“Hätschelhans” und seine Bande
Wie eine rassistische Terrorgruppe im Havelland zehn Monate ihr Unwesen
treiben konnte
(MAZ) POTSDAM Während die Vorsitzende des 1. Großen Strafsenats des Brandenburgischen
Oberlandesgerichts, Gisela Thaeren-Daig, in ihrer mehr als zweistündigen
Urteilsbegründung darüber sinnierte, wie es so weit kommen konnte, dass
zwölf 14- bis 18-jährige Schüler und Lehrlinge planmäßig rassistisch
motivierte Brandanschläge auf Imbisse ausländischer Betreiber im
Havelland verübten, bezeichnete im Gerichtssaal der Vater eines
Angeklagten die Richterin wiederholt leise als ein “Stück Scheiße”. Und
als die Richterin den 20 Jahre alten Hauptangeklagten Christopher H. für
dessen fremdenfeindliche Auffassung kritisierte, “die Ausländer” nähmen
“den Deutschen” “die Arbeitsplätze” weg, grummelte der Mann in der
dritten Sitzreihe: “Stimmt doch.” Nach der Verhandlung meinte vor dem
Gebäude des Amtsgerichts Potsdam auch eine Frau, man habe “von der
Richterin nichts anderes erwartet”. Alles werde verdreht.
Er habe eine christliche Erziehung erhalten, hatte Christopher H., der
Rädelsführer der terroristischen Vereinigung “Freikorps”, dem Gericht
während der zumeist nichtöffentlichen Verhandlungen erzählt. Gegen Juden
habe er nichts, meinte der junge Mann aus Pausin bei Nauen, der nach
seinem Abitur mit der Durchschnittsnote 2,6 eigentlich eine Karriere als
Berufssoldat bei der Bundeswehr angesteuert hatte. Auf dem Anzeigefeld
seines von der Polizei beschlagnahmten Handys erschien allerdings die
Karikatur eines Juden vor dem Konzentrationslager Buchenwald mit einem
Zu-Satz, den Richterin Thaeren-Daig mit keiner christlichen Erziehung
erklären konnte: “Ich habe Hunger, mir ist kalt, lasst mich schnell nach
Buchenwald.”
Es sei dem Senat nicht gelungen zu erklären, warum sich die angeklagten
jungen Männer “als Herren über andere erhöhten”, räumte Thaeren-Daig
ein. Die Gerichtsverhandlung habe nicht bewiesen, dass die Eltern ihre
Kinder zu Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit erzogen hätten. Dennoch
müssten im Lebensumfeld der Jugendlichen zahlreiche Erwachsene
Grundlagen für das rassistische Gedankengut gelegt haben, vermutete die
Richterin.
“Am liebsten hetze ich gegen Juden”
Die bei den Mitgliedern der Terrorzelle entdeckten rechtsextremen
Devotionalien rechtfertigen nach Auffassung des Senats die Bezeichnung
als “Neonazis”. Bei einem Mitglied fand die Polizei eine Fahne der
verbotenen, militanten rechtsextremen Gruppierung “Blood & Honour”, auf
dem Computer eines anderen leuchtete als Bildschirmschoner der Text
“Deutschland den Deutschen, Ausländer raus”. Beliebt in der Gruppe war
auch das Lied der verbotenen Neonazi-Band “Landser” mit dem Titel “Der
Hetzer” und der Textzeile “Am liebsten hetze ich gegen Juden. Und gegen
Kanaken, die belagern unser Land”. An der neonazistischen Propaganda,
die teilweise auch in den Jugendzimmern hing, nahm in den Familien
offenbar niemand ernsthaft Anstoß. Auch in der Schule sowie der
Freiwilligen Feuerwehr, in der mehrere Jugendliche mitwirkten, reagierte
niemand auf die rechtsextreme Gesinnung. Die Serie von Brandstiftungen
wurde nur durch einen Zufall aufgeklärt, weil ein Dorfpolizist Zeuge
eines Telefongespräches über die Anschläge wurde.
Die jungen Angeklagten, die mit ihren Brandanschlägen laut Gericht
“vorsätzlich die strafrechtlich geschützten Grundlagen des friedlichen
Zusammenlebens” störten, entstammten nicht von Alkoholmissbrauch und
Gewalt geprägten Familien, sondern vielmehr “bürgerlich geordneten
Verhältnissen”, so die Senatsvorsitzende. Die Täter besuchten die
Schule, machten ihre Abschlüsse, erhielten eine Lehrstelle. Schlosser
war der Vater des einen, Baumaschinist, Informationstechniker, Tischler,
Kraftfahrer oder Elektromonteur waren die Väter von anderen. Manche
Eltern hatten es finanziell zu etwas gebracht, einige ein eigenes
Einfamilienhaus gebaut.
