In der Nacht zum 28. März 2018 gedachten Antifaschist*innen in Frankfurt (Oder) dem Punk Enrico Schreiber, der vor fünzehn Jahren von Neonazis in seiner Wohnung ausgeraubt und getötet wurde. An diversen Plätzen wurden Kerzen und Flyer angebracht:
Wir wollen nicht vergessen — Mord durch Neonazis in Frankfurt (Oder)
Heute vor 15 Jahren wurde Enrico “Punki” Schreiber von drei stadtbekannten Neonazis ermordet. Sie waren zuvor in die Wohnung seines Freundes eingebrochen, wo sie ihn überraschten. Danach haben sie ihn gefoltert, beraubt, verletzt und dann sterbend zurückgelassen. Zwar wurden die Täter zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, ihr menschenverachtendes Weltbild soll allerdings bei der Tat keine Rolle gespielt haben. Folgerichtig wurde der Mord staatlicherseits nicht als Verbrechen durch Neonazis eingestuft. Antirassistische Initiativen und Unterstützer*innen der Betroffene von Neonazigewalt beurteilen den Fall anders, für sie stellt die rechtsradikale Weltsicht der Angreifer eine entscheidende Voraussetzung für die schreckliche Tat dar. Tatsächlich wird die offizielle Einstufung als Raubmord dadurch unglaubwürdig, dass die Täter einen Menschen stundenlang verprügelten und folterten, den sie als “Punker” und “Asozialen” betrachteten.
Immer wieder kommt es zu Angriffen auf Menschen durch Neonazis, die von diesen als unproduktiv, faul und nutzlos angesehen werden. Obdachlose, Punks und Alkoholkranke werden von Faschisten als minderwertig angesehen und ausgegrenzt, angegriffen und sogar ermordet. Die Vorstellung, der Wert eines menschlichen Lebens würde sich an dessen Arbeitsleistung definieren, ist allerdings bis wein in den Mainstream hinein verbreitet. Neonazistische Angriffe stehen in diesem Sinne nicht gegen dominierende gesellschaftliche Trends, sondern befinden sich eher im Fahrwasser der kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Zumindest zum Teil können sich Neofaschisten so als Vollstrecker des Mehrheitswillens fühlen, wenn sie vermeintlich “unproduktive” oder “leistungsschwache” Menschen angreifen. Einem solchen Denken gilt es sich entschlossen entgegenzustellen, egal ob Menschen verbal abgewertet oder körperlich angegriffen werden.
In Frankfurts jüngster Geschichte ist rechten und neonazistisches Denken und Handeln leider eine Konstante. Anfang der Neunziger Jahre sind die ersten polnischen Reisebusse aus einer rassistischen Gruppe heraus mit Steinen beworfen worden. Neonazis verabredeten sich, um gewalttätige Angriffe auf Menschen aus Polen durchzuführen. Punks, Obdachlose und Antifaschist*innen gehörten zum Feindbild der Neonazis und wurden regelmäßig brutal angegriffen. Dem Mord an Punki folgte ein Jahr darauf ein Angriff von acht Neonazis auf einen Asylbewerber, den dieser nur mit Glück überlebte, nachdem er tagelang im Koma gelegen hatte. Im Spätsommer 2004 entführten Neofaschisten einen alkoholkranken Menschen, folterten und vergewaltigten ihn stundenlang in einer Wohnung in Neuberesienchen. Diese Angriffe schockierten die städtische Öffentlichkeit und führten zu großen und entschlossen antifaschistischen Demonstrationen. An der Dauerpräsenz neonazistischer Symbolik im Stadtbild und der latenten Gefahr rechter Angriffe konnten auch sie allerdings nicht viel ändern.
