Liebe Aktive im Landkreis und darüber hinaus,
wir freuen uns, Ihnen und Euch die Auswertung der Chronik 2022 präsentieren zu dürfen!
Die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland (BOrG) dokumentiert jedes Jahr rechte Vorfälle im Landkreis, informiert zu extrem rechten Erscheinungsformen und bietet eine Erstberatung für (potenziell) Betroffene rechter Gewalt an. Die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland (BOrG) wurde 2002 von Mitgliedern des Alternativen Jugendprojektes 1260 e. V. in Strausberg gegründet.
Das Kernstück unser Chronik ist die Auswertung der dokumentierten Vorfälle des Jahres 2022. Die Anzahl der Vorfälle ist zwar im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen, die Zahl der Angriffe ist jedoch mit acht Taten gleich hoch geblieben. Die Auswertung, die gesammelten Vorfälle, sowie weitere Hintergrundberichte haben wir in einer Broschüre veröffentlicht, die hier heruntergeladen oder unter ag-borg@horte-srb.de bestellt werden kann.
Neben der Chronik-Auswertung haben wir einen Artikel der auf die Funktion und Wirkung rechter Propaganda im öffentlichen Raum eingeht. Gedenkarbeit an die Todesopfer rechter Gewalt ist ein zentrales Thema der BOrG und erhält so auch Platz in dieser Broschüre. Ein weiterer Artikel widmet sich rechten Veranstaltungen, die einen hohen Anteil an Vorfällen in der Region ausmachen. Zu guter Letzt gehen wir auf rechte Kontinuitäten ein.
Weiterhin hohes Niveau an rechten Vorfällen im Landkreis
Im Jahr 2022 hat die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt insgesamt 193 rechte Vorfälle registriert, davon acht Angriffe. Sechs der acht registrierten Angriffe waren rassistisch motiviert. Damit bleibt die Zahl der Angriffe im Vergleich zum Vorjahr gleich hoch. Viele der Angriffe passieren in vermeintlichen Alltagssituationen, am Bus oder beim Einkaufen. Die meisten von uns registrierten Vorfälle machen Propagandavorfälle aus, mit insgesamt 81 Stück über das Jahr hinweg. Im Vergleich zum Vorjahr 2021 ist die Anzahl von uns registrierter Vorfälle im Jahr 2022 leicht gesunken. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 haben wir 230 rechte Vorfälle aufgenommen, im Jahr 2022 hingegen 193. Auch wenn die Zahl der Vorfälle gesunken ist, bleibt die Anzahl immer noch hoch. Im direkten Vergleich der beiden Jahre wird auch deutlich, woher die Verringerung der registrierten Vorfälle kommt. Im Jahr 2021 führte die AfD auf dem Marktplatz in Wriezen wöchentlich eine Kundgebung durch, die sich anfangs gegen die Corona-Maßnahmen richtete, aber bald das ganze inhaltliche Repertoire der AfD abbildete – von Rassismus bis plumper Hetze gegen “die da oben”. Diese Kundgebungen liefen im Frühjahr aus. Die Differenz in der Anzahl der Vorfälle zwischen 2021 und 2022 hängt mit dem Ausbleiben der AfD-Kundgebungen in Wriezen zusammen. Zwar ist es erfreulich, dass die AfD diesen öffentlichen Raum nicht mehr besetzt, es bedeutet aber auch, dass die Vorfallszahlen, zieht man die die AfD-Kundgebungen in Wriezen ab, in beiden Jahren ähnlich hoch ist. Wie auch jedes Jahr gilt auch bei dieser Chronik, dass die Dunkelziffer weit höher liegen dürfte, da insbesondere mit Blick auf die räumliche Verteilung klar wird, wo wir eine gute Datenlage haben und wo es Leerstellen gibt.