Als Christopher H. im Alter von 16 Jahren begann, zwei bis drei Jahre
jüngere Schüler um sich zu scharen und mit ihnen im Wald neben dem Hof
der Eltern militärische Spiele in Uniformen zu veranstalten, hatten H.s
Eltern nichts einzuwenden. Sie seien vielmehr froh gewesen, so das
Gericht, dass ihr einzelgängerischer “Hätschelhans”, wie ein Verteidiger
ihn nannte, nicht mehr allein war. Christopher H. wurde auch dann nicht
zurechtgewiesen, als der Treffpunkt auf dem Hof mit einer
Reichskriegsflagge verkleidet wurde und rechtsextreme Musik aus der
Scheune tönte.
Manche Opfer leben noch heute in Angst
Vor den jungen Gleichgesinnten hielt der “beseelte Ausländerhasser”
(Thaeren-Daig) Christopher H. immer öfter Hetzreden gegen Ausländer. Sie
hätten “nicht das Recht, sich hier niederzulassen”, und seien kriminell,
lautete der Tenor. “Wenn man rechts ist, hat man auch was gegen
Ausländer”, setzte sich als Meinungsmuster allgemein durch. Im Sommer
2003 glaubte H., Hetztiraden allein reichten nicht aus. Man müsse etwas tun.
Bei einer von ihm einberufenen Versammlung nahe dem elterlichen Hof
gründeten die jungen Neonazis die militante Untergrundorganisation
“Freikorps”. H. wurde als Anführer anerkannt, zwei weitere Jungnazis zu
Schriftführer und Kassierer bestimmt. Man vereinbarte Fahrübungen,
redete über Fluchtwege und falsche Alibis. Ein Verlassen der Gruppe
wurde als “Verrat” stigmatisiert. Das in dem Gründungsprotokoll notierte
Ziel der Kameradschaft war es, Brandanschläge auf Imbisse ausländischer
Betreiber zu verüben, um deren wirtschaftliche Existenzgrundlage zu
vernichten. Zwischen der Gründung von “Freikorps” im August 2003 und der
Zerschlagung der Bande durch die Polizei im Juni 2004 wurden manche
Imbisse sogar mehrfach angezündet. Die Versicherungssummen würden
unbezahlbar werden und die Betreiber zum Verlassen des Havellands
zwingen, so das Kalkül. Manche der Opfer leben noch heute in Angst.
Selbstverständlich, so Senatsvorsitzende Thaeren-Daig, sei das
“Freikorps” nicht mit Terrorgruppen wie al-Qaida vergleichbar. Doch auch
bei den jungen Leuten aus dem Havelland “lag eine terroristische
Zielsetzung vor”, wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Anklage
herausgearbeitet hatte. Die Anschläge richteten sich nicht gegen
individuelle Ausländer, sondern “gegen Ausländer als Ausländer” und
somit “gegen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen”. “Freikorps”
wollte nicht nur Ausländer aus dem Havelland und schließlich aus ganz
Brandenburg vertreiben, sondern auch Zuzugsbereite durch Einschüchterung
abschrecken. Dadurch wäre ein “großer Ansehensverlust des Landes
Brandenburg möglich” gewesen.
Es war von Säuberungen die Rede
Am Ende des Potsdamer Neonazi-Prozesses stellt das Gericht fest: Angeklagte
wollten Ausländer vertreiben
(BM) Potsdam — Christopher H. wirkte klein und schmächtig zwischen seinen
Bewachern im Potsdamer Amtsgericht. Und es erschien angesichts seiner
körperlichen Unterlegenheit fast grotesk, als Handschellen aufgeschlossen
wurden und die Justizbediensteten argwöhnisch in seiner Nähe blieben. Doch
die Sicherheitsvorkehrungen kamen nicht von ungefähr. Der Abiturient war
Chef einer Bande, die zwischen August 2003 und Mai 2004 im Havelland neun
Brandanschläge auf Geschäfte von Türken und Vietnamesen verübte.
Der 20 Jahre alte “Rädelsführer” bekam vom 1. Strafsenat des Brandenburger
Oberlandesgerichtes auch die mit Abstand höchste Jugendstrafe: viereinhalb
Jahre wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung und Brandstiftung.
