NEURUPPIN Es ist still in der Aula des Schinkelgymnasiums. Kein lautes
Tuscheln. 56 Jugendliche aus der 13. Klasse sitzen ganz leise da und hören
zu. Hören gebannt zu, was ihnen Kurt Julius Goldstein, der Ehrenvorsitzende
des Internationalen Auschwitz-Komitees, zu erzählen hat — über den Holocaust
und wie er ihn überlebte. “Wir sind die Letzten — fragt uns”, lautete der
Titel der Veranstaltung, die von der PDS organisiert wurde.
“Ich bin Deutscher, Jude und Kommunist”, stellt sich der 90-Jährige den
Schülern vor. Früh habe er sich politisch engagiert. Er, der jüngste Sohn
einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Hamm in Westfalen, wollte nicht
einsehen, warum es einer Familie schlechter als der anderen ergehen sollte.
Wegen “kommunistischer Umtriebe” sei er später von der Schule verwiesen
worden. Seine ersten Erfahrungen mit Antisemitismus hatte Goldstein da schon
gemacht.
Er war neun, als sein Sport- und Kunstlehrer mit Fäusten auf ihn losging.
“Goldstein, du Lump, du Schuft”, habe der gerufen und ihn vor die Tür
gesetzt. Nur, weil er Jude war.
30. Januar 1933 — Hitlers Machtergreifung. Ein paar Tage später ging
Goldstein in eine Bar. “Werden hier auch Säue getränkt”, habe ein Gast
gegrölt. Er habe dem Antisemiten mit einem kristallenen Aschenbecher direkt
“aufs Maul” getroffen. Auf diese weise konnte er sich später nicht mehr
wehren. Als Jude und Kommunist war er den Nazis doppelt verhasst.
Zwei Monate entging Goldstein nur knapp einer Verhaftung und floh nach
Luxemburg. 1936 zog es ihn nach Spanien, um dort gegen Franco zu kämpfen.
Doch die internationalen Brigaden verloren den Bürgerkrieg. Goldstein wurde
in Frankreich interniert und im Zuge der deutschen Besetzung an die Nazis
ausgeliefert, dann nach Auschwitz deportiert. “Der Güterwaggon war für acht
Pferde oder zwölf Personen, da wurden 100 Mann reingepresst”, erinnert sich
der 90-Jährige. Zweieinhalb Tage dauerte die Fahrt.
Goldstein krempelt seinen linken Ärmel hoch, zeigt die Tätowierung: “58866 -
meine Häftlingsnummer”. Er wurde im Nebenlager Jawischowitz, einer
Kohlengrube, eingesetzt. “Dass ich hier sitze, habe ich der Solidarität
polnischer Bergarbeiter zu verdanken”, sagt Goldstein. Sie teilten mit ihm
ihr Brot.
30 Monate verbrachte Goldstein in dem Lager. “Mit 30 000 Mann sind wir
reingekommen”, sagt er. 1945 beim Todesmarsch nach Buchenwald seien sie nur
noch 3000 gewesen. Alle anderen waren tot. Erschossen, verhungert, an
Krankheit gestorben. Den Todesmarsch überlebten nur 500 Häftlinge. “Wir
waren mehr tot als lebendig.”
Die Gymnasiasten nutzten ihre Chance. Sie stellten ihre Fragen: Wie er die
Zeit psychisch verkraftet habe. Was aus seiner Familie geworden sei. Was er
zum heutigen Rechtsextremismus sagen könne. “Jeder muss überlegen, was er
tun kann, um zu verhindern, dass so etwas wieder in unsere deutsche
Geschichte geschrieben werden kann”, sagt Goldstein.