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Gedanken, die sie nicht loslassen

(MAZ/ORNIS, 29.12.05) Krautheim — Eine „Mauer des Schweigens“ umgab den Tod von Kajrat aus Kasach­stan. Doch schließlich gelang es, die Schuldigen zu über­führen und zu verurteilen. Reue hat Kajrats Mut­ter bei den Mördern ihres Sohnes nicht ent­deckt. Rais­sa Bate­sowa wird wohl in Deutsch­land bleiben – trotz allem. An einem neuen Wohnort ver­sucht sie, Abstand zu dem Geschehen vor drei Jahren zu find­en. Dominique John, Mitar­beit­er der Organ­i­sa­tion „Opfer­per­spek­tive“, hat Rais­sa Bate­sowa besucht und darüber in der Tageszeitung „Märkische All­ge­meine“ berichtet.

Zwei Fotos ste­hen auf dem Fernse­her, dazwis­chen ein Strauß kün­stliche Blu­men. Das eine Bild zeigt einen lächel­nden Jun­gen von acht Jahren in einem hellen Strick­pullover. Die groß gewach­sene Frau nimmt das Bild liebevoll in die Hände. “Das ist Kajrats Sohn”, sagt sie. Der Junge lebt bei seinen Großel­tern in Alma Ata in Kasach­stan. Sie nimmt das zweite Bild in die Hände. Es ist das Foto von Kajrat, ihres Sohnes, der 24-jährig in der Nähe von Witt­stock an den Fol­gen eines frem­den­feindlichen Angriffs ver­starb. Trä­nen sind Rais­sa in die Augen gestiegen. Mit einem Papier­taschen­tuch wis­cht sie die mit ein­er schnellen Bewe­gung weg.

Sie ist 47 Jahre. Geboren wurde sie in Alma Ata in Kasach­stan. Ihre Mut­ter ist deutschstäm­mig, ihr Vater war Kasache. Sie heiratete mit Anfang 20 und bekam zwei Söhne, Kajrat und Murat. Als sie nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 2001 entsch­ied, mit ihrer Mut­ter nach Deutsch­land umzusiedeln, fol­gten ihr die inzwis­chen erwach­se­nen Söhne. Der Fam­i­lie wurde eine Woh­nung in der Gemeinde Freyen­stein (Bun­des­land Bran­den­burg) zugeteilt. Ein halbes Jahr nach ihrer Ankun­ft, am 4. Mai 2002, wur­den Kajrat und ein Fre­und nach einem Diskothekenbe­such in Witt­stock von ein­er Gruppe junger Män­ner ange­grif­f­en. Es entwick­elte sich ein Stre­it, in dessen Ver­lauf die bei­den rus­sisch-deutschen Män­ner zu Boden geschla­gen und getreten wur­den. Ein­er der Angreifer nahm einen großen Feld­stein und schleud­erte ihn auf den bewusst­los am Boden liegen­den Kajrat. Am 23. Mai erlag er im Kranken­haus seinen schw­eren inneren Verletzungen.

Hätte Rais­sa Bate­sowa entschei­den kön­nen, wäre sie von Kasach­stan direkt nach Krautheim gezo­gen. Hier, im Nor­dosten Baden-Würt­tem­bergs, leben Ver­wandte und Fre­unde. Da die Fam­i­lie unter das Wohnortzuweisungs­ge­setz fiel, kam sie nach Bran­den­burg. Nach dem Tod ihres Sohnes zeigten sich die Behör­den nachgiebig und ermöglicht­en einen schnellen Umzug.

Heute bewohnt Frau Bate­sowa mit ihrer bet­tlä­gri­gen Mut­ter und ihrem zweit­en Sohn, dem 22-jähri­gen Murat, eine Zweiein­halb-Zim­mer-Woh­nung mit ein­er kleinen Ter­rasse. Wenn die Sonne scheint, fährt sie die Mut­ter im Roll­stuhl nach draußen. Zwar wün­sche sie sich eine größere Woh­nung, aber als Hartz IV-Empfän­gerin könne sie sich das nicht leis­ten. Ihre Schwest­er lebt mit ihrer Fam­i­lie ein Stock­w­erk darüber. Die bei­den Frauen lösen sich bei der Pflege der Mut­ter ab.

Es ist ein Kom­men und Gehen in der kleinen Woh­nung. Murat macht sich fer­tig für die Arbeit. Er hat einen Job bei einem Fen­ster­bau­un­ternehmen gefun­den. Zwei Drit­tel der Kol­le­gen sind Rus­s­land­deutsche, sagt er, die Bezahlung sei unter Tarif. Über die Zeit in Bran­den­burg will Murat nicht reden. Eine Nichte kommt vor­bei. Die 16-Jährige schnappt sich zwei Piroggen und ver­schwindet. Frau Bate­sowa lacht. Sie brauche den Trubel, son­st kämen die Gedanken, die sie nicht loslassen.

Die “Mauer des Schweigens” im Prozess

Von Jan­u­ar bis März 2003 saß Rais­sa Bate­sowa den Män­nern, die ihren Sohn töteten, an 15 Prozessta­gen vor dem Landgericht Neu­rup­pin gegenüber. Mit zwei Recht­san­wältin­nen an ihrer Seite trat sie als Neben­klägerin auf. Sie wollte wis­sen, was in jen­er Nacht passiert ist. Sie weiß, dass es in der Diskothek zu mehreren Schlägereien gekom­men war. Immer sei jemand dazwis­chen gegan­gen. Aber als Kajrat Bate­sow und sein Fre­und Max­im K. ange­grif­f­en wur­den, sahen mehr als 20 Leute ein­fach zu. “Bleib endlich liegen, du Scheiß-Russe!”, soll ein­er der Angreifer gerufen haben. Ein Großteil der Umste­hen­den muss auch den tödlichen Stein­wurf beobachtet haben. Aber nur ein Anwohn­er, der zufäl­lig aus dem Fen­ster geblickt hat­te, war bere­it zu sagen, was passiert war. Mit stock­ender Stimme berichtete er, wie ein­er der Täter den schw­eren Stein über seinen Kopf gehoben und mit Wucht auf den am Boden Liegen­den habe fall­en lassen.

