Aufruf zur Kundgebung in Erkner am 65. Jahrestag der Reichspogromnacht
Sonntag, 9.11., ab 11 Uhr
Denkmal gegenüber dem Gymnasium (Erkner)
Am 9. November 1938 wurden in Erkner und Umgebung, wie im gesamten Deutschen Reich jüdische Einrichtungen wie Synagogen, Wohnungen und Geschäfte von SS, SA, Schutzpolizei und „normalen“ Deutschen angegriffen, verwüstet und zum Teil niedergebrannt. Fast 100 Jüdinnen und Juden starben in der Reichspogromnacht, 30.000 wurden verhaftet und in KZs verschleppt, in denen die meisten von ihnen starben.
Dieses Pogrom war ein Wendepunkt einer Politik, an deren Ende sechs Millionen €päische Juden vernichtet waren. Millionen von Deutschen ließen es geschehen oder beteiligten sich daran. Nach der Reichspogromnacht konnte niemand mehr behaupten von nichts gewusst zu haben.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten, die von den meisten Deutschen als Niederlage empfunden wurde, erklärten sie sich in DDR und BRD zu Opfern Hitlers und seiner Handlanger, von denen sie angeblich verführt worden seien. Sie verweigerten sich kollektiv der Reflexion der eigenen Mittäterschaft und gingen zum Alltag über.
Keine Rede mehr von Millionen begeisterter Deutschen die lauthals „Ja“ zum totalen Krieg und zur totalen Vernichtung schrieen und von denen nur ein lächerlich geringer Teil Widerstand leistete. Wer hielt denn die Mordmaschinerie am Laufen? Es waren eben nicht die hohen Funktionäre in Partei und Staat, sondern die sogenannten „kleinen Leute“, die ohne ein Wort des Widerspruchs die Züge voller Menschen in die Vernichtungslager fuhren, an Massenerschießungen teilnahmen, die Wohnungen von deportierten Juden ausräumten oder die Formulare über den korrekten Abtransport bearbeiteten.
Die (Nicht-)Wahrnehmung bzw. Verleugnung der eigenen Schuld drückte sich in den weit verbreiteten Floskeln „man konnte ja nichts machen“ und „Wir haben von nichts gewusst“ aus. Mit diesen und ähnlichen Sätzen legte sich die Tätergeneration die individuelle Lebenslüge zurecht und sprach sich von eigener Verantwortung frei oder bekannte sich dazu. Nachdem die eigene Biographie zurechtgebogen und –gelogen war, konnte sich der Blick von nun an auf das selbst erlittene „Leid“ richten.
Dieses Leid, z.B. die sogenannte „Vertreibung“ (in Wahrheit Umsiedlung), wurde mit dem eigenen Verbrechen — dem organisierten Massenmord an den €päischen Juden — gleichgesetzt und damit verharmlost. Nach der Eigenwahrnehmung vieler Deutscher sind sie die wahren Opfer des von ihnen begonnenen Krieges und so bauen sie Denkmäler für die (deutschen) Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, wie z.B. in Markgrafpieske bei Fürstenwalde. Die Selbststilisierung als Opfer kann nur als zynisch bezeichnet werden, wenn man bedenkt, das die wirklichen Opfer wie z.B. ehemalige ZwangsarbeiterInnen bis heute noch nicht in vollem Umfang entschädigt worden sind. Stattdessen nimmt das Selbstmitleid immer größere Ausmaße an. So wird vom „Bund der Vertriebenen“ (BdV) gefordert in Berlin für 80 Millionen Euro ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) zu errichten, um der Welt die Leiden der Deutschen vor Augen zu führen. Dies ist pure Ideologie, denn für die größten Vertreibungen während des Zweiten Weltkrieges sind immer noch die Deutschen verantwortlich, die Millionen Menschen in Polen, Tschechien, Sowjetunion, etc. vertrieben, versklavten und ermordeten. Die Umsiedlung von mehren Millionen Deutschen aus dem Osten Europas war lediglich die Reaktion auf deren Kollaboration mit dem NS. Umgesiedelt wurden alle Deutschen, die sich dem NS nicht widersetzten — WiderstandskämpferInnen und AntifaschistInnen waren, bis auf Ausnahmen, hiervon nicht betroffen. Der Mythos von den Deutschen als „wahre“ Opfer des NS dient nur der Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und damit dem neuerstarkenden deutschen Großmachtwahn.
Auch der Antisemitismus ist wieder da, nicht so offen, aber genauso weit verbreitet. So stimmen wieder 40% der Deutschen der Aussage zu „Die Juden hätten zu viel Einfluss auf das Weltgeschehen“ (Die Tageszeitung vom 26.09.2003). Auch die Zahl antisemitischer Gewalttaten verdoppelte sich nach Angaben des Verfassungsschutzes in der letzten Zeit. 65 Jahren nach der Reichspogromnacht erdreistet sich der ehemalige FDP-Spitzenpolitiker Jürgen W. Möllemann zu behaupten, die Juden seien am Antisemitismus selbst schuld und findet damit große Zustimmung in Deutschland.
Diesem Denken gilt es entgegenzutreten.
Wir fordern euch auf zur Kundgebung am 9. November zu kommen und mit uns zusammen gegen Antisemitismus, deutschen Großmachtwahn und Opfermythos zu demonstrieren!
Antifa Erkner // Oktober 2003