Generalbundesanwalt gibt Ermittlungen zurück nach Potsdam
(Ralf Fischer und Holger Kulick) Fremdenfeindliche Tat oder nur eine Körperverletzung? Nachweislich war Rassismus ein Auslöser der Gewalttat von Potsdam. Das Opfer, der Deutsch-Äthiopier Ermyas K., konnte jedoch wegen seiner Kopfverletzungen bislang keine konkreten Angaben machen. Das eingeschaltete Handy des Opfers übertrug die ´Nigger´- Beschimpfungen während der Tat in der Osternacht. Für die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft reicht das jedoch nicht mehr aus.
Schade, es war eine vielversprechende Handlung des Staats, zukünftig Flagge zu zeigen, wenn fremdenfeindliche Taten begangen werden. Denn die Bekämpfung von Rassismus ist eine nationale Aufgabe. Doch nun diese erneute, überraschende Wende im Fall des brutalen Angriffs von Potsdam, bei dem sich die Bundesanwaltschaft offenbar übernommen hat:
Kay Nehm, der Generalbundesanwalt, gab am Freitag die Ermittlungen wegen des Überfalls auf den Deutsch-Afrikaner Ermyas M. in Potsdam an die dortige Staatsanwaltschaft zurück. Er geht nicht mehr von einem fremdenfeindlichen Motiv aus. Entgegen der ursprünglichen Verdachtslage stünden die “nachweislich fremdenfeindlichen Äußerungen der Täter gegenüber ihrem späteren Opfer weder räumlich noch zeitlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Niederschlagen des Opfers”. Daher sei eine “besondere Bedeutung des Falls” nicht mehr gegeben: Wegen des “zwei-aktigen Geschehensablaufs” könne den Verdächtigen nicht mit Sicherheit der bedingte Tötungsvorsatz nachgewiesen werden, heißt es weiter in der Mitteilung der Bundesanwaltschaft.
Zweite Wende
Diese Wendung kommt überraschend. Denn am Mittwoch war einer der beiden vermeintlichen Täter (Björn L.Foto) erneut verhaftet worden. Wegen neuer Erkenntnisse erließ demnach der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof auf Antrag erneut Haftbefehl gegen den 29-jährigen wegen des dringenden Verdachts der gefährlichen Körperverletzung.
Das Opfer: Ermyas K.
Erst am Tag zuvor waren beide aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Der Grund: Die Polizei hatte bislang vergeblich versucht, mit Ermyas M. über das Geschehen in der Nacht zum Ostersonntag zu sprechen. Er konnte sich jedoch nicht an die Tat erinnern. Polizei und die behandelnden Ärzte im Berliner Unfallkrankenhaus bezweifeln auch, dass Ermyas M. sein Erinnerungsvermögen – zumindest in absehbarer Zeit – wiedererlangt.
Vor Mithäftling mir der Tat geprahlt?
Aus diesem Grund hob der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe die Haftbefehle gegen die beiden Tatverdächtigen am 23. Mai wieder auf. Björn L. aus Wilhelmshorst und Thomas M. aus Potsdam wurden noch am Nachmittag aus den Haftanstalten Wulkow bei Neuruppin bzw. Brandenburg (Havel) entlassen. Doch für Björn L. war diese Freiheit nach 24 Stunden wieder vorbei. Nach dpa-Informationen aus Justizkreisen hat der 29-Jährige bereits vor 14 Tagen vor einem anderen Häftling mit der Tat geprahlt. Die Aussage sei “ziemlich gut verifiziert”, hieß es. Die Bundesanwaltschaft hatte die neuerliche Festnahme mit “neuen Beweisergebnissen” begründet, die erst kurz nach seiner Freilassung am Dienstag bekannt geworden seien. Sein Anwalt Veikko Bartel bestätigte der dpa, dass die Verhaftung auf der Aussage eines Mithäftlings beruht. Sein Mandant werde von diesem Zeugen sinngemäß mit den Worten zitiert: “Hätte ich mal richtig reingetreten.” Der 29-Jährige bestreite jedoch, jemals mit diesem Mann gesprochen zu haben oder ihn überhaupt zu kennen, sagte der Anwalt.
