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Im Traumzauberland der deutschen Realität

(Autonome Jugen­dan­tifa Bernau [ajab] auf Indy­media, 19.05.2005, 18:10)

Als sich am 27. April erneut der Märkische Heimatschutz (MHS) in Bernau ankündigte um unter dem Mot­to „Krim­inelle Aus­län­der ausweisen“ zu demon­stri­eren, war den kri­tis­chen Antifaschis­ten vor Ort klar, dass alles beim Alten bleiben würde: die Neon­azis um den MHS marschieren gemein­sam mit den Bernauer Nazis durch die Stadt, die Linken laufen hin­ter­her und das Net­zw­erk für Tol­er­anz und Weltof­fen­heit mok­iert sich über die Son­nen­brillen und mil­i­tan­ten Sprüche der Let­zt­ge­nan­nten. Doch lei­der musste denen Recht gegeben wer­den, die sich dacht­en „schlim­mer geht‘s immer“ und daher gemein­er­weise als Pes­simis­ten gebrand­markt, anstatt für ihren Scharf­sinn bewun­dert werden. 

Am Auf­marsch beteiligten sich unge­fähr 120 Neon­azis aus dem Umfeld des MHS und dem Nationalen Bünd­nis Preußen (NBP) aus Bernau. Promi­nen­teste Vertreter waren Gor­don Rein­holz, Thomas „Stein­er“ Wulff, René Bethage, Chris­t­ian Banask­iewicz und Andreas Thür­mann. Anlass dieser war eine Gerichtsver­hand­lung im Bernauer Amts­gericht, in der ein türkisch­er Imbissverkäufer der sex­uellen Nöti­gung junger Mäd­chen in zwei Fällen beschuldigt wurde. Die in der recht­en Szene typ­is­che Agi­ta­tion gegen „krim­inelle Aus­län­der“ und Verge­waltiger vor allen von kleinen, deutschen Mäd­chen, über­raschte nicht. Lediglich die Präsenz des MHS in Bernau ver­wun­derte, schließlich nah­men sie am Auf­marsch gegen den linken Jugend­club DOSTO im Jan­u­ar 2005 ver­mut­lich wegen Dif­feren­zen mit den NPD-nahen Struk­turen in Bernau nicht teil. Nicht zulet­zt auf­grund der augen­schein­lichen Aussöh­nung erre­ichte die Teil­nehmerzahl auf dem sech­sten Auf­marsch in Bernau inner­halb eines Jahres, trotz spon­tan­er Mobil­isierung, einen trau­ri­gen Höhep­unkt. Die völkische Pro­pa­gan­da der Neon­azis kon­nte – volk­snah — wie schon bei den Aufmärschen gegen den Sozial­ab­bau von Rot-Grün im Herb­st ver­gan­genen Jahres dies­mal sog­ar durch die Innen­stadt getra­gen wer­den. Aus strate­gis­chen Aspek­ten wurde der Anschlag auf den türkischen Imbiss des ehe­ma­li­gen Besitzers nicht erwäh­nt, eben­so wenig wie der Anschlag auf das DOSTO in der Nacht nach dem Auf­marsch gegen den Jugendclub. 

Nach­dem das Gewalt­po­ten­tial der lokalen Neon­aziszene im Ver­gle­ich zu den 90er Jahren deut­lich zurück­ge­gan­gen ist, entwick­elt sich aktuell eine neue Qual­ität recht­sex­tremer Aggres­sio­nen. Dabei wird beson­ders die Medi­en­wirk­samkeit zum entschei­den­den Fak­tor. Für die Zivilge­sellschaft stellt sich zwangsläu­fig die Auf­gabe aus mehr Nazis weniger und aus weniger Antifaschis­mus mehr zu machen. Inhalt und Funk­tion dieses Para­dox­ons sollen im Fol­gen­den näher erläutert werden. 

