Bank sich ein halbes Dutzend Per­so­n­en zusam­men­drän­gen kann. Sofern es noch so viele Reisende gibt. Dafür ist das Häuschen in der­sel­ben Glas-Stahl-Architek­tur gebaut wie das glanzvolle Regierungsvier­tel der Haupt­stadt, und es ist ein­er der weni­gen Beweise dafür, dass die Wende auch diese Ecke Bran­den­burgs erre­icht hat. Die Fir­ma «Secu­ri­ty R. Zarnikow» wache über die Ruhe der still­gelegten Schienen, besagt ein Schild.
Der Bahn­hof war einst der Umschlag­platz des Volk­seige­nen Betriebs Chemiefaser­w­erk Friedrich Engels. So hieß das Kom­bi­nat, das aus den weit­en Kiefer­n­wäldern her­aus­geschla­gen wor­den war, die gesamte Repub­lik mit Tex­tilien ver­sorgte und den Land­fleck­en Prem­nitz zur Kle­in­stadt machte. Sieben­tausend Men­schen gin­gen durch die Tore I bis IV, drei Schicht­en an sieben Tagen.
Ent­lang der Hav­el ent­standen in nur ein­und­siebzig Tagen Plat­ten­baut­en, und an der Farbe des Fluss­wassers kon­nten die Arbeit­er am Abend erken­nen, ob sie Rot, Grün oder Blau gemacht hatten.
In der Freizeit trieb man Sport beim TSV Chemie, holte den Titel als Lan­desmeis­ter im Bowl­ing, oder man sah sich im Kul­turhaus ein Stück an, das vom Prem­nitzer Zirkel schreiben­der Arbeit­er ver­fasst wor­den war: «Kalle – König der Stadt». Es han­delte von einem Halb­starken und seinem Motorrad.
Andreas startet seinen Peu­geot. «Wäre hier nicht meine Heimat, gäbe es keinen Grund zum Bleiben.» Auf der Rück­bank drän­gen sich Regi­na, Bernd und Her­bert. Auch sie gehören zur Szene der­er, die jeden Tag mit einem Gefühl der inneren Erfül­lung ins Bett gehen wollen: etwas Sin­nvolles tun, helfen, die Welt teilen, so unge­fähr. Dazu gehört, dass sie manch­mal mit der Soko Tomeg Streife fahren, der Son­derkom­mis­sion Täteror­i­en­tierte Maß­nah­men gegen recht­sex­treme Gewalt. Nun machen sie sich auf den Weg, um im Zen­trum von Prem­nitz ein paar Dön­er zu kaufen, vor­bei an der Bushal­testelle bei der Kirche, angeschrieben mit «irch», vor­bei an den gedrun­genen Fis­cher­häusern des alten Dorfteils, in den Fen­stern Porzel­lan­nippes und Kupfer­kesselchen mit Zyk­la­men, vor­bei an der großen Sporthalle mit der Auf­schrift «Objekt geschützt durch Secu­ri­ty R. Zarnikow», vor­bei an strup­pi­gen Besen, die für das taumel­nde Laub bereitstehen.
Hier wird der Herb­st nicht wegge­blasen, hier wird noch gewis­cht. Und das Zen­trum? «Das biss­chen da», sagt Andreas.
Einige neue, schneeweiß ver­putzte Häuser mit neuer Einkauf­s­pas­sage um einen neuen Platz. Ein­mal in der Woche stellen Mark­t­fahrer ihre Stände auf. Es sind haupt­säch­lich Chi­ne­sen und
Roma. Sie verkaufen vor allem Billigkleider.
Dann biegt er in die Goethe-Strasse ein, wo der «Lin­den­hof» ste­ht, der Tre­ff­punkt der Neon­azis; im Innern Glücksspielau­to­mat­en, Deutsch­land­fäh­nchen und eine Holzbar, an der ein Kind liest: «M – a – m – a». Eine Gruppe ste­ht draußen an den Zaun gelehnt, Tarn­jack­en über den Lons­dale-Shirts: «White Power».
Klar ken­nen sie Andreas´ Peu­geot, genau so, wie er ihre Autos ken­nt. Prem­nitz ist ein Dorf. Andreas fragt: «Ob wir da vorbeikommen?