Auch der Bundesgerichtshof hatte schon bei der Freilassung betont, dass beide weiterhin verdächtig seien , an der Gewalttat beteiligt gewesen zu sein. Der Ermittlungsrichter am BGH sah allerdings gegenwärtig keine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung, wie aus dem Gerichtsbeschluss hervorgeht. Es gebe zwar belastende Indizien gegen beide Täter, doch diese allein hätten zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine weitere Inhaftierung nicht gerechtfertigt.
Tat per Handy übertragen
Die Tat war per Handy auf die Voicebox der Ehefrau des Überfallenen übertragen worden. Neben den vielen nicht deutbaren Geräuschen und Wortfetzen ist ein Wort immer wieder deutlich zu hören: ‚Nigger’. Offenbar hat das Opfer versucht seine Frau anzurufen, aber die war nicht ans Telefon gegangen, so dass der Anrufbeantworter ansprang und das aufzeichnete, was die Polizei als Beginn der Auseinandersetzung ansieht. Nach insgesamt fast zwei Minuten bricht das Telefonat ab. ‚Oh je!’ ist das Letzte, was deutlich zu hören ist. Das Gespräch kann, sofern es noch freigeschaltet ist, über die Telefon-Nummer der Kriminalpolizei Potsdam 0331 — 283 53 777 abgehört werden. Eine der Schlüsselpassagen lautet:
Täter2: „Wie heißt deine Mutter, Mann?“
Täter1: „Was soll ’n passieren, sag’?“
Täter2: „Was meinst du, Schwein?“
Opfer: „Warum sagst du Schwein? Was denn? Geht doch mal bitte, ja?“
Täter2: „Scheiß Nigger!“
Täter1: „Was soll uns passieren? Wir machen dich platt, du Nigger! Was soll passieren?“
Lange mussten Ärzte um das Leben des 37-Jährigen Deutschen mit afrikanischer Herkunft, kämpfen, der rmittlerweile auf einer Reha-Station behandelt wird. Mit einem schweren Schädel- und Gehirntrauma, Knochenverletzungen, einem verletzten Auge und Erbrochenem in der Lunge wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Nur ein Schlag oder Tritt mehr und der Mann wäre vermutlich tot gewesen, so Benedikt Welfens, Sprecher der Staatsanwaltschaft.
Mindestens ein gezielter Schlag auf den Kopf hat offenbar die schwere Schädelverletzung verursacht, das Opfer fiel wehrlos zu Boden, er war zu diesem Zeitpunkt leicht angetrunken, 2 Promille Alkohol wurden in seinem Blut gemessen. „Stumpfe Gewalt gegen den Kopf“, heißt es seitens der Polizei. Ob auch weitere Gewalteinwirkung geschah, ist umstritten.
Womöglich hat ein Taxifahrer Ernyas M. das Leben gerettet. Auf der Fahrt zu einer nahen Diskothek, sah er bereits, dass sich Täter und Opfer an der Haltestelle im Gespräch befanden. Auf der Rücktour habe er dann den Mann an der Ecke Zeppelinstraße/Nansenstraße auf dem Boden liegen sehen. Daraufhin stieg der Taxifahrer aus und die Täter flüchteten in Richtung Innenstadt. Zwar versuchte der Taxifahrer den beiden Tätern noch zu Fuß zu verfolgen, aber nach ergebnisloser Verfolgung ist er an der Ecke Zeppelinstraße/Stiftstraße umgekehrt, um dem Opfer zu helfen.
