Gegen das Vergessen
“Im März will ich nicht sterben”, sagt er unerwartet und lacht uns fröhlich
an. “Warum?”, frage ich überrascht. Verschmitzt und mit leuchtenden Augen
antwortet der 83-jährige Artur Radvansky: “Da reise ich seit Jahren mit
meinem Enkel in die französische Schweiz zum Skifahren auf der schwarzen
Piste! Ich liebe meine neuen kurzen Bretter!”
Als er davon erzählte, standen wir auf dem Gelände des ehemaligen
Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. Hinter dem östlichen Zaun befand
sich damals ein Arbeitslager, in dem über 20 000 Männer schuften mussten.
Der das sagt, weiß, warum er das Leben jede Sekunde auskostet. Artur ist
Jude und wurde von den Nazis zwischen 1939 bis 1945 als tschechischer
Zwangsarbeiter in sechs deutsche Konzentrationslager verschleppt. Dieser
Mann ist ein lebendes Wunder, an dem die Schüler und Lehrer der Realschule
“An der Polz” unlängst für wenige Stunden teilhaben durften.
Daneben scheint die Lebensgeschichte von Michaela Vidlakova fast kindlich,
wenn die tschechische Jüdin erzählt, wie das Schicksal ihr und den Eltern im
Lager Theresienstadt mitspielte. Nur durch gegenseitige Hilfe, Wachsamkeit
und Überlebenswillen konnten sie und die Eltern diese deutsche Hölle auf
tschechischem Boden überstehen. Artur Radvansky berichtete: “Als
Inhaftierter des Männerlagers im KZ Ravensbrück arbeitete ich als Maurer.
Wir sollten ein Haus für straffällige Kinder und Jugendliche bauen. Damals
sagte mein Meister zu mir, ich solle seine Sachen vom Gerüst holen. Also
ging ich hinauf, um seinen Anweisungen zu folgen. Oben merkte ich, wie sich
das Gerüst langsam von der Mauer entfernte und ich mitkippte. Ich sprang
also vom Gerüst ab und fiel auf einen drei Meter hohen Sandberg.”
Artur Radvansky zog plötzlich beim Erzählen seine Hose hoch und zeigte uns
eine große Narbe am linken Schienenbein. “Anfangs war es nur abgescheuerte
Haut, dann habe ich mich infiziert und zum Schluss war es dann eine große,
entzündete und eiternde Wunde. Es hat ewig gedauert, bis diese verheilt war,
denn für jüdische Häftlinge gab es kaum medizinische Versorgung.”
So unvermittelt, hautnah, stürzen die Erinnerungen aus dem ehemaligen
Häftling, dass Michaela geduldig den Faden der Ereignisse hält, denn die
Berichte der beiden sind kaum zu fassen.
Wie konnten Menschen — Deutsche, das Volk der Denker und Poeten — derart
unmenschlich sein? Ich bin unsicher, sagt Tobias am nächsten Tag, wie die
Reihenfolge des Gesprächs verlief, denn Arturs Erinnerungen überschnitten
sich im Gespräch, ich schreib einfach mal auf, was ich noch weiß! Artur war
von der SS nach Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen, Auschwitz und
Mauthausen verschleppt worden und jedes Lager hat eigene Geschichten in sein
Gedächtnis gegraben.
Er berichtete davon, dass SS-Männer an ihm vorbeiliefen und ihm seine Mütze,
die er uns zeigte, wegwarfen, dabei gleichzeitig den Befehl gaben: “Los, heb
deine Mütze auf!” Reine Schikane.
Als dann der Häftling seine Mütze wieder holen musste, wurde er wegen
Fluchtversuchs angeschossen. Die SS- Soldaten haben Abzeichen oder Orden
bekommen, wenn sie verhinderten, dass ein Arbeiter entkommen konnte.
Eine andere Story, die bei mir hängen blieb, erlebte Artur in der Nähe von
Auschwitz. Dort wurde ein Bordell für die Wachleute der SS erbaut. Den
polnischen Häftlingen, Frauen, erzählte man, dass, wenn sie dort fünf Monate
hingingen, sie freigelassen würden. Die meisten Frauen überlebten das nicht.
Eine seiner Geschichten hat Trauer in mir geweckt. Artur musste mit ungefähr
zwanzig Häftlingen nach der Arbeit bei Frost auf einem Acker schlafen. Sie
hatten wegen der Kälte dicht an dicht beieinander gelegen. Aber als er
morgens aufwachte, war einer seiner Kollegen nicht mehr aufgestanden. Er war
trotz Umdrehens und Platzwechsels der Häftlinge vom Rand in die Mitte der
Gruppe während der Nacht erfroren.
Artur meinte, dass man im KZ Auschwitz seine Würde verlor und seinen Namen,
da jeder eine Nummer eintätowiert bekam. Viele Häftlinge sind später an
einer Blutvergiftung gestorben, da ca. 2000 Menschen mit einer Feder
gestochen wurden. In anderen Lagern erhielt man eine Nummer, die so
überlebenswichtig wurde, dass Artur bis heute alle seine Nummern aus den
verschiedenen KZ auch nach 60 Jahren noch weiß.
Als ein neuer Häftlingstransport ins Lager kam, beobachtet Artur aus dem
zweiten Stock eines Hauses, an dem er mauerte, wie ein Soldat einer Frau das
Kind, das ungefähr vier Monate alt war, aus den Armen riss, es an den
Beinchen fasste und dann das Baby vor den Augen der Mutter gegen die Wand
schleuderte. Die Mutter sprang dem Soldaten an den Hals und wurde deswegen
erschossen.
Neben der schweren Arbeit und den stundenlangen Stehappellen kamen sehr
viele Häftlinge auch bei den Märschen, die über mehrere Tage dauerten, um -
entweder durch Hunger und Erschöpfung oder auch durch “Späße” der SS-
Mannschaften.