Elf andere junge Män
ner — Auszubildende, Schüler, fünf von ihnen besitzen
die Fachhochschulreife — erhielten Bewährungsstrafen zwischen acht Monaten
und zwei Jahren; der Senat wird ihnen zugute gehalten haben, daß sie unter
der Kuratel von Christopher H. standen. Er soll schon als 14jähriger in
seinem brandenburgischen Dorf mit Jüngeren Kriegsspiele veranstaltet haben.
Richtig ernst, sagte die Senatvorsitzende Gisela Thaeren-Daig, sei es im
Juli 2003 geworden. Da hatte H. auf einem Feld in Spandau die Kameradschaft
“Freikorps” gegründet. Es gab einen Schriftführer, einen Kassierer, ein
Protokoll. Auch die Ziele waren klar definiert: “Ausländer sollten aus der
Gegend vertrieben werden”, beschrieb es Gisela Thaeren-Daig. Es sei unter
den jungen Leuten von “Säuberungen” die Rede gewesen. Das stelle sie “auf
eine Stufe mit rassistischen Verbrechern”. Dabei habe es innerhalb der
Kameradschaft zwei Gruppen gegeben: Während sich ein Teil nur als
Kraftfahrer oder für andere Hilfsdienste zur Verfügung stellte, war der
andere auch zu Anschlägen bereit.
Ein wirkliches Motiv für die rechtsextreme Geisteshaltung, resümierte die
Richterin, habe der Senat nicht finden können. Die Angeklagten kämen
keineswegs — wie so oft bei ähnlichen Fällen — aus dissozialen
Verhältnissen. Die Eltern seien “das, was man bürgerlich nennt”, hätten
Arbeit, meist eigene Häuser, auch die Angeklagten selbst hätten durch
Schulabschlüsse und Lehrverträge einen ordentlichen Start ins Leben gehabt.
Bemerkenswert sei aber schon, wie wenig die Hinwendung der Angeklagten zum
Rechtsextremismus aufgefallen sei. Deutlich geworden sei es nur bei der
Mutter des Rädelsführers. Sie habe den Sohn “nachhaltig unterstützt”. Gegen
die Frau läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zur Brandstiftung.
Aber auch andere, sagte Richterin Thaeren-Daig, hätten etwas mitbekommen
haben müssen. Nach den Festnahmen wurden bei den jungen Leuten, die bis auf
eine Ausnahme bei den Eltern wohnten, Nazi-Devotionalien gefunden; ebenso
das aus dem Internet heruntergeladene Buch “Mein Kampf”, Sprengstoff und
zuhauf CDs mit einschlägiger Musik: “Mit hetzenden, widerlichen Texten, die
zur Gewalt gegen Fremde und Schwule aufrufen”, sagte Richterin Thaeren-Daig.
Vor Gericht hätten die Angeklagten erklärt, sich vom Rechtsextremismus
abgewendet zu haben. “Wir müssen das so zur Kenntnis nehmen”, sagte sie
skeptisch, “wir können ihnen nicht in die Köpfe gucken.”
Neonazis als Terrorgruppe verurteilt
Jugendliche zündeten Läden von Ausländern an
(Berliner Zeitung) POTSDAM, 7. März. Im ersten Terrorismus-Prozess Brandenburgs verurteilte das
Oberlandesgericht am Montag in Potsdam zwölf Neonazis zu teils mehrjährigen
Jugendstrafen. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass die Neonazis aus
dem Havelland zwischen August 2003 und Mai 2004 insgesamt zehn
Brandanschläge auf asiatische und türkische Imbissstände verübten. Der
20-jährige Rädelsführer erhielt viereinhalb Jahre Jugendhaft. Die übrigen
elf Angeklagten, zur Tatzeit zwischen 14 und 18 Jahre alt, bekamen
Jugendstrafen von acht Monaten bis zu zwei Jahren, die zur Bewährung
ausgesetzt wurden.
Elf der Angeklagten sind wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung
verurteilt worden, ein Angeklagter, der später zur Gruppe gestoßen war,
wurde wegen Beteiligung an den Brandanschlägen belangt. Die Jugendlichen
hatten sich selbst als “Freikorps” bezeichnet und die Imbissstände nachts in
Brand gesetzt. Dabei entstand ein Sachschaden von 800 000 Euro, Menschen
wurden nicht verletzt.
In der Urteilsbegründung hieß es, wer ausländischen Mitbürgern aus
Fremdenhass das Recht abspreche, gleichberechtigt am wirtschaftlichen Leben
teilzunehmen, störe vorsätzlich die Grundlage des freiheitlichen
Zusammenlebens und stelle sich auf eine Stufe mit rassistischen Verbrechern.