Man muss nicht erst den Text der Gruppe Daniljuk zur Befreiung Bernaus gele­sen haben um die deutsche Real­ität auf Bernau zu pro­jizieren. Erin­nerungskul­tur und Staat­san­tifa im Gepäck befre­it sich Deutsch­land gegen­wär­tig von sein­er Ver­gan­gen­heit. Als ver­längert­er Arm der Berlin­er Repub­lik in Bernau agiert das Net­zw­erk für Tol­er­anz und Weltof­fen­heit. Seit unge­fähr einem Jahr, seit dem ersten Auf­marsch des MHS am 21. April 2004, treibt es sein Unwe­sen. Anlässlich der Reich­s­pogrom­nacht und des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz organ­isierte das Net­zw­erk Gedenkver­anstal­tun­gen, gegen die Aufmärsche der Neon­azis wurde die Zivilge­sellschaft mobil­isiert. Die Linke hat sich trotz anfänglich­er Bauch­schmerzen in das Net­zw­erk inte­gri­ert und bekommt nur noch Migräne, wenn ihr DOSTO aus deren Rei­hen kri­tisiert wird. Aus strate­gis­chen Grün­den, schließlich hat­ten die Mit­glieder im Net­zw­erk indi­rekt Ein­fluss auf die Frage der Finanzierung eines neuen Objek­tes für das herun­tergekommene DOSTO, pak­tierten bei­de Parteien. Obwohl mit­tler­weile klar ist, dass das DOSTO ein neues Gebäude bekommt, hat sich an dem Appease­ment nichts geän­dert. Als müsste man den Bernauer Linken Geschicht­srel­a­tivis­mus auf dem Sil­bertablett servieren, ignori­erten diese die Plakate, die das Net­zw­erk am 27. April auf dem Mark­t­platz aufhing. In Anlehnung an die Zigaret­ten­war­nun­gen standen dort die Slo­gans „Nation­al­sozial­is­mus führt zu Krieg“ und „Nation­al­sozial­is­mus kann tödlich sein“. Die Wider­wär­tigkeit dieser Idee wird nur noch durch den Kon­text der Aus­sagen übertroffen. 

Beson­ders die Anspielung auf den 2.Weltkrieg passt in den aktuellen Geschichts­diskurs in Deutsch­land, dessen Schw­er­punkt auf dem Kriegsende 1945 liegt. Die Lei­den der Deutschen im Zusam­men­hang mit dem Krieg, die unter den Stich­wörtern „alli­iert­er Bomben­ter­ror“ und „Vertrei­bung“ die Runde machen, sind wesentlich­er Bestandteil der bun­des­deutschen Erin­nerungskul­tur. Selb­st den Bernauer Kuschellinken sind in diesem Kon­text geschicht­sre­vi­sion­is­tis­che Bemerkun­gen aufge­fall­en, so zum Beispiel der Ver­gle­ich der roten Fahne mit der Fahne der NSDAP, den die Vor­sitzende des Net­zw­erkes Eva-Maria Rebs auch später nicht rev­i­dierte und vielmehr bei der eigens zur Klärung organ­isierten Diskus­sionsver­anstal­tung fest­gestellt wer­den musste, dass diese Äußerung nur die Spitze des Eis­berges war. Die weni­gen Antifaschis­ten, welche die Bom­bardierung deutsch­er Städte durch angloamerikanis­che Alli­ierte und das Exis­ten­zrecht Israels vertei­digten, wur­den als Faschis­ten dif­famiert und von nun an als „uner­wün­schte Per­so­n­en“ bei Anti-Nazi-Aktio­nen isoliert. Zum Tag der Befreiung Bernaus um den 20./21. April erschienen mehrere Artikel in den lokalen Zeitun­gen, zu denen das Net­zw­erk im übri­gen gute Kon­tak­te pflegt, die das beliebte Motiv der von Sol­dat­en der Roten Armee verge­waltigten, deutschen Frauen entkon­tex­tu­al­isiert auf­grif­f­en. Neben den Leuten vom Net­zw­erk hätte man auch die lokalen Antifas, deren Engage­ment sich im exzes­siv­en Kleben von Aufk­le­bern gegen Verge­waltiger erschöpft, auf dem Nazi­auf­marsch am 27. April erwarten kön­nen. Dass wir mit dieser doch eher zynisch intendierten Analyse wieder ein­mal Recht behal­ten soll­ten, hat sog­ar uns über­rascht. Tat­säch­lich schloss sich der 40-köp­fige Mob um das Net­zw­erk, das keine Gegenkundge­bung organ­isierte, dem Auf­marsch an. Dieser aus Ver­hand­lun­gen mit der Polizei resul­tierende Kom­pro­miss, brachte nicht ein­mal die antifaschis­tis­che Avant­garde dazu, sich dem Szenario zu entziehen. Ob dies als Voyeuris­mus, Drang zur Selb­st­darstel­lung oder Aus­druck der Gle­ichgültigkeit zu inter­pretieren ist, spielt keine Rolle. Hat man sich doch der abzulei­t­en­den Kri­tik gegenüber immun gemacht. So waren sich alle Anwe­senden einig in ihrem guten Gewis­sen, wenig­stens etwas gegen die Nazis getan zu haben. Dass sich die mit dem guten Gewis­sen vielmehr lächer­lich gemacht haben, ist auch den Neon­azis nicht entgangen. 