» Er star­rt auf das Kopf­steinpflaster. Aber sie reagieren nicht, auch sie schauen unbe­wegt ger­adeaus, als sei die Straße leer. «24 h Notruf-Leitzen­trale», besagt die Zarnikow-Tafel vor
der Kneipe. Der «Lin­den­hof» ist nicht ein­mal eine Kneipe, er ist eine Höh­le, ein Loch.

«Märkische All­ge­meine», 30. Sep­tem­ber 2006: Im Ver­gle­ich zum
Bun­des­ge­bi­et hat die Region Havel­land mit 4,2 Prozent den höchsten
Kranken­stand. Beden­klich ist die Zahl psy­chis­ch­er Erkrankungen.
Sie stieg um 30 Prozent.

WER VOM RECHTSEXTREMISMUS IN PREMNITZ nichts spüren will, spürt nichts. Das ist Andreas und seinen Fre­un­den zu ver­danken. Seit Jahren reini­gen sie den Ort von allen Hin­weisen. Plakate reißen sie weg, Autos mit Nazi-Slo­gans wie «Meine Ehre heisst Treue» melden sie der Polizei. Aufk­le­ber ent­fer­nen sie mit Messern, Schrauben­ziehern und Fin­gernägeln. Manch­mal sind es einige wenige, manch­mal zehn; seit Anfang Jahr sind es ins­ge­samt gegen tausend: «Frei­heit für alle gefan­genen Nation­al­is­ten!», «Ein neues Deutsches Reich», «Deutsch­land uns Deutschen», «Arbeit macht frei». Einzelne sind konkret gegen bes­timmte Per­so­n­en gerichtet, etwa gegen den hör­be­hin­derten Eugen: «Eugen, du
brauchs
t kein Hörg­erät, denn mit dir will sowieso nie­mand sprechen! » Andere zeigen eine Roma-Fam­i­lie: «Wir müssen draußen bleiben.» Andreas und seine Fre­unde notieren jedes Stück und pub­lizieren die Liste samt Fotos im Inter­net. Damit nichts vergessen geht: Im KZ von Bran­den­burg, eine halbe Stunde ent­fer­nt, sind sein­erzeit im Ver­laufe der Säu­berungsak­tio­nen der Nazis 9772 behin­derte Men­schen ermordet worden.
Doch das ist nur die Ober­fläche. Nach­dem zu DDR-Zeit­en Recht­sradikalis­mus als ein aus dem West­en importiertes Phänomen gegolten und man die Anhänger auf die andere Seite der Mauer abgeschoben hat­te, fan­den in Prem­nitz drei Jahre nach der Wende die ersten Über­griffe statt. Eine Gruppe Neon­azis lauert einem jun­gen Linken auf und knüp­pelt ihn zusam­men. Der Mann muss für zwei Wochen ins Kranken­haus; die Schläger wer­den zu Geld­strafen zwis­chen 50 und 100 DM verurteilt. Die Tat spornt an, und die Szene begin­nt sich zu organ­isieren. Im Prem­nitzer Jugend­klub liegt regelmäßig das Blatt «Der Angriff» auf, eine Kopie der ein­sti­gen «Gauzeitung» der Berlin­er NSDAP, später kommt ein «9‑Punk­te-Plan zur Aus­län­der­rück­führung» dazu.
Nach weit­eren gewalt­täti­gen Attack­en set­zt die Staat­san­waltschaft die Rädels­führer für mehrere Jahre hin­ter Gitter.
Die Wirkung bleibt ger­ing. Im März 2000 drin­gen Recht­sex­treme erst­mals in den Jugend­klub ein und schla­gen ohne Vor­war­nung zu. Im Som­mer des­sel­ben Jahres wird die «Kam­er­ad­schaft Hauptvolk» gegrün­det, zu deren Pro­gramm es gehört, die Deutschen als über­legenes Volk und den Holo­caust als Schwindel zu beze­ich­nen. Im gle­ichen Zeitraum wer­den mehrere ihrer Mit­glieder vom Prem­nitzer Sicher­heit­sun­ternehmen Zarnikow angestellt.