Dokumentation und Auswertung
Die Chronik dokumentiert Aktivitäten mit einem rechten, politisch-motivierten Hintergrund in Märkisch-Oderland, von Stickern bis zu Angriffen. Dabei konzentrieren wir uns auf den realen Raum. Sogenannte Hate Speech oder Bedrohungen im Internet werden von uns nicht registriert. Wir nutzen verschiedene Quellen. Die meisten dokumentierten Vorfälle sind Meldungen an uns durch engagierte Einzelpersonen. Darüber hinaus stellen wir die Chronik aber auch aus Daten von Polizeimeldungen, Landtags- und Bundestagsanfragen, antifaschistischen Recherchen und Zeitungsartikeln zusammen. In der vorliegenden Auswertung haben wir die Vorfälle verschiedenen Vorfallsarten zugeordnet: Angriffe (Körperverletzungen, massive Bedrohungen oder zielgerichtete Sachbeschädigungen), Pöbeleien/Beleidigungen/Bedrohungen, Propaganda (Sticker, Plakate, Flyerverteilungen, zum Teil auch Parolen), Sachbeschädigungen (neben Zerstörungen nehmen wir hier auch Schmierereien auf), Veranstaltungen (Kundgebungen, Konzerte, Stammtische und Gesprächsrunden) und Sonstiges (hier Listen wir Vorfälle, die nicht genau einer Vorfallsart zuzuordnen sind). Neben dieser Zuordnung kategorisieren wir die Vorfälle nach Inhalt, sprich welches rechte Ideologieelement sich ihnen ihnen ausdrückt, oder gegen wen sich die Vorfälle richten. Rassismus, Antisemitismus, LGBTIQ*-Feindlichkeit oder Homophobie, sowie gegen politische Gegner*innen gerichtete Vorfälle und Sozialchauvinismus, also die Abwertung von und Feindseligkeit gegenüber sozial Schwächeren, sind jeweils eigene inhaltliche Kategorien, die die klassischen Dimensionen extrem rechter Ideologie darstellen.
Darüber hinaus haben wir drei weitere Kategorien: Verharmlosung oder Verherrlichung des Nationalsozialismus, worunter wir auch Vorfälle einordnen, die sich Symbolen des NS bedienen oder deren Legalisierung fordern, sowie Vorfälle, in denen NS-Verbrechen geleugnet oder verharmlost werden, bspw. indem heutige Politik mit dem NS gleichgesetzt oder verglichen wird. Auch nehmen wir Verschwörungsideologien als inhaltliche Kategorie auf. Verschwörungsideologien bedienen sich oft antisemitischer Stereotype, um nicht rationale und einfache Lösungen für komplexe Probleme zu finden, bspw. die Annahme eines Austauschs der Bevölkerung durch eine geheime Elite ist. Verschwörungsideologien sind im Kern immer demokratiefeindlich. Schlussendlich haben wir die inhaltliche Kategorie Rechte Selbstdarstellung, also die Werbung rechter Gruppen für sich und ihre Anliegen. Dabei lässt sich nicht immer eine klare inhaltliche Abgrenzung treffen. Insbesondere die letzte Kategorie beinhaltet stets auch rassistische, antisemitische und sexistische Dimensionen, weil dies der Kern rechter Ideologie ist. Außerdem sind rechte Vorfälle für Menschen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft Sexualität oder alternativen Aussehens (potenziell) von rechter Gewalt betroffen sind, immer auch bedrohend. Das Wissen über die Anwesenheit von rechten Personen, bspw. weil sich an einem Ort viele rechte Sticker finden, kann eine bedrohliche Wirkung haben und diejenigen, die die rechten Codes lesen können oder von Rechten adressiert werden, verunsichern.
