“Ich wollte sie nicht erschrecken”
Prozess wegen Attacke auf türkische Familie
BERNAU. Drohbriefe, Angriffe und Beschimpfungen. Derartiger Attacken muss sich die deutsch-türkische Familie Canaydin erwehren, seit sie im Juli 2001 aus Berlin in ein Häuschen nach Basdorf (Barnim) gezogen ist. Die Canaydins wurden — wie berichtet — unter Polizeischutz gestellt, es gab eine Einwohnerversammlung und die Justiz versprach, die Taten rasch zu ahnden.
Und so musste sich am vergangenen Mittwoch im ersten Prozess ein 22-jähriger Mann aus Berlin vor dem Amtsgericht Bernau verantworten. Doch wie sich herausstellte, gehört er wohl nicht zu den Jugendlichen, die der Familie das Leben in Basdorf absichtlich schwer machen wollen.
Benjamin D., so formulierte es Staatsanwältin Petra Marx zunächst, soll am 11. März mit seinem Ford auf die Familie Canaydin zugerast sein. Nur durch einen Sprung zur Seite hätten sich Mutter Martina Canaydin und ihre drei Töchter vor dem Fahrzeug retten können. Am Ende der Verhandlung wurde das Verfahren gegen den jungen Mann wegen Geringfügigkeit eingestellt. Es sei durch einen Täter-Opfer-Ausgleich gelungen, in diesem Fall den Rechtsfrieden wieder herzustellen, sagte Staatsanwältin Marx.
Benjamin D. hatte vor Gericht beteuert, er habe die Canaydins vor dem 11. März nicht gekannt und auch nicht gewusst, dass sie seit Monaten tyrannisiert werden. An jenem Tage habe er seine Freundin abholen wollen, die in einem Basdorfer Schreibwarengeschäft arbeite. Martina Canaydin und ihre Töchter will er nicht am Straßenrand gesehen haben, als er mit seinem Wagen “vermutlich wirklich zu schnell” um die Kurve gefahren ist. “Ich wollte sie nicht erschrecken.”
Die Canaydins erstatteten damals Anzeige gegen den Fahrer des Fords. Benjamin D. musste seinen Führerschein abgeben. Schon wenig später ging er aus eigenem Antrieb zu den Canaydins und entschuldigte sich. “Ich kann die Familie hundertprozentig verstehen”, sagte er vor Gericht. Auch er hätte in dieser Lage den Autofahrer angezeigt. Am Ende des Prozesses bekam Benjamin D. seinen Führerschein wieder — auf Wunsch der Canaydins.
Sylvia Henning vom Verein “Sprungbrett e. V.” war als Mediatorin am Täter-Opfer-Ausgleich zwischen der Familie und Benjamin D. beteiligt. “Der junge Mann hat sich wirklich nicht als Täter gefühlt”, sagte sie. Es sei ihm anzurechnen, dass er ein Gespräch mit der Familie gesucht habe. “Die Canaydins haben zuletzt gesagt, dass sie wohl keine Anzeige erstattet hätten, wenn es nicht im Vorfeld die vielen Übergriffe gegeben hätte”, sagte Sylvia Henning.
Sie hat inzwischen in fast allen Fällen von Angriffen auf die deutsch-türkische Familie — nach ihren Angaben sind es sechs oder sieben — einen Täter-Opfer-Ausgleich vermittelt. So etwas führe vor Gericht nicht automatisch zur Einstellung des Verfahrens, wirke sich aber strafmildernd aus. “Der Täter hat die Chance, sich zu entschuldigen und das Opfer kann menschliche Größe zeigen, und die Entschuldigung annehmen”, sagte die Mediatorin.
Nur in einem Fall ist so ein Treffen zwischen einem der Tatverdächtigen und den Canaydins noch nicht zu Stande gekommen. Aber die Mediatorin hofft noch auf eine solche Konfliktlösung. Die Mutter des jungen Mannes saß am Mittwoch zwischen den Zuschauern.