Die im Ort all­ge­gen­wär­tige Fir­ma kon­trol­liert nicht nur die meis­ten Fir­men im Indus­triegelände, das Sta­dion, die Super­märk­te und Teile der Bah­nan­la­gen, sie übern­immt auch den Sicher­heits­di­enst an Volks­festen, und das Schild mit den bei­den Schw­ert­ern hängt sog­ar vor dem Polizeiposten. Im Havel­land beauf­sichti­gen Neon­azis das Volk, und sie bewachen die Hüter von Recht und Ord­nung; sie sind mit­ten in der Gesellschaft.
Zu laut­starken Protesten kommt es erst, als die Fir­ma den Auf­trag erhält, auch das Flüchtling­sheim im benach­barten Rathenow zu kon­trol­lieren. Der Ver­fas­sungss­chutz mis­cht sich ein, und Zarnikow sieht sich gezwun­gen, seine Leute abzuziehen. Den Neon­azis kündigt er. Am Geschäftssitz präsen­tiert er jedoch weit­er­hin Fotos, die Mit­glieder der «Kam­er­ad­schaft Hauptvolk» in den schwarzen Zarnikow-Uni­for­men zeigen. Alle seine Angestell­ten hät­ten polizeiliche Führungszeug­nisse, sagt er. «Was sie denken und am Feier­abend tun, kann ich nicht über­prüfen.» 2004 wird sein Sohn wegen eines Angriffs mit recht­sradikalem Hin­ter­grund zu zwei Wochen Jugen­dar­rest verurteilt.
Das Bran­den­burg­er Innen­min­is­teri­um hat die «Kam­er­ad­schaft Hauptvolk» inzwis­chen ver­boten. Mit dem Effekt, dass zwei neue Vere­ini­gun­gen gegrün­det wur­den, die «Nationalen Sozial­is­ten Prem­nitz» im Juni und der «Nationale Wider­stand Prem­nitz» im Sep­tem­ber 2006.

Bemerkung auf der Web­seite «Nationaler Wider­stand Premnitz»
anlässlich der Online-Schal­tung: «Wir wer­den die Seite natür­lich noch ver­gröSSern. Hand zum GruSS.»

IM PASSAT-KOMBI VON MIKE STAMPEHL läuft Radio Berlin-Bran­den­burg, easy lis­ten­ing am frühen Nach­mit­tag. Stam­pehl ist Wirtschafts­förder­er von Prem­nitz, studiert­er Betrieb­swis­senschafter und durch die Schule der Nationalen Volk­sarmee gegan­gen. Dass er nicht selb­st aus Prem­nitz stammt, empfind­et er als Vorteil.
Stam­pehl macht die Tour für Fir­men­vertreter, die nach gün­sti­gen Stan­dorten für Nieder­las­sun­gen suchen. Also fährt er über die Karl-Marx-Strasse ins Indus­triegelände, vor­bei an der ver­lasse­nen DDR Kindertagesstätte mit ihrem über­wucherten Spielplatz, angeschrieben mit «Kinder­stadt Neues Leben», vor­bei am Dampfrohr mit dem gesprayten Spruch «Prem­nitz muss ster­ben». Dann dreht er ab in Rich­tung der end­losen Kiefer­n­wälder, wo sich die neuen Unternehmen ange­siedelt haben, etwa die Adsor, Her­stel­lerin von Aktivkohle für High­tech-Anwen­dun­gen. Ein sen­sa­tionelles Pro­dukt, plus sechzig Arbeit­splätze. Und hier die Havel­ländis­che Zink-Druck­guss, auch sehr inno­v­a­tiv, höch­ste Präzi­sion, plus achtund­sechzig Arbeit­splätze. Und dort der Kun­st­stoff-Recy­cling­park, der das PET von Lidl und Aldi ver­ar­beit­et. Stam­pehl rech­net: «Ins­ge­samt haben wir jet­zt dreiund­vierzig Fir­men. Das ist bess­er als früher. Damals hat­ten wir nur das Kom­bi­nat, und als das ins Hus­ten kam, stand gle­ich alles auf dem Spiel. Sieben­tausend Arbeit­splätze! Wir sind durch ein tiefes Tal der Trä­nen gegan­gen, und ja, zwanzig Prozent sind immer noch arbeit­s­los, aber das heisst auch: Achtzig Prozent haben wieder zu tun! Wir sind wieder wer! Man muss, ver­dammt noch mal, ein­fach aktiv sein.»
