Heute versammelten sich etwa 20 junge AntifaschistInnen am „Platz der Einheit“ in
Potsdam, um der Progrome gegen die jüdische Bevölkerung im Jahr 1938 zu gedenken,
aber auch, um an die Novemberrevolution 1918 zu erinnern. Im Anschluß an das
Verlesen der Rede wurden am Mahnmal und am Ort der alten Synagoge Blumen
niedergelegt. Anschließend wurden einige Flugblätter mit dem folgenden Inhalt in der
Potsdamer Innenstadt verteilt:
Reichskristallnacht – ein beschönigender Begriff für die Geschehnisse, die sich vor
exakt 68 Jahren in der Nacht vom 9. zum 10. November in ganz Deutschland und
Österreich ereigneten
“’Kristallnacht’! Das funkelt, blitzt und glitzert wie bei einem Fest! Es wäre
längst Zeit, daß diese böswillig-verharmlosende Bezeichnung zumindest aus der
Geschichtsschreibung verschwände.” schrieb Avraham Barkai
Doch genau so steht die gewaltsame Zerstörung von Leben und Eigentum der Anhänger
des jüdischen Glaubenbekenntnisses noch heute in vielen Geschichtsbüchern.
In dieser Nacht wurden über 400 Menschen ermordet und in den Tod getrieben,
sämtliche 1400 Synagogen im sogenannten ´Deutschen Reich´ verbrannten und mehr als
8000 Geschäfte wurden zerstört. Mindestens 30´000 JüdInnen wurden in
Konzentrationslager deportiert. Wie viele von ihnen überlebten ist unsicher — Der
Tod war Sinn und Zweck dieser industriellen Menschenvernichtung. In grenzenlosem
Zynismus ordnete das Naziregime die „Wiedergutmachung der öffentlichen Schäden“
durch die Opfer selbst an. Eine Milliarde Reichsmark.
Die Novemberpogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung der deutschen
JüdInnen zur systematischen Verfolgung. Die von der Regierung organisierten
Verbrechen wurden durch alle Teile des Regierungsapparates und breiteste Teile der
Bevölkerung mitgetragen und bejubelt. So ist in einer geheimen Dienstanweisung der
Geheimen Staatspolizei zu lesen:
1. Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden
stattfinden. Sie sind nicht zu stören.
2. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20´000 bis 30´000 Juden im Reiche. Es
sind auszuwählen vor allem vermögende Juden.
Die Medien titelten „Der gerechte Volkszorn hat gesprochen“.
Das alles kommt uns in unserer demokratischen Überlegenheit so weit entfernt vor,
dass für zahlreiche Menschen eine Wiederholung solcher oder ähnlicher Verhältnisse
unmöglich scheint. Indes verkommt der notwendige Erinnerungsprozess zu einem Ritual.
Er wird jedes Jahr pünktlich zu denkwürdigen Jahrestagen in Form von politischer
Heuchelei abgeleistet.
Reden zu starker Demokratie als Waffe gegen den Faschismus und Rechtsextremismus
werden geschwungen. Mehr zivilgesellschaftliches Engagement wird eingefordert, wobei
gleichzeitig eine Kriminalisierung der ernsthaften Auseinandersetzung mit dieser
Thematik stattfindet.
Antifaschismus ist notwendig!
All diese Reden über Verantwortung und Anteilnahme sind nur Lippenbekenntnisse.
Nicht anders können wir uns zum Beispiel den seit über 2 Jahren andauernden Konflikt
um die Ausstellung zu den NS-Kinderdeportationen erklären. In dem Konflikt zwischen
der Initiative „Elftausend Kinder“ und der Deutschen Bahn AG geht es um die
Erlaubnis, eben diese Form des Gedenkens an die Todeszüge der Reichsbahn auf
deutschen Bahnhöfen sichtbar zu machen.
Wir sehen die DB AG als Nachfolgeunternehmen in der Pflicht zur Unterstützung dieses
Anliegens.
Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Seit Jahren wird die Ausstellung von der DB unter
Hinweisen auf die sicherheitstechnische Gefährdung der Bahnhöfe sabotiert. Die
ebenso in Frankreich stattfindende Ausstellung konnte auf die Zusammenarbeit mit den
dortigen BahnhofsbetreiberInnen zählen und ihr Anliegen ohne Hindernisse in den
Alltag der Menschen tragen.
Bis zum heutigen Tage bleiben die deutschen Bahnhöfe für eine Erinnerung an das
Leiden der Millionen Jüdinnen und Juden versperrt. Sollte ein Einsatz von Polizei
gegen die Demonstranten dieser Ausstellung nicht nachdenklich stimmen? (Dies geschah
bereits in Weimar.)
Was bringt eine Kultur der Erinnerung, wenn die Erinnerung selbst dabei zum
heuchlerischen Ritual verkommt?
Taten statt Worte! Das ist das mindeste, was wir von unseren Mitmenschen fordern.
Ein stetiges Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit ist die Vorraussetzung für das
Vermeiden eben dieser in Gegenwart und Zukunft. In der derzeit gelebten sog.
„Erinnerungskultur“ suchen wir vergeblich nach Gewissen und kritischem Bewusstsein.
Solange unternehmerischen Interessen größere Geltung beigemessen wird als der
Geschichte und Verantwortung, sehen wir keinen angemessenen Umgang mit der
Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland.
Um an diesem Tage nicht nur mahnend den Zeigefinger zu heben, möchten wir auch auf
durchaus positive Errungenschaften aufmerksam machen. So sehen wir die
Novemberrevolution aus dem Jahre 1918 in einer Tradition der politischen
Emanzipation. Verknüpft mit dem heutigen Datum sind die Matrosenaufstände in Kiel,
welche in ihrer Konsequenz das ganze Kaiserreich erfassten und schließlich den
Kaiser zur Abdankung zwangen.
Die alten vorkapitalistischen Eliten trieben bei breitem Anklang in der Bevölkerung
auf den ersten Großen Krieg der Weltgeschichte hin. Der mit 9 Millionen Toten nur
vom II. Weltkrieg übertroffene I. Weltkrieg brachte das „Deutsche Kaiserreich“ bis
an den Rand seiner Leistungsfähigkeit.
Der bedingungslose Gehorsam gegenüber der monarchischen Führung versagte
letztendlich und es kam zur Erhebung.
Zweifelsohne: hätte diese Erhebung schon früher stattgefunden, so hätten viele
Menschenleben gerettet werden.
In der Folge der revolutionären Ereignisse kam es zu einer enormen Umgestaltung der
Machtverhältnisse im Innern des noch immer auf Hierarchien basierenden Reiches. Die
Mehrheitlichen Sozialdemokraten standen von nun an der Spitze des Staates. Sie
schworen nun auch ihren letzten Idealen ab und setzten die reaktionären Freikorps
gegen ihre ehemaligen MitstreiterInnen ein. ArbeiterInnen gegen ArbeiterInnen.
Dennoch setzte sich zum Beispiel am 7. April 1919 die Münchener Räterepublik gegen
die parlamentarische Demokratie durch. Und trotz ihres kurzen Bestandes bis zum
2.Mai desselben Jahres fassen wir diese Entwicklung noch in der heutigen Wertung als
fortschrittlich auf.
Die gewalttätigen Niederschlagungen neu entstandener Zentren politischer
Selbstverwaltung und Eigenverantwortlichkeit stellen den großen Verrat der
Sozialdemokratie an sich selbst dar.
Dieser Selbstverrat zeitigt noch bis zum heutigen Tage seine Wirkung – hat doch die
unter dem Namen SPD firmierende Partei keinerlei Anspruch auf den Inhalt ihres
Titels.
Denjenigen GenossInnen, denen der Absprung noch vor dem Verrat der
ArbeiterInneninteressen gelang, gilt unser Respekt.
Denjenigen, die auch unter den erschwerten Bedingungen weiter in den Reihen des
Spartakusbundes, der USPD oder anderen progressiven Bewegungen für die gerechte
Sache der ArbeiterInnen kämpften, gilt unsere aufrichtige Zuneigung.
Für den Antifaschismus!
Für eine freie, klassenlose Gesellschaft!
Der Kampf geht weiter!
[A] ALP