Rechte Raummarkierung
Propagandavorfälle sind wie in den Vorjahren eine der meisten Vorfallsarten – im Jahr 2022 waren sie sogar die häufigste Vorfallsart im Landkreis. Mit 81 Stück machen sie fast die Hälfte aller Vorfälle aus. Wie oben beschrieben reicht das Spektrum von dem Kleben von rechten Stickern bis zum Verteilen von Flyern. Im Gegensatz zum Vorjahr waren Flyerverteilaktionen jedoch weniger häufig und wurden von uns lediglich dreimal registriert. Zweimal durch die AfD und einmal durch die Kleinstpartei „Die Rechte“. Dies hängt auch damit zusammen, dass im Jahr 2021 Wahlkampf war und rechte Parteien dadurch mehr mit solchen Aktionen in Erscheinung getreten sind. Der III. Weg, welcher im Vorjahr massiv in der Region aufgetreten ist, war weiterhin durch vielfältige Sticker im Landkreis sichtbar. Vor allem in Strausberg und der übrigen S5-Region wurden ab der zweiten Jahreshälfte massiv Sticker vom rechten Onlineversand und Aktionsblog „AktivkleberDE“ verklebt. Auffallend ist hier die dargestellte Hooligan-Manier auf den Stickern (siehe entsprechender Artikel), aber auch die Feindbildmarkierung queerer Menschen. Nicht immer, aber sehr oft werden rechte Sticker geklebt, um ein Gebiet bzw. Revier abzustecken und die eigene Präsenz deutlich zu machen. So fanden sich immer wieder viele Sticker am Sport- und Erholungspark in Strausberg Vorstadt, der als Treffpunkt für Jugendliche und so auch rechte Jugendcliquen dient. Gezielte Aktionen, wo mehrere Personen Strecken oder Gebiete ablaufen und Sticker verkleben, kommen genauso vor wie vereinzelte Sticker.
Mehr Beleidigungen und Bedrohungen
Erschreckend ist die Zunahme von Pöbeleien, Beleidigungen und Bedrohungen, die auf 38 Vorfälle im Jahr 2022 gestiegen sind (Vergleich: 19 im Jahr 2021). Damit sind Pöbeleien und Bedrohungen die zweithäufigste Vorfallsart im Landkreis. Die meisten richten sich dabei gegen politische Gegner*innen. Viele dieser Vorfälle werden uns gemeldet, weil die Beratungsstelle an das alternative Jugendzentrum Horte und den dazugehörigen Verein angedockt ist. Damit haben wir Kontakt mit vielen der Betroffenen und ein gutes Bild davon, wie hoch die Zahlen in der S5-Region sind. Allerdings sind wir sicher, dass viele solcher Vorfälle auch in anderen Regionen Märkisch-Oderlands erfolgen, die wir nicht registrieren. Besonders rassistische Beleidigungen werden in der Realität deutlich öfter vorkommen, als hier abgebildet. Fehlende Unterstützungen, Hilflosigkeit, aber auch die Alltäglichkeit führen dazu, dass viele Betroffene diese Vorfälle nicht melden, weder bei uns oder anderen Beratungsstellen noch bei der Polizei. Eine besonders schwerwiegende Bedrohung ereignete sich Ende Mai in Podelzig. Hier wurde eine Kirchenruine beschädigt, NS-Symbole gesprüht und ein antisemitisches Bedrohungsschreiben hinterlassen.