Als Stam­pehl den Wagen wen­det, schiebt sich eine Indus­triebrache mit Unkraut vor die Wind­schutzscheibe. Hier gren­zte einst Fab­rikhalle an Fab­rikhalle, jede zehn­tausend Quadrat­meter groß, zwölf­tausend gar. Jet­zt herrscht Stille unter dem grauen Herbsthimmel.
Die Leere wird einzig durch­brochen von jenen let­zten Ruinen, bei denen man nicht weiß, wie es um die Schad­stoff­be­las­tung der Mauern ste­ht. Also rührt man sie nicht an. Tauben­schwärme kreisen um die Schlote, auf dem Asphalt liegen über­fahrene Igel: ein­er, zwei, drei. Wo sind die Men­schen, die hier einst arbeit­eten? Stam­pehl antwortet: «Wer flex­i­bel ist, der ist gegangen.»

«Märkische All­ge­meine», 21. Sep­tem­ber 2006: Nach den Wahler­fol­gen der NPD zeigten sich die Vertreter der etablierten Parteien bestürzt.
Doch zeit­gle­ich dro­ht in Bran­den­burg das «Net­zw­erk gegen rechts» zusam­men­zubrechen. Der Vere­in Opfer­per­spek­tive hat seinen Mitar­beit­ern zum 31. Dezem­ber gekündigt.

BEZÜGLICH RECHTSEXTREMER ANGRIFFE ste­ht Bran­den­burg in Deutsch­land an zweito­ber­ster Stelle. Eine Befra­gung von Wahlberechtigten aus dem Jahr 2005 leuchtet den Hin­ter­grund aus. Die Reak­tio­nen auf Fest­stel­lun­gen wie «Der Nation­al­sozial­is­mus hat­te auch seine guten Seit­en» oder «Es gibt wertvolles und unwertes Leben» zeigen, dass in Bran­den­burg rund ein Vier­tel der Bevölkerung die Ide­olo­gie der Naz­izeit befür­wortet. Ein Drit­tel der Befragten wün­scht sich sog­ar eine Dik­tatur zurück: «Wir soll­ten einen Führer haben, der Deutsch­land mit stark­er Hand regiert.» Eben­so viele vertreten eine frem­den­feindliche Hal­tung, obwohl der Aus­län­der­an­teil im gesamten Bun­des­land – exklusive
Asyl­suchen­der – nur 1,9 Prozent beträgt. Zusam­menge­fasst stellen die Befrager bei zwölf Prozent der Bevölkerung ein «recht­sex­tremes Poten­zial» fest, dop­pelt so häu­fig wie in der Hauptstadt.
Geschlechtsspez­i­fis­che Unter­schiede zeigen sich kaum; jedoch find­en sich recht­sex­treme Posi­tio­nen vor allem bei Schu­la­bgängern mit tiefem Bil­dungsniveau. Bei Jugendlichen ist das Poten­zial ver­gle­ich­sweise ger­ing, es ver­dop­pelt sich bei der näch­sten Alters­gruppe, den 25- bis 34-Jähri­gen, um schließlich bei Wäh­lern und Wäh­lerin­nen im Rentenal­ter das Max­i­mum zu erreichen.
Der Nach­wuchs Bran­den­burgs exeku­tiert, was ihm am Mit­tagstisch einget­richtert wird. Weshalb gibt es Recht­sex­trem­is­mus in Prem­nitz? Was ist sein Nährbo­den? Drei Antworten aus drei Perspektiven.
Der Maler­meis­ter: Jür­gen Rit­ter wohnt am Puschkin-Weg, in einem Ein­fam­i­lien­haus, das mit seinen dick­en Tep­pichen und Nuss­baum­mö­beln Wohl­stand ver­rät. 1949 war er aus der Lager­haft in Sibirien zurück­gekehrt, heiratete und eröffnete sein Geschäft.