Die Richter stellten auch fest, dass es in der Schule keine ausreichende
Auseinandersetzung mit dem offenkundig rechtsextremen Auftreten des
Hauptangeklagten gegeben habe. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm
(CDU) bezeichnete das Urteil als “streng, aber angemessen”.
Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Potsdam auch gegen die Mutter
des Hauptangeklagten — wegen Beihilfe. Sie soll die Taten ihres Sohnes
geduldet haben.
Viereinhalb Jahre für den Rädelsführer
(Berliner Zeitung) POTSDAM. Der Vorwurf, einer terroristische Vereinigung anzugehören, wiegt
schwer. Deshalb hatten die Verteidiger der zwölf jungen Neonazis, die seit
fast drei Monaten vor dem Brandenburger Oberlandesgericht standen, immer
wieder versucht, die Serie von zehn Brandanschlägen auf ausländische Imbisse
als “Kinderkram” einer Gruppe von Pubertierenden darzustellen. Doch am
Montag wurden elf der zwölf Jugendlichen für schuldig befunden, Mitglied der
neonazistischen Terrorgruppe “Freikorps” gewesen zu sein. Es war die erste
Verurteilung dieser Art in Brandenburg.
Die Einstufung richte sich nicht danach, ob die Anschläge mit denen des
Terrornetzwerkes El Kaida vergleichbar seien oder ob die Täter “gefährlich”
aussähen, sagte die Vorsitzende Richterin Gisela Thaeren-Daig. Entscheidend
sei, dass die Gruppe das friedliche Zusammenleben mit Ausländern durch
Anschläge zerstören wollte. “Sie haben sich zu einer Untergrundorganisation
zusammengeschlossen, um mit Brandanschlägen die wirtschaftliche
Existenzgrundlage von Ausländern im Havelland zu vernichten und diese zu
vertreiben”, sagte die Richterin.
Den Hauptangeklagten Christopher H. bezeichnete das Gericht als “beseelten
Ausländerhasser”. Der 20-jährige Abiturient wollte ABC-Waffenspezialist bei
der Bundeswehr werden. Er habe den Plan geschmiedet und umgesetzt, eine
“Untergrundorganisation mit gleichgesinnten rechtsextremen Personen zu
gründen”.
Toleriert, gebilligt, ignoriert
Demonstrationen oder Hetzreden hätte sie als wirkungslos zur Durchsetzung
ihrer Ziele angesehen. “Sie wollten die Gegend von Ausländern säubern, wie
sie es nannten”, sagte sie. Viereinhalb Jahre muss Christopher H. ins
Gefängnis. Die anderen Angeklagten erhielten Bewährungsstrafen.
Das Gericht versuchte zu ergründen, warum aus den jungen Männern, die aus
“geordneten Verhältnissen” stammen, Neonazis wurden. Die Verantwortung dafür
sieht die Richterin im Umfeld der Täter. Die Angeklagten hätten “selten
Ausländer kennen gelernt und hatten auch kein Interesse daran”, sagte sie.
“Viele Erwachsene müssen die Grundlage dafür gelegt haben, dass sie
intolerant wurden und sich als Herrenmenschen aufführten.” Die Eltern hätten
es toleriert, gebilligt oder ignoriert, dass ihre Söhne — zur Tatzeit
2003/2004 zwischen 14 und 18 Jahre alt — in ihren Zimmern
Reichskriegsfahnen, Hakenkreuze, NSDAP-Abzeichen hängen hatten und
massenhaft Musikträger und Symbole von teilweise verbotenen rechtsextremen
Bands oder Organisationen zusammen trugen. Einer besaß Munition und
Sprengstoff. Sie fotografierten sich bei Partys mit Hitlergruß, einige luden
sich Hitlers “Mein Kampf” aus dem Internet auf den Computer. Sie schickten
sich Bildnachrichten auf ihre Handys, die einen jüdisch aussehenden Mann vor
dem KZ Buchenwald zeigte. Dazu der Spruch: “Ich hab′ Hunger, mir ist kalt.
Lasst mich schnell nach Buchenwald.”
Die Richterin sagte: “Sie konnten ihren kriminellen Neigungen nachgehen,
unbehelligt von den Erwachsenen.” Die Mutter des Rädelsführers habe ihn
sogar unterstützt. Zwar hätten die Angeklagten ihre Taten im Prozess
bedauert, ob dies glaubhaft sei, sei unklar geblieben.
