Holocaust-Überlebender Max Schindler wurde vor 66 Jahren in Cottbus verhaftet
An den Tag seiner Verhaftung kann sich Max Schindler noch genau erinnern.
Der damals neunjährige Junge war ebenso ahnungslos wie seine Eltern und die
beiden Geschwister, als sie am 28. Oktober 1938 in Cottbus inhaftiert
wurden. “Ich wurde von der Gestapo in der Schule abgeholt”, sagt Max
Schindler, der heute im kalifornischen San Diego an der Westküste der USA
lebt. Noch am selben Tag wurde die jüdische Familie mit dem Zug nach Polen
abgeschoben. Bisher war in Cottbus nicht bekannt, dass es einen
KZ-Überlebenden gibt, der aus der Spreestadt stammt.
Herbst in Kalifornien. Die Sonne brennt vom Himmel und das Thermometer zeigt
25 Grad. Max Schindler sitzt braungebrannt am Wohnzimmertisch in San Diego,
nahe der mexikanischen Grenze. Die Tätowierung “KL” am rechten Unterarm ist
deutlich zu sehen, bekommen hat er sie in einem Konzentrationslager in
Polen. Max Schindler blättert hastig in seinen Unterlagen. Es sind die
verbliebenen Bruchstücke seiner Vergangenheit. Auf einem Blatt hat er
handschriftlich die Konzentrations- und Arbeitslager notiert, in denen er
zwischen 1942 und 1945 war: Bedzieszyna, Mielec, Wieliozke, Krakau-Plaszow,
Zschach witz bei Dresden und das tschechische Theresienstadt. Arbeiten
musste er dort unter unmenschlichen Bedingungen.
Papierene Erinnerungen
Ein anderer Zettel ist vom Internationalen Suchdienst. Mitte der 50er-Jahre
bekam er das Schreiben. Dort ist der Verbleib seiner Mutter notiert. Sie sei
im Januar 1944 im Lager Stutthof bei Danzig verstorben. “Herzversagen,
allgemeine Körperschwäche”, steht dort als Todesursache. Max Schindler
schüttelt den Kopf, während er holperig die deutschen Worte vorliest.
Ansonsten spricht er nur Englisch. Ein anderes Papier ist vom Landesamt zur
Regelung offener Vermögensfragen in Brandenburg. Dort wird erklärt, dass der
Weinhändler Benjamin Schindler Konten bei der Stadtsparkasse Cottbus und der
Dresdner Bank hatte. Unterlagen, die eine Auskunft über die Höhe der Konten
geben könnten, seien trotz intensiver Recherche nicht ausfindig zu machen
gewesen. Ein Anspruch auf Entschädigung bestehe nicht, heißt es in dem
Bescheid.
Vor einigen Jahren engagierte Max Schindler einen Bremer Rechtsanwalt, gab
ihm einige hundert Dollar. “Herausgekommen ist bisher nichts”, sagt Max
Schindler. Eine Wiedergutmachungsrente haben er und seine Frau von der
Bundesrepublik zugesprochen bekommen, als sie nachweisen konnten, dass sie
körperliche Schäden davongetragen haben. “Wir hatten beide Tuberkulose”,
sagt Max Schindler. Ohne Papiere sei es schwer möglich, Ansprüche auf das
verlorene Vermögen der Familie geltend zu machen.
Als er 1945 in Theresienstadt von den Russen befreit worden ist, habe er
nichts weiter als “the skin on my bones” besessen. Ganz langsam wiederholt
er es: “Nichts weiter als die Haut auf den Knochen.” Er litt an Typhus, wie
fast das ganze Lager. Erst nach vier Wochen erholten er und sein Bruder
Alfred sich von der Krankheit. Der Vater Benjamin Schindler starb, mit nur
46 Jahren. “Ich konnte noch einige Male durch das Fenster der Krankenbaracke
mit ihm sprechen.” Eines Tages sei er dann weg gewesen, beerdigt in einem
Massengrab.