Rit­ter sagt: «Sechzig Stun­den am Tag h&aum
l;tten wir vor der Wende arbeit­en kön­nen, so viel gab es zu tun. Die Jugendlichen hat­ten alle ihre Aus­bil­dung und ihren Arbeit­splatz. Wer trank, wurde vom VEB aufge­fan­gen. Einziger Nachteil von damals: Wir waren einges­per­rt. Heute ist alles anders. Die Jugendlichen wis­sen gar nicht, was machen. Da ist nur Leere und Verzwei­flung. Deshalb pla­nen sie Bran­dan­schläge – wie damals.» Seine Frau Simone fügt an: «Wir nah­men uns noch Zeit für unsere Kinder. Aber wenn schon die Eltern mit dem Leben nicht zurechtkom­men, wie sollen es dann die Kinder? Heute ist die Jugend traurig.»
Der Direk­tor: Michael Schön­berg ist auch am Sam­stag im Büro. Seinen Betrieb, die Havel­ländis­che Zink-Druck­guss GmbH, hat er nach der Wende aufge­baut; für einen Ostler eine schwierige Sache, bemerkt er. Schön­berg ist ein Men­sch, der gerne lacht. In sein­er Freizeit engagiert er sich in der Jugen­dar­beit: «Das The­ma Recht­sex­trem­is­mus wird aufge­bauscht. Bei unserem let­zten Sied­lungs­fest kam die Polizei mit fünf Ein­satz­fahrzeu­gen wegen ein­er blu­ten­den Nase. Das ist völ­lig über­trieben, das sind doch alles Bagatellen. Dabei gibt es Grund für den Ärg­er. Die Neger, die hier ankom­men, erhal­ten sofort Geld. Der Aus­län­der wird auf dem Tablett getra­gen. Es gibt keine Gle­ich­berech­ti­gung. Die Deutschen ver­suchen sich gegen dieses über­triebene soziale Engage­ment zu wehren.» Genau so sei es, pflichtet eine Autoverkäuferin bei, die Schön­berg zu früh zu seinem näch­sten Ter­min bestellt hat: «Der Türke, unser Konkur­rent, kann sich erlauben, was für uns unmöglich ist. Ihm geht es hier bess­er als den Deutschen, weil er Aus­län­der ist. Was ist das für ein Land?»
Die Tex­tilin­ge­nieurin: Hilde­gard Seeger ist nur nach Prem­nitz gekom­men, weil sie aus ein­er als kap­i­tal­is­tisch gel­tenden Fam­i­lie stammt und deshalb hier­hin «eingewiesen» wurde, wie sie sagt. Sie ist in der Acryl­faser­forschung tätig und spielt Geige auf Konzertniveau.
Ihr Übungsraum befind­et sich im Kul­turhaus beim ein­sti­gen Tor II, das immer noch mit Möbeln aus der DDR-Zeit ein­gerichtet ist: «Die extremen Rich­tun­gen sind ganz gross­er Mist. Das wis­sen wir inzwis­chen doch. Hier bei uns ist die SA aufer­standen, die
Sturmabteilung der Nazis. Aber die gefährlichen Recht­sex­tremen sind nicht unsere Jugendlichen, son­dern die mit Hemd und Krawatte.
Diese Rat­ten­fänger kom­men alle aus dem West­en, alle. Sie erkan­nten das Vaku­um sofort. Wenn man den Ack­er nicht bestellt, dann wächst das Unkraut.»

«Der Tagesspiegel», 19. Sep­tem­ber 2006: Das Land Bran­den­burg stellt für die Biografie von No¨elMartin 5000 Euro bere­it. Am 16. Juni 1996 hat­ten Neon­azis den Schwarzen in seinem Auto ange­grif­f­en; sei­ther ist er vomHals abwärts gelähmt. Noel Mar­tin hat angekündigt, sich an seinem näch­sten Geburt­stag das Leben zu nehmen.

DIE GERÄUSCHE IN DER PREMNITZER NACHT stam­men von fal­l­en­den Kas­tanien, sie drin­gen aus der Bar Elfme­ter, und sie wer­den vom Wind erzeugt, der in die Rol­l­lä­den des Asia-Shops
gle­ich neben dem «Lin­den­hof» fährt. Die Läden wer­den jeden Abend herun­terge­lassen, seit die Scheiben einge­wor­fen wor­den sind. Irgend­wo startet ein Motor. In der Ferne fin­gert gelbes Licht über den reglosen Seespiegel, es kommt aus dem Jugendhaus.
Andreas und seine Fre­unde sind noch an der Arbeit. Sie haben die Möbel unter Plas­tic zusam­mengerückt und malen eine Land­schaft mit Pal­men an die Wand.