Das Gericht stufte die Gruppe eindeutig als terroristische V
ereinigung ein.
Die Jugendlichen hatten ein Gründungsprotokoll unterzeichnet und
Mitgliedsbeiträge kassiert. Sie hatte eine feste Hierarchie mit Anführer und
Schriftführer, mit Mitgliedern, die die Brandsätze warfen oder als Fahrer
fungierten, Alibis beschafften und Fluchtwege auskundschafteten. “Es wurden
Armbinden mit der Aufschrift Freikorps bestellt”, sagte die Richterin. Die
Angeklagten hatten sogar diskutiert, sich ihre Blutgruppen eintätowieren zu
lassen — ganz nach Vorbild der SS.
Besonders hohes Risiko in Brandenburg
(Berliner Zeitung) Und die Zahl rechtsextremistischer Gewalt- und Straftaten nimmt in
Brandenburg seit Jahren zu. Allein im vergangenen Jahr stiegen die rechten
Gewalttaten um 20 Prozent auf 105 Fälle an. Darunter waren auch zwei Fälle
von versuchtem Totschlag. So konnte ein türkischer Imbiss-Besitzer in Brück
(Potsdam-Mittelmark) einen Brandsatz, der in seine Gaststätte geschleudert
worden war, noch rechtzeitig löschen. Insgesamt stieg die Zahl
rechtsextremistischer Straftaten um 58 Fälle auf 1 051 Fälle.
Rechtsextreme Gewalttäter sind zu 83 Prozent Jugendliche unter 21 Jahren.
Viele Taten werden spontan aus der Gruppe und unter Alkoholeinfluss
begangen. Doch daneben gibt es straff organisierte Neonazi-Gruppierungen wie
etwa den so genannten Märkischen Heimatschutz, der rechtsextremistische
Propaganda betreibt. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft wird der
Heimatschutz auch mit Sachbeschädigungen in zwei Arbeitsagenturen in
Verbindung gebracht.
Keine Zuschüsse mehr
Brandenburg gilt bei führenden Köpfen der Neonazi-Szene als sicheres
Rückzugsland. Eine dubiose Gruppierung namens “Nationale Bewegung” wird
zudem für Brandanschläge auf den Jüdischen Friedhof in Potsdam und auf
mehrere Imbissstände in den Jahren 2000 und 2001 verantwortlich gemacht.
Selbst in Sicherheitskreisen bezweifelt man aber inzwischen, ob eine solche
Gruppe je wirklich existiert hat.
Während die rechtsextreme Gewalt einen neuen Höhepunkt erreicht hat,
streicht die Landesregierung dem Verein “Opferperspektive” die Zuschüsse.
Der Verein kümmert sich intensiv um die Opfer rechter Gewalt. “Wir haben 45
000 Euro für dieses Jahr beantragt, aber nicht bekommen”, sagt Dominique
John von der Opferperspektive. Dadurch seien auch die 200 000 Euro aus dem
Bundesprogramm Civitas gefährdet, da sie durch die Landesmittel kofinanziert
werden müssten. Im ersten Halbjahr 2005 habe der Verein noch einmal 100 000
Euro erhalten — aus Bundesmitteln.
Neonazi-Bande verurteilt
Erstmals in Brandenburg wurden Rechtsradikale als Terroristen eingestuft
(MAZ) POTSDAM Erstmals sind in Brandenburg Neonazis als Terroristen verurteilt
worden. Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) verurteilte gestern in
Potsdam elf der zwölf jungen Angeklagten wegen Gründung einer
terroristischen Vereinigung und folgte damit im Wesentlichen der Anklage der
Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg. Es war die bundesweit
erste Verurteilung nach der Änderung des Paragraphen 129 a im Dezember 2003,
der die Bildung terroristischer Vereinigungen verfolgt.
Der 20-jährige Rädelsführer der rechtsextremen Untergrundorganisation
“Freikorps”, der Abiturient Christopher H. aus Pausin im Havelland, wurde zu
viereinhalb Jahren Haft verurteilt, die elf Mittäter bekamen
Bewährungsstrafen zwischen acht Monaten und zwei Jahren. Einige hatten
gestanden, Brandanschläge verübt zu haben. Zwischen August 2003 und Mai 2004
hatten Mitglieder der Organisation zehn Brandanschläge auf Imbissbuden
ausländischer Betreiber im Havelland verübt und dabei einen Sachschaden von
etwa 800 000 Euro angerichtet.
