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Im Establishment angekommen

(MAZ, 28.8.) NEURUPPIN Was waren das für Nächte, damals im Spät­som­mer 1993. Anstatt wie
ihre Altersgenossen an Bade­seen zu faulen­zen, hat­ten 20 junge Leute aus
Neu­rup­pin tage­lang disku­tiert und sich dann das Haus in der Bebel­straße 66 für ihre
Pläne aus­ge­sucht. Mit Werkzeug aus­gerüstet, drangen sie in der Nacht zum 1.
August 1993 in das leer ste­hende Gebäude ein und hängten ein Stofftransparent
an die Außen­fas­sade: „Beset­zt!“

Die Aufre­gung in der Stadt war groß, Haus­be­set­zer kan­nte man bish­er nur aus
Presse­bericht­en über die Szenen in Berlin oder Pots­dam. Und dann hier, die
eigene Jugend? „Wir wollen bil­li­gen Wohn­raum, wir wollen gemein­sam leben, wir
wollen Kul­tur organ­isieren, die sich alle leis­ten kön­nen“, bracht­en die
Beset­zer ihre Forderun­gen auf einen Punkt. Zuerst hat­ten sie aber ganz andere
Sor­gen: Fast jede Nacht grif­f­en Neon­azis aus der Region das Haus an. Selbst
Schüsse aus Gaspis­tolen hall­ten durch die Bebel­straße. Bald ließ sich der damalige
Bürg­er­meis­ter Joachim Zindler bei den Haus­be­set­zern blick­en. Zindler lotste
die Jugendlichen in das leer ste­hende Nach­barhaus neben dem Heimat­mu­se­um. Da
kön­nten die Jugendlichen rein und ihre Pläne verwirklichen.
Damit endet die Geschichte des einzi­gen beset­zten Haus­es Neuruppins
eigentlich schon. Aber hier fängt auch die Geschichte des Mit­ten­drin an. Das
Jugend­wohn­pro­jekt Mit­ten­drin e.V. – so der offizielle Titel – feiert in diesen Tagen
seinen zehn­ten Geburt­stag. Die Zeit der Beset­zung dauerte nicht viel länger
als eine Woche, doch der Mythos der sub­ver­siv­en Aktion von damals wirkt bis
heute nach. 

Im inzwis­chen in der Schinkel­straße 15a heimis­chen Vere­in ist im Laufe eines
Jahrzehnts vieles in geord­nete Bah­nen gelenkt wor­den. Man beschäftigt
Angestellte, bemüht sich um Fördergelder, arbeit­et im Jugend­beirat mit, ist
„anerkan­nter freier Träger der Jugend­sozialar­beit“, die Wohnge­mein­schaft firmiert
unter der offiziellen Beze­ich­nung „betreutes Wohnen“.
Aber die Ver­bun­den­heit zur linken Szene ist den­noch unüberse­hbar. Das fängt
bei den wilden Frisuren und Klam­ot­ten bei etlichen der 30Vereinsmitglieder an
und reicht bis zu den zahllosen „Antis“, zu denen man sich durch die im
Vere­in­scafé aus­gelegte Lit­er­atur, durch Plakate und Fly­er beken­nt: Man ist
Anti-Atom­kraft, anti­sex­is­tisch, anti­ras­sis­tisch und gegen Nazis sowieso, und hier
und da auch antikap­i­tal­is­tisch. Auf den Ver­anstal­tung­sh­in­weisen für Infoabende
darf das poli­tisch kor­rek­te „-Innen“ hin­ter „Ref­er­ent“ nicht fehlen. Dass es
auch aus­drück­lich weib­liche Ref­er­enten gibt, darf im Sprachge­brauch nicht
unter­schla­gen wer­den. Son­st dro­ht der AutorIn des Fly­ers scharfe Kri­tik im
Plenum. 

