POTSDAM/FORST Die Mitglieder der Familie Nguyen aus Spremberg (Spree-Neiße) sollen offenbar nun doch nicht getrennt nach Vietnam abgeschoben werden. Nach einer Intervention des Petitionsausschusses des Landtags und einer Sitzung des Kabinetts am Dienstagabend bemüht sich das Potsdamer Innenministerium statt dessen bei der vietnamesischen Botschaft um die Beschaffung der fehlenden Reisedokumente für den 39-jährigen Familienvater, so Sprecherin Bettina Cain. “Wir vermuten, dass er zu seiner Person keine richtigen Angaben gemacht hat, das ist unsere Erfahrung aus anderen Fällen.” Bisher hatte die Behörde — gestützt auf einen Gerichtsbeschluss — darauf beharrt, zunächst die 38-jährige Nguyen Thi Hang mit den drei in Deutschland geborenen Söhnen im Alter von zwei bis neun Jahren auszuweisen.
Hoang Van Thuy sollte nach dem Plan des Innenministeriums später abgeschoben werden. Das könne geschehen, sobald die vietnamesische Botschaft die Rückübernahmeerklärung für den Familienvater ausgestellt habe. Ohne diese Erklärung ist nach dem Rückübernahmeabkommen mit Vietnam keine Einreise möglich. Für die Mutter und die drei Söhne der Familie liegt die Erklärung seit kurzem vor.
SPD-Fraktionschef Gunter Fritsch sieht eine humanitäre Lösung für die Familie in greifbare Nähe gerückt. “Ich habe das Gefühl, dass eine gemeinsame Ausreise für die Familie möglich ist”, sagte er gestern der MAZ. Indem das Kabinett eine Entscheidung über den Antrag des Petitionsausschusses auf Januar vertagt habe, sei Zeit für eine Lösung gewonnen worden. Der Petitionsausschuss unter seiner Vorsitzenden Marina Marquardt (CDU) hatte dafür plädiert, Mutter Nguyen sowie den drei Söhnen eine befristete Duldung solange zu erteilen, bis eine gemeinsame Ausreise der Familie möglich sei.
Dass die Familie ausreisepflichtig ist, gilt als unstrittig. “Die Rechtslage ist eindeutig”, betonte Staatskanzleichef Rainer Speer (SPD) gestern. “Die Familie hat keinen Anspruch auf Asyl”, erklärte SPD-Fraktionssprecher Ingo Decker. “Formal richtig”, aber “lebenspraktisch eine Ungerechtigkeit”, nannte auch SPD-Parteisprecher Klaus Ness den Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom September 2001.
Die Gerichtskammer hatte entschieden, dass “eine vorübergehende Trennung der Familie einer Ausweisung nicht entgegenstehe”, so Sprecher Matthias Vogt gestern. Was “vorübergehende Trennung” bedeute, habe das Gericht nicht präzisiert. Theoretisch könnten das Tage, aber auch Jahre sein. Dass es sich um einen langen Zeitraum handeln kann, zeigt die Geschichte des Asylverfahrens der Nguyens. Obwohl ihr Antrag 1996 abgelehnt wurde und sie seither ausreisepflichtig sind, scheiterte die Ausweisung an fehlenden Dokumenten — auch dem Dokument, das für Hoang Van Thuy bis heute nicht vorliegt.
Neben einer rechtlichen Seite habe der Fall Nguyen auch eine “tragische” Komponente, so der Landrat von Spree-Neiße, Dieter Friese (SPD). Besonders deutlich wird dies mit Blick auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus.
Es hatte — formal korrekt — beschlossen, dass die Altfallregelung nicht auf die Familie Nguyen anwendbar sei. Als Altfälle im Ausländerrecht gelten Personen, die keinen Asylanspruch haben, aber vor dem 1. Juli 1993 in Deutschland lebten und bestimmte Kriterien erfüllen: Sie dürfen nicht als vorbestraft gelten, müssen über eigenen Wohnraum verfügen und nachweisen, dass sie entweder Arbeit haben oder sich nachweislich darum bemüht haben. Der Stichtag für diesen Nachweis ist der 19. November 1999.
Bis zu diesem Stichtag, so Gerichtssprecher Vogt, hätten die Nguyens die beiden letzten Voraussetzungen nicht erfüllt. Das Gericht berücksichtige nicht, wenn sich nach dem Stichtag die wirtschaftliche Situation einer Familie verbessere — wie bei den Nguyens.
Seit Januar 2000, also kurz nach dem Stichtag, arbeitet der 39-jährige Hoang Van Thuy als Kellner in einem Asia-Restaurant, so Landrat Friese. “Seit Oktober 2001 liegt zudem ein schriftlicher Verzicht der Familie auf Sozialhilfe vor. Sie sind also Selbstversorger.”
Dass zum Stichtag weder Hoang Van Thuy noch seiner Frau gearbeitet hatten, begründet Friese so: “Die Frau hatte eine Risikoschwangerschaft und lag darnieder, und ihr Mann kümmerte sich um sie.”
Notwendige Neuerung
Kommentar von MAZ-Redakteur Frank Schauka
Das Schicksal der vietnamesischen Familie Nguyen aus Spremberg beweist deutlich: Brandenburg braucht eine Härtefallkommission, die sich außerhalb des Behördenalltags auf Problemfälle des Ausländerrechts konzentrieren kann. Dabei sollte sie von den Ausländerbehörden in kritischen Abschiebefällen zu Rate gezogen werden, bevor sich ein Gericht mit einer Angelegenheit befasst und möglicherweise einen Beschluss fällt, der schließlich bindend ist und gegebenenfalls eine kaum zu ertragende Härte darstellt. Im Fall der Familie Nguyen hätte auf diese Weise verhindert werden können, dass das Gericht die “vorübergehende Trennung” legitimiert. Denn in der Praxis kann der Beschluss unzumutbare Folgen haben, weil niemand überblicken kann, ob die Trennung der Familienmitglieder Tage oder Jahre währen wird. Auch bei unvorhergesehenen Härten im Zusammenhang der Altfallregelung für abgelehnte Asylbewerber könnte die Kommission bei rechtzeitiger Anrufung sinnvolle Arbeit leisten. Es ist zumindest nachdenkenswert, ob die Nguyens ausreisen müssen, weil die Eltern vor zwei Jahren — zum Stichtag der Altfallregelung — arbeitslos waren, obwohl der Familienvater heute einer geregelten, legalen Arbeit nachgeht.