“Wenn sich elf junge Männer zu einer Vereinigung zusammenschließen, ‚um das
Havelland von Ausländern zu säubern′, ist das terroristisch”, betonte die
Vorsitzende Richterin des 1. Großen Strafsenats des OLG, Gisela
Thaeren-Daig, in der Urteilsbegründung. Das im Gründungsprotokoll von
“Freikorps” notierte Ziel war es, Ausländer aus dem Havelland und
schließlich aus ganz Brandenburg zu vertreiben. Wer so das friedliche
Zusammenleben störe, stelle sich “auf eine Stufe mit rassistischen
Verbrechern”, so Thaeren-Daig.
Mit den nach Jugendrecht gefällten Urteilen folgte das Gericht weitgehend
den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft, die gegen das Urteil keine
Rechtsmittel einlegen will. Der Verteidiger des Hauptangeklagten Christopher
H. kündigte hingegen Revision an.
Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) würdigte das Urteil als Entscheidung mit
Augenmaß. Es zeige sich, dass hier die Sozialkontrolle durch Eltern, Schule
und Vereine versagt habe. Nötig sei eine breite Diskussion über die Ursachen
von Rechtsextremismus in der Gesellschaft.
Haft für rechtsextreme Terroristen
Im Potsdamer “Freikorps”-Prozess ergehen harte Urteile: Die Gruppe, die
Anschläge gegen Geschäfte von Zuwanderern verübt hat, wird als
terroristische Vereinigung eingestuft, der Haupttäter muss auf Jahre ins
Gefängnis. Gericht: “Signal an Neonazis”
(TAZ) Es hat ihnen alles nichts genützt. Die von der Verteidigung als
“Jungbullenherde” verharmloste rechtsextreme Kameradschaft “Freikorps” ist
in Potsdam wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt
worden.
Das Brandenburger Oberlandesgericht hat gegen alle zwölf Angeklagten
Haftstrafen verhängt, die bis auf eine zur Bewährung ausgesetzt sind: Der
Hauptangeklagte, der 20-jährige Christopher H., muss für viereinhalb Jahre
ins Gefängnis. Damit folgt das Oberlandesgericht dem Antrag der
Staatsanwaltschaft. Gegen H.s elf Mittäter ergingen Bewährungsstrafen
zwischen acht Monaten und zwei Jahren.
Die Jugendlichen, die zur Tatzeit zwischen 14 und 19 Jahre alt waren, haben
zwischen August 2003 und Mai 2004 zehn Brandanschläge auf Geschäfte und
Imbisse von Zuwanderern verübt und einen Sachschaden von 800.000 Euro
verursacht. Zuvor hatten sie die Terrorgruppe “Freikorps” gegründet und ihr
Ziel, das Havelland “ausländerfrei” zu machen, in einer Satzung
niedergelegt. Dazu bestimmten sie einen Schriftführer, den Verurteilten
Patrick P., sowie einen Kassierer, Michael R.
Während des Prozesses hatten die Anwälte der Angeklagten den Tatvorwurf
“Bildung einer terroristischen Vereinigung” nach Paragraph 129a StGB
vehement bestritten und versucht, ihre Mandanten als fehlgeleitete Opfer des
Hauptangeklagten hinzustellen. Zudem stellten sie in ihren Plädoyers
wahlweise auf den Alkoholpegel der Jugendlichen zur Tatzeit oder die
schwierige soziale Situation in Ostdeutschland ab.
In der Urteilsbegründung heißt es nun deutlich, wer Mitbürgern aus
Fremdenhass das Recht abspreche, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Leben teilzunehmen, störe vorsätzlich die Grundlage des freiheitlichen
Zusammenlebens und stelle sich auf eine Stufe mit rassistischen Verbrechern.
Die Vorsitzende Richterin sprach von einem “Signal an alle Neonazis”, die
sich aus der rechtsextremen Szene zurückziehen wollten.
Die Angeklagten hätten “wie viele Jugendliche im Havelland” eine
ausländerfeindliche Einstellung. In der Schule habe es keine ausreichende
Auseinandersetzung mit dem offen rechtsextremen Auftreten des
Hauptangeklagten gegeben, der zur Tatzeit sein Abitur ablegte. Ob sich die
Angeklagten, wie vor Gericht erklärt, wirklich von ihrem rechtsextremen
Denken gelöst haben, “bleibe nur zu wünschen”, sagte die Vorsitzende
Richterin.
Der Verein Opferperspektive fordert nun vom Land ein “eindeutiges Signal”.