Von ein­er “Mauer des Schweigens” sprach der Staat­san­walt. Das Gericht dro­hte den jun­gen Män­nern und Frauen aus der Witt­stock­er Tech­no-Szene mit Strafen. Die Staat­san­waltschaft kündigte Fol­ge­prozesse wegen Meinei­ds und unter­lassen­er Hil­feleis­tung an. Der Steinew­er­fer kon­nte schließlich über­führt wer­den. Der 22-jährige Dachdeck­er­lehrling wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Drei weit­ere Täter, die Kajrat und Max­im bere­its vor dem Stein­wurf durch Schläge und Tritte schw­er ver­let­zt hat­ten, erhiel­ten Haft­strafen zwis­chen zweiein­halb und sieben Jahren. Ein fün­fter Angeklagter kam mit Bewährung davon.

“So bil­lig ist das Lügen vor Gericht”

“Sie haben keine Reue gezeigt”, kon­sta­tiert Rais­sa Bate­sowa, “und die vie­len Zeu­gen, die gel­o­gen haben!” Zornig zieht sie ein Schreiben der Staat­san­waltschaft Neu­rup­pin aus einem Schnell­hefter. Im Anschluss an den Prozess sei gegen 14 Zeu­gen ein Ver­fahren ein­geleit­et wor­den, heißt es darin. Ergeb­nisse lägen der Staat­san­waltschaft jedoch nur in elf Fällen vor. Gegen zwei Beschuldigte sei noch immer ein Ver­fahren anhängig. In vier Fällen wäre eine Geld­strafe ver­hängt, fünf weit­ere Ver­fahren seien bere­its eingestellt worden.

“So bil­lig ist das Lügen vor Gericht”. Die Gesicht­szüge der Frau sind hart gewor­den. “Dif­fuse Frem­den­feindlichkeit” sei das Motiv gewe­sen, zeigte sich das Gericht am Ende überzeugt. Für Frau Bate­sowa war der Tod ihres Sohnes das Ende ein­er Kette von Ereignis­sen, die sie schon viele Male durch­dacht und aufgezählt hat. Die Stim­mung in Freyen­stein und Witt­stock beschreibt sie als “feind­selig”. Kajrat und Murat seien von Jugendlichen mit Flaschen bewor­fen wor­den, als sie Kon­takt gesucht hat­ten. Die Nichte, damals war sie zwölf Jahre alt, sei jeden Tag weinend vom Gym­na­si­um nach Hause gekom­men. Schließlich war Frau Bate­sowa selb­st attack­iert wor­den. Ein Skin­head habe sie am hel­l­licht­en Tag auf dem Mark­t­platz in Witt­stock zu Boden gestoßen. Danach habe sie auf “unnötige Einkäufe ” verzichtet. “Ich dachte, wenn wir still hal­ten, passiert uns nichts — das war mein Fehler”, sagt sie heute.

In Krautheim fühlt sich Rais­sa Bate­sowa wohl. Seit einem Jahr arbeit­et die gel­ernte Krankenpflegerin ehre­namtlich als Seel­sorg­erin für ein rus­sis­chsprachiges Sor­gen­tele­fon. In der ländlichen Region zwis­chen Heil­bronn und Nürn­berg haben sich in den 90er Jahren viele Spä­taussiedler niederge­lassen. Die Arbeit­slosigkeit ist hoch. Am deut­lich­sten sicht­bar ist die schwierige Sit­u­a­tion im Neubauge­bi­et Taläck­er im 20 Kilo­me­ter ent­fer­n­ten Künzel­sau. Über zwei Drit­tel der Bevölkerung von Taläck­er, das auf ein­er Anhöhe liegt und durch eine Seil­bahn mit der Innen­stadt ver­bun­den ist, sind Rus­s­land­deutsche. “Russen­buck­el” wird das Vier­tel verächtlich genan­nt. Auch in Krautheim gibt es Kon­flik­te zwis­chen der alteinge­sesse­nen Bevölkerung und den Zuge­zo­ge­nen. “Aber ich muss hier keine Angst auf der Straße haben”, sagt Rais­sa Batesowa.

Ob sie ihr ganzes Leben in Deutsch­land ver­brin­gen will? Rais­sa Bate­sowa blickt ernst. Ihr zweit­er Sohn Murat brauche eine Zukun­ft, sagt sie. Und sie wolle sich um ihren Enkel küm­mern. Der Sohn von Kajrat Bate­sow lebt in Kasach­stan, bei den Gro
ßel­tern. Die beantragte Halb­waisen­rente wurde vom zuständi­gen Ord­nungsamt in Cot­tbus abgelehnt. Der Junge gilt nicht als deutsch­er Staats­bürg­er, weil er nicht mit seinem Vater ein­gereist war. Frau Bate­sowa spart von ihren gerin­gen Einkün­ften etwas, um das Kind zu unterstützen.

Sie nimmt sein Bild vom Fernse­her und blickt nach­den­klich. “Er hat die Augen von Kajrat.” Vielle­icht holt sie ihn nach Deutsch­land. Sie zögert, dann stellt sie das Foto zurück auf seinen Platz, neben das Bild des Vaters.

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