Die Ver­harm­lo­sung der deutschen Ver­nich­tung­stat impliziert neben dem Aspekt der his­torischen Igno­ranz auch noch den der emo­tionalen Dis­tanz. Der Kreativ­ität des Net­zw­erkes und des DOSTO‘s kann nicht ein­mal die Ver­nun­ft Gren­zen set­zen, die im Irrgarten der Irra­tional­ität unauffind­bar zu sein scheint. Obwohl vor allem die Bernauer Linken doch eher fühlen als denken, ist von Empathie für die Opfer der Shoah nichts zu spüren. Wie soll man son­st die Gle­ichgültigkeit der Linken gegenüber den Plakat­en auf dem Bernauer Mark­t­platz inter­pretieren? „Nation­al­sozial­is­mus kann tödlich sein“ stand dort geschrieben, wo vor mehr als 60 Jahren der Reich­spro­pa­gan­damin­is­ter Joseph Goebbels eine Rede hielt. 

Diese emo­tionale Dis­tanz artikulierte sich schon bei den Protesten gegen den Auf­marsch im Jan­u­ar, der sich gegen die Finanzierung des Jugend­clubs DOSTO richtete. Zwar wurde das angedachte Mot­to der Gegenkundge­bung „Nazis au
slachen“ ver­wor­fen, dafür waren um den Bernauer Bahn­hof Plakate mit Slo­gans wie „Thor war Aus­län­der“ oder „Borgt euch doch ein Zelt“ ange­bracht. Damit befind­et sich das Net­zw­erk in einem gewis­sen Wider­spruch zur rot-grü­nen Staat­san­tifa, die sich das Ver­höh­nen von den Opfern der Nazis nicht leis­ten kann, im Gegen­teil die Shoah sog­ar als „Teil der deutschen Iden­tität“ (Bun­de­spräsi­dent Horst Köh­ler) definiert. 

Abge­se­hen von der gerin­geren Sen­si­bil­ität ste­ht das Net­zw­erk dem offiziellen „deutschen Weg“ jedoch in nichts nach, der prov­inzielle Rück­stand Bernaus ist min­i­mal. Die eigene Schuld wird einge­s­tanden und an eine abstrak­te, deutsche Ver­ant­wor­tung gekop­pelt, der erst­mals 1999 im Bom­barde­ment Jugoslaw­iens Aus­druck ver­liehen wurde. 

Doch zurück ins Traumza­uber­land: Der Bericht auf infori­ot von „Bernauer Antifa“, wo von 100 Gegen­demon­stran­ten und mas­siv­en Störun­gen die Rede ist, deutet sowohl von Zahlen­blind­heit, als auch von Hal­luz­i­na­tio­nen. Der Protest lässt sich objek­tiv fol­gen­der­maßen beschreiben: Frau Rebs und ihre Kol­le­gen ste­hen vor dem Rathaus und vertei­di­gen ihren Arbeit­splatz und das Sym­bol der Stadt. Die PDS-Lang­tagsab­ge­ord­nete Dag­mar Enkel­mann (die bei der Land­tagswahl 2004 beina­he zur Bran­den­burg­er Min­is­ter­präsi­dentin gewählt wurde) hält den Neon­azis Plakate vor das Gesicht. Der Sparkassenchef Josef Keil (SPD) disku­tiert mit den anwe­senden Neon­azis. Einige Antifas plaud­ern mit Vertretern der Anti-Antifa aus dem Umfeld der Autonomen Nation­al­is­ten Berlin (ANB). Die üblichen Verdächti­gen aus dem­linksradikalen Lager wer­den schon frühzeit­ig in Gewahrsam genom­men. Ein paar Jugendliche, bei denen der eine oder andere Zufall dafür ver­ant­wortlich zu machen ist, dass sie selb­st (noch) keine Nazis sind, laufen den Nazis hinterher. 