Die Welt hier ist größer gewor­den seit der Wende, die Heimat klein­er. Von den einst drei Schulen ist noch eine geöffnet. Zehn­tausend Ein­wohn­er hat­te der Ort früher, heute sind es noch achttausend.
Prem­nitz kämpft. Die ver­lasse­nen Häuser mit ihren toten Fen­stern wer­den abgeris­sen, Plat­ten­baut­en erhal­ten far­bige Balkone, und in das Umfeld des neuen Bahn­hofs hat die Ver­wal­tung 350 000 Euro investiert; nun gibt es hier sog­ar eine südliche Stim­mung ver­bre­i­t­ende Per­go­la, Eröff­nung war am 10. November.
Doch die neue Fröh­lichkeit ist wie Schminke, die die Trau­rigkeit im Gesicht des Clowns überdeckt.
Geblieben ist, wer sich in Prem­nitz begraben lassen will. Geblieben ist, wen die Zukun­ft vergessen hat. Und geblieben ist der Recht­sex­trem­is­mus: Die Wis­senschaft ver­mutet als Ursache eine Nach­wirkung der autoritären, weit­ge­hend vom Staat über­nomme­nen Erziehung der DDR-Zeit mit ihrem sehr hohen Anpas­sungs­druck bei gle­ichzeit­iger Aver­sion gegen alles Fremde. Das Ende des Staates hat ein Vaku­um hin­ter­lassen, das vom West­en wed­er materiell noch ideell genü­gend schnell aufge­füllt wer­den kon­nte, mit dem Ergeb­nis, dass die nie ganz vergessene Ide­olo­gie des Drit­ten Reich­es zur einzi­gen rasch greif­baren Ersat­zlö­sung wurde.
Zur Menge der Ori­en­tierungslosen gesellt sich die Flutwelle der Mod­ernisierungsver­lier­er. An ihnen ist die Wiedervere­ini­gung als eine Abfolge leer­er Ver­sprechen vor­beige­zo­gen. Je älter die Betrof­fe­nen, desto größer die Not. Die Verzwei­flung schlägt sich in einem sim­pli­fizierten Welt­bild mit ein­er entsprechend eindi­men­sion­alen Pro­jek­tion der Ver­ant­wor­tung nieder: Schuld an der Sit­u­a­tion ist, wer anders aussieht und anders denkt. Der Vol­lzug der Rache an den Verur­sach­ern wird dabei an die Jugend delegiert, die, überzeugt von ihrer eige­nen Min­der­w­er­tigkeit, jede Fähigkeit zur Empathie ver­liert und Anschläge von kaum vorstellbarer
Grausamkeit und Empfind­ungslosigkeit verübt.
Irgend­wo unter dem Plas­tic liegt auch die neue Hau­sor­d­nung des Jugend­haus­es. Nach dem ver­sucht­en Bran­dan­schlag im Som­mer let­zten Jahres ist sie geän­dert wor­den und besagt nun, dass «in Auswer­tung der Ereignisse vom 3. Juni» Hausver­bote aus­ge­sprochen wer­den kön­nen, und zwar gegen Per­so­n­en, die «per­ma­nent tätliche Auseinan­der­set­zun­gen haben und das Jugendzen­trum und sein Gelände als Rück­zugs­ge­bi­et anse­hen». Der Wisch macht
die Fre­unde rat­los. Regi­na bläst den Rauch an die Decke, Her­bert gäh­nt, Bernd und Andreas star­ren auf die Pal­men. Was soll das heißen? Was haben sie falsch gemacht? Wer genau ist da per­ma­nent gewalt­bere­it? Und: Ist es ihnen kün­ftig also ver­boten, in diesem Haus Schutz zu suchen, soll­ten die Faschos, die Recht­sex­tremen, die Neon­azis wieder mit Molo­tow­cock­tails am Ufer ste­hen wie im Vor­jahr? Falls ja, weshalb? Die Anklage der Staat­san­waltschaft gegen die Glatzen lautet auf Verabre­dung zum Mord.

Hin­weis: Namen und Umfeld der Per­so­n­en, die sich kri­tisch über Recht­sex­trem­is­mus äußern,
wur­den geändert. 

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