Abkehr von der Religion
Zum Mittagessen tischt Rose Schindler Bagels mit Lachsschinken, Frischkäse,
Tomaten und Zwiebeln auf — eine jüdische Mahlzeit. “Die Religion spielt für
uns keine Rolle”, sagt Rose Schindler. “Wie soll man an einen Gott glauben,
der das alles zugelassen hat?”, fragt sie, während sie den Pullover
hochschiebt und ihre tätowierte Nummer auf der Innenseite des linken
Unterarms zum Vorschein kommt. Nach Auschwitz-Birkenau sei die neunköpfige
Familie 1944 aus einer tschechischen Kleinstadt deportiert worden. “Meine
Mutter und zwei Geschwister kamen sofort ins Gas.” Dann schweigt sie. Das
Telefon klingelt, Rose Schindler nimmt ab, man hört eine dunkle Stimme durch
den Hörer. “Das ist eine Freundin, die war auch im Lager”, sagt Max
Schindler. “Fast alle unsere Freunde waren im Lager.” Die Leiden und
Demütigungen, die sie erfahren haben, können sie kaum mit anderen teilen.
1951 in die USA emigriert
Max Schindler kam mit einem Kindertransport nach England, dort lernte er
seine Frau kennen. Das Paar heiratete 1950, ein Jahr bevor es in die USA
emigrierte. Nach Cottbus zog es Max Schindler erst Jahrzehnte später zurück.
“Ich wollte das noch einmal sehen”, sagt er.
1981 reiste er mit seiner Frau nach Theresienstadt und flog anschließend
nach Ost-Berlin. Es sei eine seltsame Atmosphäre gewesen. Am Flughafen ließ
man sie erst einreisen, nachdem alle Fluggäste abgefertigt worden waren.
Auch sei es schwierig gewesen, einen Taxifahrer aufzutreiben, der die Fahrt
von Berlin nach Cottbus auf sich nahm. “Wenn sie von seinem Beruf erfahren
hätten, wären wir sicher als Spione verhaftet worden”, sagt Rose Schindler.
Ihr Mann war seinerzeit als Computerfachmann bei einem Rüstungsunternehmen
beschäftigt.
In Cottbus — auf den Spuren seiner ersten neun Lebensjahre — sprach er mit
niemandem. Max Schindler zeigt einige unscharfe, dunkle Fotos. “Mit dem
Finger deutet er auf eines. Das Straßenschild “Marienstraße” ist zu sehen.
“Da haben wir in der Nummer 19 gewohnt. Vorher hatten wir eine Wohnung in
der Calauer Straße.” Der Vater habe in der Dresdener Straße eine
Weinhandlung besessen, die ihm Mitte der 30er-Jahre von den
Nationalsozialisten abgenommen wurde. Weder an die Hausnummer noch an die
genauen Umstände der Enteignung des Geschäftes kann sich Max Schindler
erinnern. Sowieso, die Erinnerungen an Cottbus sind nur noch bruchstückhaft.
Es habe eine Schokoladenfabrik gegeben. Auch das große jüdische Kaufhaus
Schocken ist ihm präsent.
Der Name seiner Schule, die “irgendwo in der Nähe der Marienstraße war”,
fällt ihm nicht mehr ein. Am 28. Oktober 1938 wurde er dort von der Gestapo
verhaftet. Samt Schwester, Bruder und Eltern wurde er eingesperrt, ehe sie
zum Bahnhof geleitet und nach Polen verfrachtet wurden. Heinrich Himmler,
Reichsführer der SS, hatte die Anordnung zur Abschiebung erteilt, da die
polnische Regierung plante, allen im Ausland lebenden Juden die
Staatsangehörigkeit abzuerkennen.
Mit dem Zug nach Czchow
Max Schindlers Vater, Benjamin Schindler, hatte noch den polnischen Pass.
