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Ich lebe nicht, ich existiere nur noch”

Birmingham/Mahlow . Pflegerin Cath­leen hat Noél Mar­tin in seinem
Roll­stuhl zum Mit­tagessen in den Garten geschoben. Das rote
Back­stein­haus nahe der Innen­stadt von Birm­ing­ham in Eng­land spendet an
diesem Früh­som­mertag keinen Schat­ten. Cath­leen füt­tert Mar­tin. Dann hält
die Pflegerin ihm ein Glas Wass­er mit Stro­hhalm hin. Der 45-Jährige trinkt. 

Zwis­chen­durch sagt Mar­tin: “Ich lebe nicht mehr, ich existiere nur
noch.” Einst lebenslustig und sportlich, kann Mar­tin so gut wie nichts
mehr spüren. Im bran­den­bur­gis­chen Mahlow war der far­bige Brite Noél
Mar­tin 1996 als Bauar­beit­er tätig. Am 16. Juni wurde er von zwei jungen
Recht­sex­trem­is­ten über­fall­en und schw­er ver­let­zt. Seit­dem ist Mar­tin vom
Hals abwärts gelähmt. Nur den recht­en Arm kann er inzwis­chen etwas
bewe­gen. Die deutschen Neon­azis hät­ten ihm Würde ger­aubt, sagt der
gebür­tige Jamaikaner. 

“Mir sind noch Ver­stand und Stimme geblieben” 

In drei Schicht­en küm­mern sich speziell aus­ge­bildete Helfer um ihn.
Allein fürs Auf­ste­hen, Waschen und Anziehen braucht er fünf Stunden.
Täglich ver­liert Noél Mar­tin Blut. Im Dezem­ber wäre er daran beinahe
gestor­ben. Mar­tin weiß: “Ich kön­nte jede Minute, jeden Tag sterben.”
Nach Mahlow würde er aber gerne noch ein­mal reisen, obwohl er vor zwei
Jahren von Fre­un­den der Täter eine Mord­dro­hung erhielt. Nach dem
Über­fall war er 2001 dor­thin zurückgekehrt. 

Mar­tin sagt, er habe die bei­den Mahlow­er Täter, die inzwis­chen wieder
aus dem Gefäng­nis ent­lassen sind, weit­ge­hend aus seinen Gedanken
ver­ban­nt. “Damit ver­schwende ich meine Zeit nicht.” Angst vorm Sterben
hat er nicht:“Wenn ich zu viel lei­de, ver­weigere ich die
Blut­trans­fu­sio­nen, dann ist es vor­bei. Mir sind noch Ver­stand und Stimme
geblieben”, sagt er trotzig. Und die benutzt er, um Rechtsextremismus
und Ras­sis­mus die Stirn zu bieten. Am eige­nen Beispiel zeigt er, wohin
blind­er Hass und Gewalt führen können. 

Ras­sis­mus ist All­t­ag für den Jamaikaner 

Zeit seines Lebens ist Mar­tin von Rassen­hass betrof­fen gewe­sen. “Als ich
vier Jahre alt war, wollte mich ein Weißer auf Jamai­ka mit einem Messer
umbrin­gen”, sagt Mar­tin. In Eng­land wurde er bere­its kurz nach seiner
Ein­reise 1969 von Ras­sis­ten attack­iert. In Mahlow passierte dann der
bru­tale Über­fall von Neon­azis. Einzel­heit­en aus Mar­tins Leben sollen
bald in einem Buch nachzule­sen sein. Er erzählt sein­er Berliner
Ver­traut­en Robin Her­rn­feld seine bewe­gende Lebens­geschichte, sie fragt
nach und ver­fasst das Buch, für das aber noch kein Ver­leger gefun­den ist. 

In seinem Haus in Birm­ing­ham wohnt der Gelähmte seit 18 Jahren. Nach dem
Über­fall musste das Gebäude kom­plett behin­derten­gerecht umge­baut werden.
Es ver­fügt jet­zt über einen Aufzug, ein neues Badez­im­mer und einen
Train­ingsraum. Mit ein­er Tele­fo­nan­lage hält Mar­tin Kon­takt zur
Außen­welt. Die Umbauar­beit­en kosteten zir­ka 200 000 Euro. Darunter waren
viele Spenden­gelder aus Deutschland. 

Der Jugen­daus­tausch kommt nicht in Fahrt 

Schon 2001 verabre­de­ten Noél Mar­tin und der dama­lige Ministerpräsident
Man­fred Stolpe (SPD) die Ein­rich­tung eines Fonds, der Begeg­nun­gen junger
Leute aus den Regio­nen Mahlow und Birm­ing­ham fördern soll. Mar­tin will
auch mit recht­sex­tremen Jugendlichen darüber disku­tieren, warum sie
gewalt­bere­it sind und ihre Ein­stel­lun­gen ändern. Im Fonds sind derzeit
knapp 35 000 Euro. 

Doch der Jugen­daus­tausch kommt nicht in Fahrt. “Ich bin nicht
zufrieden”, sagt Mar­tin. Für eine vierte Reise von Jugendlichen nach
Birm­ing­ham fehlen derzeit noch Betreuer. Es gebe im Birm­ing­ham “keine
Ansprech­part­ner”, bedauert Ingo Thiede­mann vom Fördervere­in Fre­unde der
Her­bert-Tschäpe-Schulen in Mahlow. Dem wider­sprach Mar­tin jedoch und
erneuerte seine Forderung, dass “Neon­azikids” aus der Region Mahlow in
die Reiseg­rup­pen aufgenom­men wer­den müssten. Aber diese Jugendlichen
haben kein Interesse. 

Mar­tin wie Thiede­mann kri­tisierten, dass der “Noél-und
Jaque­line-Mar­tin-Fonds” zu unbekan­nt in Bran­den­burg ist. Alle hoffen,
dass durch die 2006 in Mahlow geplante Schul­fußball-WM, bei der auch
Teams aus Birm­ing­ham mit­kick­en, der Aus­tausch beginnt.

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