Die Geschädigten hätten auch nach den Anschlägen ihre Geschäfte
weiterbetrieben. “Aber in groß
er Angst”, wie Kai Wendel, Sprecher der
Initiative, der taz sagt. Das Land möge für die Geschäfte, die nur zu
astronomischen Summen versicherbar seien, einen Bürgschaftsfonds auflegen.
Für Opfer von Körperverletzungen durch Rechtsextreme gebe es dieses Modell
bereits, das bei der Bundesanwaltschaft angesiedelt sei. Das Land könne sich
die Kosten “von den Tätern zurückholen”.
Rechtsextreme Brandstifter als Terroristen verurteilt
“Freikorps” wollte Ausländer vertreiben / Viereinhalb Jahre Haft für
Rädelsführer
(Tagesspiegel) Potsdam — Erstmals in der Geschichte des Landes Brandenburg sind politische
Straftäter in einem Prozess als Terroristen eingestuft worden. Das
Oberlandesgericht verurteilte den Rädelsführer der rechtsextremen
Untergrundgruppe “Freikorps”, Christopher H., wegen Rädelsführerschaft und
fünf Fällen von Brandstiftung zu viereinhalb Jahren Haft. Der 20- Jährige
hatte eine Serie von Brandanschlägen auf ausländische Kleinunternehmen im
Havelland initiiert und zum Teil selbst verübt. Die weiteren elf
Angeklagten, alles Jugendliche und Heranwachsende, kamen mit Strafen
zwischen acht Monaten und zwei Jahren Haft auf Bewährung davon. Das Gericht
erlegte ihnen außerdem gemeinnützige Arbeit zwischen 100 und 200 Stunden
auf.
Die Richter folgten weitgehend der von Brandenburgs Generalstaatsanwalt
Erardo Rautenberg formulierten Anklage. Die Angeklagten hätten das Ziel
verfolgt, “Ausländern durch Brandstiftung die Existenz zu nehmen” und sie zu
vertreiben, sagte Richterin Gisela Thaeren-Daig. Sie begründete die
Verurteilung von elf der zwölf Angeklagten wegen Gründung einer
terroristischen Vereinigung unter anderem mit dem Schaden, den die
Brandstiftungen dem Ansehen der Bundesrepublik und Brandenburgs zugefügt
haben. “Die kriminelle Energie war ganz massiv.” Die Richterin bescheinigte
den Angeklagten eine “verwerfliche Gesinnung”. Die Verteidiger hatten den
Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung zurückgewiesen. Der
Anwalt des Haupttäters kündigte Revision an.
Die Kameradschaft “Freikorps” hatten elf Angeklagte auf Initiative von
Christopher H. im Juli 2003 gegründet. Ein weiterer Rechtsextremist stieß im
Oktober dazu. Die Gruppe gab sich eine vereinsähnliche Struktur mit
Schriftführer und Kassierer. Dann schlug “Freikorps” los: Von August 2003
bis Mai 2004 wurden in Nauen, Brieselang, Falkensee und Schönwalde
vietnamesische und türkische Imbisse und Restaurants sowie ein
vietnamesisches Textilgeschäft angezündet.
Bei einem Anschlag verursachten H. und ein Mittäter einen Großbrand: Als sie
Ende August 2003 in Nauen einen vietnamesischen Imbiss ansteckten, griffen
die Flammen auf ein Einkaufszentrum über. Allein dabei entstand Sachschaden
von mehr als einer halben Million Euro. Insgesamt richtete das “Freikorps”
Schäden von mehr als 600 000 Euro an. Nur durch Zufall wurde kein Mensch
verletzt.
Die Angeklagten nahmen das Urteil ohne erkennbare Regung auf. Einige hätten
sich entschuldigt, sagte die Richterin. Generalstaatsanwalt Rautenberg
berichtete später, gegen die Mutter des Rädelsführers H. sei ein Verfahren
wegen Beihilfe zur Brandstiftung eingeleitet worden. Außerdem werde gegen
einen Jugendlichen ermittelt, der von den Straftaten gewusst, sie aber nicht
angezeigt haben soll. Der Fall “Freikorps” hatte über Brandenburg hinaus
Aufsehen erregt, weil mehreren Bürgern das Treiben der Terrorgruppe bekannt
gewesen sein soll, ohne dass die Polizei informiert wurde.