In den folgenden Jahren gab es vielfältige Neonaziaktionen. Im Umfeld des Frankfurter Fußballvereins bildete sich eine große und angriffslustige rechte Hooliganszene. Diese wurde von neonazistischen Aktivisten aus dem Umfeld der freien Kameradschaftsbewegungen zu politisieren versucht. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Übergriffen durch Leute aus dem Umfeld, besonders gehäuft im Rahmen von Fußballwelt- und Europameisterschaften, bei denen vielfach nicht-deutsche Fans attackiert worden sind.
In der jüngsten Vergangenheit machte die rassistische Gruppe “Frankfurt (Oder) wehrt sich” Stimmung gegen ein Klima von Solidarität und Willkommenskultur. Den von dieser Gruppe organisierten Aufmärschen stellten sich immer wieder Menschen entgegen, die damit sowohl symbolisch, als auch praktisch die Stadt nicht rassistischen und neonazistischen Akteuren überlassen haben. Auch wenn eine starke und gewalttätige Neonaziszene in Frankfurt seit der Wende zum Stadtbild gehört, es gab auch immer eine Tradition des Widerstandes gegen solche rassistischen und menschenverachtende Werte und Taten. So ist es aktiven Antifaschist*innen und ihrem Engagement zu verdanken, dass die Situation nicht noch schlimmer ist. Von Seiten der Stadt und vieler Menschen wird das Problem allerdings bis heute kaum ausreichend ernst genommen und oftmals leider auch verharmlost. Dabei spielen die Imagegründe eine Rolle: Nichts soll unternommen werden, was dem Wirtschaftsstandort schaden und eventuelle Investoren abschrecken könnte. Passt es doch, sind Amtsträger*innen und Autoritäten oft schnell dabei, die Probleme mit Rassismus und Nazigewalt kleinzureden und zu verharmlosen. Auch das Morde als “unpolitisch” klassifiziert werden, ist Teil einer solchen Strategie der Verharmlosung und Verblendung.
Auch wenn nach zahlreichen erfolgreichen antifaschistischen Gegenmobilisierungen derzeit keine rechten Aufmärsche stattfinden, werden regelmäßig Leute aus rassistischen und sozialdarwinistischen Motiven beleidigt und angegriffen. Für uns steht fest, dass wir nicht wegschauen oder schweigen wollen, wenn Freund*innen und Mitmenschen von Neonazis erniedrigt und angegriffen werden. Geflüchtete und Menschen, die Hilfe brauchen, anzugreifen, ist feige und manifestiert ein politisch-wirtschaftliches System, für das Kapitalverwertung die oberste Maxime ist. Diese an Kapitalinteressen orientierte Politik führt zu globaler sozialer Ungerechtigkeit, Leitungszwang und Armut. Daran trägt kein Flüchtling und kein Obdachloser Schuld, sondern das politische und wirtschaftliche System. Deutlicher sozialpolitischer Ausdruck dieser Agenda was die Durchführung der Hartz‑4 genannten Arbeitsmarktreform, die die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektor ermöglichten, von dem die deutsche Wirtschaft bis heute sehr profitiert. Die menschlichen Folgen für die Gesellschaft, etwa die massenhafte Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung, werden heute kaum noch im politischen Mainstream diskutiert. Wer nach unten tritt und andere ausgrenzt, beteiligt sich damit am Erhalt des Bestehenden.
Wir stellen uns gegen Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Herrschaft produzierendes politisches und wirtschaftliches System und stehen dafür ein, in einer positiven Weise Perspektiven für ein besseres Leben für alle Menschen zu erkunden. Solange Rassisten und Neonazis ihre menschenverachtende Propaganda auf die Straße tragen, werden wir uns Ihnen in den Weg stellen. Seid auch ihr dabei, mischt euch ein wenn ihr mitbekommt, dass Leute aus rassistischen, homophoben, sexistischen, antisemitischen und anderen Gründen angemacht oder angegriffen werden. Zeigt Empathie und solidarisiert euch mit den Betroffenen!
Für eine solidarische Gesellschaft und ein schönes Leben für alle!
Weitere Informationen zum Mord an Enrico “Punki” Schreiber:
www.opferpespektive.de / www.todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de
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