Faz­it: Der blinde Aktion­is­mus der antifaschis­tis­chen Gege­nak­tiv­itäten musste sich ein­mal mehr der zahlen­mäßi­gen, organ­isatorischen und rhetorischen Über­legen­heit der Neon­azis geschla­gen geben. Eine kon­se­quente, inhaltliche Auseinan­der­set­zung mit der aktuellen Entwick­lung rechter Struk­turen find­et jedoch wed­er in der Linken, noch im Net­zw­erk für Tol­er­anz und Weltof­fen­heit statt. Dafür wird Humor in Stel­lung gebracht, der jedoch nicht anders zu deuten ist, als der Ver­such die recht­en Ten­den­zen herun­terzus­pie­len. Wie unange­bracht dieser Ver­such ist, verdeut­lichen nicht zulet­zt die Ereignisse vom 27. April. Die einzi­gen, die was zu lachen hat­ten, waren schließlich die Neonazis. 

Dem Stan­dort­prob­lem ein­er Frau Rebs muss angesichts dieses Dilem­mas medi­al nachge­holfen wer­den. Betra­chtet man die Berichter­stat­tung nach dem Auf­marsch, fällt auf, dass trotz der guten Kon­tak­te zur Presse und der Anwe­sen­heit des immer anwe­senden Fotografen der Märkischen Oderzeitung (MOZ), das Szenario völ­lig ver­harm­lost wird. Es dominieren Beiträge über antifaschis­tis­che Gege­nak­tiv­itäten, die selb­stver­ständlich sug­gerieren, „dass das Bild der Stadt in der Öffentlichkeit, das durch rechte Aufmärsche geprägt wurde, falsch ist“ (Bürg­er­meis­ter Hubert Hand­ke in der MOZ vom 6.05.05). Darüber hin­aus find­en sich in der MOZ immer wieder Recht­fer­ti­gungs­gründe für die gerin­gen Teil­nehmerzahlen der Gegenkundge­bun­gen des Net­zw­erkes, so zum Beispiel die kurzfristige Anmel­dung der Aufmärsche und der Umstand, dass „Bürg­er, die ihnen [den Nazis] wider­sprechen wollen, [durch die Polizei] daran gehin­dert“ wer­den (MOZ vom 28.04.05). Um dem Lokalpa­tri­o­tismus der Bernauer Linken gerecht zu wer­den, der sich hin­ter deren Lieblingspa­role „Bernau bleibt rot“ ver­steckt, müssen Zahlen und Fak­ten zwangsläu­fig ver­dreht wer­den. Schließlich war man doch hier so stolz über die Dom­i­nanz der eige­nen Sub­kul­tur. Dafür aber gab es damals noch keine Anti­deutschen, auf die sich der Selb­sthass pro­jizieren ließ und auch nicht die Vielzahl an öffentlichen Auftrit­ten rechter Struk­turen, die das links­deutsche Unver­mö­gen zur Selb­stre­flek­tion zu stim­ulieren ver­mocht­en. Selb­st dem hal­luzinieren­den Ver­fass­er des oben erwäh­n­ten Bericht­es muss inzwis­chen klar gewor­den sein, dass die „guten, alten Zeit­en“ ad acta zu leg­en, neue Wege zu beschre­it­en sind. Die Kol­lab­o­ra­tion mit den zivilge­sellschaftlichen Akteuren des „deutschen Weges“ wird als strate­gis­ch­er Akt ratio­nal­isiert und sub­til ver­drängt, dass antifaschis­tis­che Gegenkul­tur in Bernau augen­schein­lich non-exis­tent ist und unter dem Strich lediglich ein klein­er Haufen iden­titär­er Linke übrig bleibt, denen offen­sichtlich nichts wichtiger ist, als auch als solche iden­ti­fiziert zu werden. 

Bleibt festzuhal­ten, dass einiges los ist im Traumza­uber­land. Aber hier leben – nein danke! 

AUTONOME JUGENDANTIFA BERNAU [AJAB]

Mai 2005

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