Ratlosigkeit über die rechte Terrorgruppe aus Pausin
Viereinhalb Jahre Haft für Hauptangeklagten im Neonazi-Prozess
(LR) Auf der Anklagebank saßen zwölf Jugendliche — unsichtbar daneben aber auch
die Eltern, die Lehrer, ein ganzes Dorf. Sollte niemand der knapp 750
Einwohner in der Havelland-Gemeinde Pausin bemerkt haben, dass die
Jugendlichen unverhohlen ausländerfeindlich waren? Die Vorsitzende Richterin
im Potsdamer Neonazi-Prozess, Gisela Thaeren-Daig, formulierte es bei der
Urteilsbegründung gestern in Potsdam vorsichtig: “Wir haben keine Hinweise
auf eine rechtsgerichtete Erziehung”, es habe aber auch keine Reaktion auf
die offen zur Schau getragene Einstellung der Jugendlichen gegeben.
“Das Gericht geht davon aus, dass viele Erwachsene die rechte Einstellung
teilten”, sagte Thaeren-Daig. “Die Angeklagten müssten doch in der Schule
Grundbegriffe von Menschlichkeit und Toleranz gelernt haben.” Letztlich
konnte aber nicht festgestellt werden, wie es zu der Entwicklung kam, räumte
sie ratlos ein. Für Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) ist klar: Die soziale
Kontrolle von Eltern, Lehrern und Vereinen hat versagt.
Elf Jugendliche hatten in dem 750-Einwohner-Ort Pausin bei Nauen eine
rechtsgerichtete Kameradschaft gegründet. Ein zwölfter stieß später dazu.
Sie veranstalteten Partys in der elterlichen Scheune des Rädelsführers.
Diese war geschmückt mit der Reichskriegsflagge, rechte Lieder wurden
gespielt, der Hitlergruß gezeigt.
Zwei der Angeklagten hatten auf ihrem Handy-Bildschirm die Karikatur eines
Juden vor einem KZ. “Den Text dazu muss man sich auf der Zunge zergehen
lassen”, sagte die Richterin sichtlich erschüttert und zitierte: “Ich hab
Hunger, mir ist kalt, lasst mich schnell nach Buchenwald”. Auf einem der
Computer wurde Hitlers “Mein Kampf” gefunden.
Der Haupttäter, der zu viereinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt wurde,
habe von seinem Elternhaus keine Korrekturen zu erwarten gehabt, kritisierte
das Oberlandesgericht. Im Gegenteil: Gegen die Mutter ermittelt die
Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zu den Anschlägen. Sinngemäß soll sie
gesagt haben: “Lasst euch nicht erwischen!” Sie habe den Sohn in seiner
menschenverachtenden Gesinnung bestärkt.
Sehr geheim kann die Gruppe kaum gewesen sein. Sie zogen mit alten NVA- und
Feuerwehruniformen nebst Stahlhelmen durch den Wald und veranstalteten
Schießübungen mit Luftgewehren. Eine pubertierende “Jungbullenherde” eben,
sagte einer der Verteidiger in seinem Plädoyer. Das sahen wohl auch die
Nachbarn so. Erst durch einen anonymen Anruf bei der Polizei flog die
Kameradschaft auf.
Die Hypothese von zerrütteten Verhältnissen und Arbeitslosigkeit als Anstoß
für eine rechtsgerichtete Entwicklung greift hier nicht. Die Jugendlichen
stammten alle aus bürgerlichen Verhältnissen, betonte das Gericht. Sie sind
Schüler, Lehrlinge oder stehen schon im Beruf. Sie haben zumeist
berufstätige Eltern, die in Eigenheimen wohnen. Allerdings hätten sie auch
kaum Gelegenheit gehabt, Ausländer kennen zu lernen.
Auch in der Schule, dem humanistischen Goethe-Gymnasium in Nauen, war der
Rädelsführer bekannt für seine Ansichten. Seine Vorliebe für Chemie und
explosive Experimente brachten ihm den Spitznamen “Bombi” ein. In der
Abitur-Zeitung 2004 urteilten seine Mitschüler über den 20-Jährigen
(Abitur-Note 2,6): “Ähnlichkeiten zu einem österreichischen Diktator;
gefährlich; Größenwahn.” Er selbst versprach an gleicher Stelle: “Ihr hört
noch von mir.”
Hintergrund Revision angekündigt
Nach den Urteilen hat der Verteidiger des Hauptangeklagten, Michael
Tschirschke, Revision angekündigt. Alle zwölf Verteidiger seien sich vor dem
Urteil einig gewesen, dass es nicht zu einer Verurteilung wegen Gründung
einer terroristischen Vereinigung kommen könne, sagte er gestern. Das Land
Brandenburg sei durch die Anschläge auf Imbisse und Geschäfte von Ausländern
nicht geschädigt worden.