Abgenommen haben hingegen rechte Veranstaltungen im Vergleich zum Vorjahr. Im Jahr 2022 fanden insgesamt 25 Veranstaltungen im Landkreis statt. Wie oben schon beschrieben, fanden ab dem Frühjahr 2022 keine wöchentlichen AfD-Kundgebungen mehr in Wriezen statt. Dies und der fehlende Wahlkampf haben zu einer deutlichen Abnahme rechter Veranstaltungen in der Region geführt. Die AfD ist weiterhin der rechte Akteur, der die meisten rechten Veranstaltungen im Landkreis durchführt. Lediglich sieben der insgesamt 25 Veranstaltungen sind nicht der AfD zuzurechnen. Wie auch in den letzten Jahren hat die AfD einige Veranstaltungen im Restaurant „Mittelpunkt der Erde“ im Hoppegartener Ortsteil Hönow unweit der Berliner Landesgrenze durchgeführt. Hier traten mehrfach hohe Führungsfiguren AfD und der sogenannten neuen Rechten wie Jürgen Elsässer, der Chefredakteur des rechten „Compact-Magazins“, auf. Hervorzuheben ist eine Veranstaltung vom 10. Oktober 2023, die vom Flügel-Nachfolger „Idearium“ organisiert wurde. Neben Björn Höcke waren führende Flügelmitglieder aus Berlin und Brandenburg anwesend. Dies zeigt, welche wichtige rechte Infrastruktur der „Mittelpunkt der Erde“ bildet und wie stark der Flügel und seine Akteur*innen in der Region verankert sind. An dieser Stelle sind noch zwei weitere Veranstaltungen hervorzuheben, die einige Brisanz haben. Am 2. August veranstaltete die rockerähnliche Bruderschaft „Odins Raben“ ein Konzert auf ihrem Areal in Müncheberg. Dieses Konzert wurde als Rechtsrockkonzert eingestuft. Auch haben die „Vandalen – ariogermanische Kampfgemeinschaft“, eine der ältesten Neonazigruppierungen Berlins, am 24. September ihr 40. Jubiläum in Altlandsberg gefeiert.
Auch in diesem Jahr gab es wieder ein vielfältiges Protestgeschehen im Landkreis. Zu Beginn des Jahres maßgeblich getrieben um die Debatte zur Impfpflicht, wandelte sich dieses im Verlauf des Jahres durch den russischen Angriffskrieg und die Folgen der verhängten Sanktionen. Diese Veranstaltungen haben wir nicht pauschal aufgenommen, da diese nicht explizit von Rechten organisiert wurden und auch die Außenwirkung sehr heterogen war. Besorgniserregend bleibt aber zum einen, wie unbehelligt auch organisierte Neonazis an solchen Veranstaltungen teilnehmen können und zum anderen, wie nahe die Organisator*innen rechten Kadern stehen. Bei einzelnen Veranstaltungen kam es auch zu rechten Vorfällen, die wir aufgenommen haben, bspw. im Januar in Strausberg, als bei einem sog. Spaziergang Neonazis Personen am Rand bedrohten. Oder im September in Seelow, als eine Flagge der rechten Landvolkbewegung auf einer Demo gezeigt wurde.
Zunahme an geschmierten Hakenkreuzen
Im Jahr 2022 haben wir 19 geschmierte Hakenkreuze aufgenommen, dies sind acht mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Hakenkreuzschmierereien machen damit einen Großteil der 25 Sachbeschädigungen aus. Das Hakenkreuz ist das eindeutigste Symbol nationalsozialistischer Ideologie und steht für alle Verbrechen der NS-Zeit. Das Schmieren der Symbolik drückt eindeutige Sympathie mit dem NS-Regime und seiner Vernichtungspolitik aus. Jenseits der Schmierereien haben wir unter Sachbeschädigungen die Zerstörung einer Gedenkstätte durch Neonazis aus der Division MOL bzw. mittlerweile III. Weg am 30. April aufgenommen, sowie die Schändung einer Ausstellung über das Judentum am Theodor-Fontane-Gymnasium. Neben dem Vorfall am Theodor-Fontane-Gymnasium ereigneten sich 17 weitere antisemitische Vorfälle im Landkreis, von denen wir wissen. Damit ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle gestiegen (2021: zehn Vorfälle). Auch dies hängt mit einer stärkeren Präsenz des III. Wegs zusammen.
Zusätzlich zu dem bisher genannten sind 16 Vorfälle keiner Vorfallsart zuzuordnen und deswegen als Sonstiges gelistet. Über diese Vorfälle liegen zu wenig Daten vor, um sie direkt einzuordnen, bspw. wenn aus einer Landtagsanfrage lediglich hervorgeht, dass die Polizei aufgrund einer antisemitischen Volksverhetzung ermittelt. Dies könnte eine Bedrohung oder auch Propaganda sein.