Zivilgesellschaftliche Solidaritätskundgebungen mit dem Opfer
Eine erste Reaktion der Potsdamer Zivilgesellschaft auf diesen brutalen Angriff lies nicht lange auf sich warten. Schon einen Tag nach dem Übergriff demonstrierten über 500 Menschen in der Potsdamer Innenstadt zwei Stunden lang ihre Solidarität mit dem Opfer und gegen rechte Gewalt. Am Tatort werden auch mehr als eine Woche nach der Tat noch immer Blumen und Kerzen niedergelegt. Nur vier Tage danach beteiligten sich bis zu 7000 Menschen an einer zentralen Demonstration gegen Rassismus, zu der Potsdams Oberbürgermeister aufgerufen hatte.
Unmittelbar zuvor wurden zwei Tatverdächtige verhaftet. Auf einen von ihnen sollte eine DNA-Spur in Bluttropfen am Tatort hinweisen, auf den zweiten wies seine relativ hohe Stimme hin, die auf dem Tonband erkennbar zu sein scheint. Beide behaupten jedoch ein Alibi zu haben. Mindestens einer von ihnen sollte angeblich einem rechtsgerichteten Motorradclub namens “MC Gremium” angehören, der sich im Internet als “ein Kreis von Auserwählten, d.
h. eine Gemeinschaft von Bikern,
die durch starke Zusammengehörigkeit und Bruderschaft eine eigene Lebensart verkörpern”, versteht.
Überfällige Ermittlung durch den Bundesanwalt
Zuordnungen der Tatverdächtigen zur direkten Naziszene waren widersprüchlich, Szenekenner hatten zunächst wegen Namensgleichheit einen anderen Täter unter Verdacht. Eiun dritter Verdächtiger kam zwischenzeitlich aufgrund eines felsenfesten Alibis wieder frei.
Im Hubschrauber waren beide Hauptverdächtigen nach ihrer Verhaftung zum ermittelnden Bundesanwalt nach Karlsruhe geflogen worden, denn rassistische Gewalt gilt als Verbrechen gegen die Prinzipien der Bundesrepublik. Allerdings ist solch eine übergeordnete Ermittlung selten, aber überfällig. Sie hat gewiß mit der Nähe der Fußballweltmeisterschaft zu tun. Es geht offenbar vorrangig darum, ein symbolisches Zeichen zu setzen.
Übergriffe im Wochentakt
Viele Potsdamer zeigten sich unmittelbarr nach der Tat fassungslos und wütend. Unter ihnen auch Tamás Blenessy. Vor einem Jahr wurde der Student auch Opfer eines Überfalles von Neonazis. Er war erschüttert als er die Nachricht vom Geschehen an der Straßenbahnhaltestelle bekam, aber überrascht hat es ihn nicht. Rechte Übergriffe, nicht immer in dieser Dimension, finden, nach seiner Aussage, derzeit im Wochentakt in Potsdam statt.Die Brutalität mit der die Täter gegen ihn vorgingen, erinnert Blenessy an das Vorgehen der Neonazis damals gegen ihn. Doch er hatte mehr Glück als der aus Äthopien stammende Ernyas M., dass steht für ihn fest.
Aufruf: Opferberatungen stärken
Für die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, beweist der Übergriff wieder einmal mehr, wie wichtig eine kontinuierliche gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus wäre und dass besonders Opferberatungen in Ostdeutschland als wichtiger Bestandteil der Zivilgesellschaft finanziell gefördert werden müssen. Sie ruft dazu auf Geld zur Betreuung und Behandlung von Ernyas M. und seiner Familie, aber auch zugunsten vieler anderer, oft unbekannter Opfer rassistischer Gewalt zu spenden. Das sei die Gesellschaft den Opfer rechter Gewalt schuldig.
Grotesk: Potsdamer CDU bedauerte nicht
Zu einer Groteske kam es am 27.4. im Potsdamer Stadtparlament: Die CDU-Fraktion verweigerte ihre Unterschrift unter einem Brief um der Familie des Opfers ihr Mitgefühl und Bedauern auszusprechen. Begründung laut Potsdamer Neuesten Nachrichten: Potsdams CDU-Fraktionschef Steeven Breetz und andere CDU-Abgeordnete hätten sich an der Formulierung gestoßen, dass es sich bei der Tat um eine “von Rassisten geprägten Gewalttat” handelt.