(MAZ, 9.9.) ORANIENBURG 30 Jahre lang habe er sich argumentativ und rational damit
beschäftigt, aufzuzeigen, wie mit dem Holocaust umgegangen wird. “Es war
für mich an der Zeit, dies nun auch mit Seele und Gefühl ausdrücken zu
können.” Mit seinem Debütroman “Kaddisch vor Morgengrauen” hat Michel
Friedman dies verwirklicht. Am Mittwochabend stellte der Rechtsanwalt und
ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden sein Werk
in der Oranienburger Orangerie vor. Knapp 100 Zuhörer waren zu der Lesung
erschienen.
“Das Glück ist ein kurzer Besucher im Ghetto.” Michel Friedman zeichnet
die Schrecken der Shoa aus der Sicht der Kindergeneration. Protagonist
Julian erzählt am Bett seines Sohnes von der Geschichte seiner Eltern
Ariel und Sarah. Beide haben den Holocaust überlebt, können die
fürchterlichen Erlebnisse aber nicht abstreifen. “Traurigkeit, ewige
Traurigkeit ist eine furchtbare Krankheit”, konstatiert Julian, der sich
nicht von der Schwermut der Eltern befreien kann.
Immer wieder verarbeitet Friedman auch eigene Erfahrungen in seinem Roman.
“Schreiben ist die stillste und intimste Form, um Krisen zu bewältigen”,
so der Autor. Die Arbeit an seinem Buch begann Friedman in einer Phase, in
der “ich Mist gebaut hatte”. Im Juni 2003 wurde gegen ihn wegen
Kokain-Besitzes ermittelt.
In der Diskussion mit Bürgermeister Laesicke und Zuhörern im Anschluss an
die Lesung appellierte Friedman, mehr Mut zu Individualität und
Diskussionsbereitschaft zu zeigen. Bedächtig wählte er seine Worte, machte
Pausen, erregte sich. “Man hat sich heute schon wieder an zu vieles
gewöhnt. Die NPD sitzt in Stadträten, in Vereinen — der Schrecken hat ein
menschliches Antlitz bekommen.”
Dennoch habe sich die BRD insgesamt offener, toleranter entwickelt.
“Obwohl sich mitunter selbst Deutsche und Deutsche fremd sind. Diese
schrecklichen Begriffe von Ossis und Wessis.” Angesprochen auf seinen im
Januar 2005 geborenen Sohn, erklärte Friedman, dass er natürlich auch ihm
vom Holocaust erzählen werde, “genauso wie von der Liebe oder Napoleon”.
Gerade durch seinen Sohn erwarte er die Zukunft mit Spannung: “Wir sind
800 Millionen Menschen in Europa — warum sollen wir′s uns nicht gut
machen?”