Seine Familie war in der 20er-Jahren nach Cottbus gekommen. Mit dem Zug ging
es für sie 1938 in das Dorf Czchow bei Krakau, wo noch Verwandte lebten.
Hier erlebte die Familie auch den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Wie viele
Juden aus Cottbus abgeschoben wurden, weiß Max Schindler nicht. “Der Zug war
schon voll, als er am Bahnhof eintraf.”
Nach Unterlagen des Cottbuser Stadtarchivs waren es 43 polnische Juden aus
der Stadt. Nach einer Zählung der Staatspolizeistelle Frankfurt (Oder) gab
es ein Jahr zuvor 499 jüdische Menschen in Cottbus. Für sie waren nur einige
Tage später mit der “Reichskristallnacht” die Tage in Cottbus gezählt. Über
300 von ihnen hatten bereits die Stadt verlassen. Im Sommer 1942 wurden die
letzten noch verbliebenen Juden deportiert. Erst 1998 wurde eine
Erinnerungstafel am Platz der ehemaligen Synagoge eingeweiht.
Die Ereignisse sind für Max Schindler immer noch präsent. “Er träumt fast
jede Nacht und quält sich”, sagt Rose Schindler. “Es gibt Sachen, die sind
auch nach 60 Jahren noch nicht beendet”, sagt Max Schindler. Besonders hart
habe es den Bruder getroffen, der ebenfalls in San Diego lebte und 1991
gestorben ist. “Er hatte keine Haare mehr und hat auch nie geheiratet”,
erzählt Max Schindler. Ein halbwegs normales Leben sei ihm trotz des
Überlebens nicht vergönnt gewesen.
Über ihre Erlebnisse konnten die Schind
lers Jahrzehnte nicht sprechen, schon
gar nicht in der Öffentlichkeit. Erst als ein Sohn in der Schule das
Tagebuch der Anne Frank gelesen habe, da sei sie vom Lehrer gefragt worden,
ob sie als Holocaust-Überlebende nicht darüber berichten wolle, erklärt
Rose. Seither mache sie dies gelegentlich.
Max Schindler erzählt, dass er nie damit gerechnet habe, überhaupt das
Rentenalter zu erreichen. Jetzt fühlt er sich körperlich gut. Er könne sich
unter Umständen sogar vorstellen, noch einmal nach Cottbus zu kommen. “Wenn
es eine offizielle Einladung gibt, werde ich darüber nachdenken.” “Max ist
am liebsten draußen in der Sonne”, sagt seine Frau Rose. Obwohl der Pazifik
mit seinen schönen Sandstränden nur wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt
ist, hat der 74-jährige Max Schindler vor einigen Jahren nach seiner
Pensionierung im Garten einen Swimming-Pool gebaut. “Für unsere Kinder”,
sagt die 75-Jährige. “Hitler hat es nicht geschafft, uns alle umzubringen”,
sagt sie, während sie die Familienbilder zeigt, die im ganzen Haus verteilt
hängen. Vier Kinder und neun Enkel haben sie und ihr Mann.
Hintergrund 9. November 1938
# Am 9. November 1938 wurden in fast allen deutschen Städten die Synagogen
niedergebrannt. Der Pogrom gegen die Juden wurde später als
“Reichskristallnacht” bezeichnet. Als Anlass für das Verbrechen diente den
Nationalsozialisten der Mord, den der aus Polen stammende Jude Herschel
Gryspan an einem deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris verübt hatte. Mit
knapp 2000 Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien vollzogen die
nationalsozialistischen Verbrecher die völlige Entrechtung der jüdischen
Menschen, die für viele mit ihrer Ermordung endete.
# Heute um zwölf Uhr wird in der Karl-Liebknecht-Straße in Cottbus am
Standort der 1902 errichteten und 1938 abgebrannten Synagoge der jüdischen
Opfer der Stadt gedacht. Die Stadt, die Deutsch-Israelische-Gesellschaft
sowie die neue jüdische Gemeinde veranstalten dieses Gedenken.