Jeden Dien­stag, 19 Uhr, set­zen sich Vere­ins­mit­glieder und NutzerIn­nen des
Mit­ten­drin zusam­men, besprechen die alltäglichen Prob­leme: Wer schiebt beim
näch­sten Konz­ert die Schicht hin­term Tre­sen? Wieso ist das Klopa­pi­er schon
wieder alle? Warum, ver­flixt und zugenäht, wurde der Abwasch in der Küche mal
wieder nicht ordentlich erledigt? – Streng basis­demokratisch wer­den im Plenum
Lösun­gen für diese Fra­gen gefun­den. Diese Szene-Rit­uale mögen auf Außenstehende
und jün­gere Mit­ten­drin­ler befremdlich wirken. Doch wegzu­denken sind sie auch
zehn Jahre nach der Haus­be­set­zung nicht. Im Gegen­satz dazu – früher
unvorstell­bar – wachen die Geschäfts­führung und der dreiköp­fige Vor­stand über das
Treiben im Haus und ver­suchen den Überblick zu behal­ten. Auf die Ein­hal­tung der
Vere­inssatzung kön­nten auch Kan­inchen­züchter­vere­ine kaum strenger achten. 

Keine Frage, das Mit­ten­drin ist inzwis­chen in den Insti­tu­tio­nen der Stadt
angekom­men, also „befriedet“. Aber wenig­stens ver­bal entschei­det man sich an
der Mit­ten­drin-Basis immer noch für die Rev­o­lu­tion. Beson­ders gegen die
Neon­azis in der Stadt engagierte man sich aus eigen­er Betrof­fen­heit heraus.
Seit den Anfangsta­gen war das linke Mit­ten­drin Feind­bild Num­mer eins für die
extremen Recht­en der Region. 1995 drangen etwa 30 Nazis in die Räume der
Bebel­straße 17 ein und zer­störten die untere Etage fast kom­plett. Am
Sil­vester­abend 1997/1998 griff eine Nazi­gruppe die Mit­ten­drin-Par­ty an. Die Partygäste
ver­bar­rikadierten sich hin­ter der stäh­ler­nen Ein­gangstür, bis die Polizei die
Ansamm­lung der Recht­en auflöste. Der Angriff war abgewehrt, doch die Party
wollte danach nicht mehr so richtig in Gang kom­men. Zu solcher­lei Übergriffen
kommt es heute nicht mehr. In dieser Hin­sicht ist es in Neu­rup­pin ruhiger
gewor­den, auch wenn bis heute die Fen­ster­scheiben immer wieder mal von – so wird
im Mit­ten­drin gemut­maßt – Recht­en einge­wor­fen wer­den. „Die kaput­ten Scheiben
zählen wir schon gar nicht mehr”, heißt es auf der Inter­net­seite des Vereins. 

Das Mit­ten­drin im Jahr 2003 will jugend­kul­turell das „Salz in der Suppe“ der
Stadt sein. So verkün­det es eine Wand­malerei im Innen­hof. Das scheint zu
klap­pen: 137Bands aus 22Ländern trat­en im Laufe der Jahre auf, hinzu kommen
ungezählte Infover­anstal­tun­gen, Work­shops und Ferien­fahrten. Auf den 600
Quadrat­metern Nutzfläche in der Schinkel­straße 15a sind neben dem Café ein
Sieb­druck­be­trieb, eine Fahrrad­w­erk­statt, ein Ver­anstal­tungs- und Kino­raum, ein
Sem­i­nar­raum, Büros, eine Küche, die Wohnge­mein­schaft und ein Bandproberaum
angesiedelt.
Möglichkeit­en für junge Leute, sich kreativ einzubrin­gen, sind also
zahlre­ich vorhan­den und wer­den nach Kräften genutzt. Bis zu 35Jugendliche tummeln
sich derzeit nach Schulschluss im Haus, nutzen die Ange­bote oder hän­gen mit
ihren Fre­un­den herum. Fast allen ist die Geschichte des Mit­ten­drins bewusst, die
Haus­be­set­zerver­gan­gen­heit macht einen guten Teil seines Chic aus, auch wenn
es heute nicht mehr ganz so aufre­gend ist. 

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