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»Jeder ist mal dran«

Tama­ra Milo­se­vics Chronik »Zur falschen Zeit am falschen Ort« doku­men­tiert den Umgang mit dem Mord­fall Mar­i­nus Schö­bel im bran­den­bur­gis­chen Pot­zlow. von tjark kunstreich 

Die Geschichte der Ermor­dung von Ma­rinus Schö­bel, einem 17jährigen aus dem uck­er­märkischen Pot­zlow, hat seit ihrer Ent­deck­ung im Novem­ber 2002 zu zahlre­ichen Inter­pre­ta­tio­nen Anlass gegeben. Die Voraus­set­zung für die un­ter­schiedlichen Erk­lärungsan­sätze war aber immer dieselbe: die Tat als einen Akt der Ver­ro­hung zu begreifen und die Frage nach dem Warum zu stellen, um sich auf Motiv­suche zu begeben. Der Jugendliche wurde von Kumpels umge­bracht. Sie hat­ten ihn an einem Abend Mitte Juli 2002 wegen sein­er blondierten Haare und der weit­en Hosen zum »Juden« erk­lärt und ihn gezwun­gen, in den Rand eines Schwei­netrogs zu beißen – die ländliche Ver­sion des Bordstein-Kicks. 

Sie trat­en gegen seinen Hin­terkopf, so dass der Kiefer brach. Hin­ter­her schlug ein­er der Täter dem noch leben­den Opfer so lange mit einem Stein auf den Kopf, bis es augen­schein­lich tot war. Danach wurde der leblose Kör­p­er in ein­er ehe­ma­li­gen Jauchegrube ver­schar­rt. Erst vier Monate später wurde die Leiche gefun­den. Die Täter waren Nazis, ein­er von ihnen war vorbe­straft. Die Bru­tal­ität des Mordes kon­trastierte schon damals und später während des Prozess­es mit der Abgek­lärtheit der Lokalpoli­tik­er und Bewohn­er dieses Land­strichs im Nor­den Bran­den­burgs, der ein­st­mals ein agra­risches Zen­trum der DDR war. 

Die Ein­wohn­er von Pot­zlow tat­en, als sei eine solche Sit­u­a­tion All­t­ag. So beina­he logisch sich Vor- und Ablauf der Tat erk­lären lassen, eine Moti­va­tion im eigentlichen Sinne bleibt nach wie vor im Dunkeln. Eine andere Frage ist, inwieweit das Nachvol­lziehen der Motive über­haupt wün­schenswert ist. Zum einen beste­ht die Gefahr, sich die Aus­sagen der Täter zu eigen und ein ganz all­ge­meines Elend für eine sehr konkrete Tat ver­ant­wortlich zu machen. Die Suche nach Motiv­en der Täter lenkt außer­dem vom Opfer ab und ratio­nal­isiert den Skan­dal der Grausamkeit und Sinnlosigkeit, die solchen Ta­ten immer auch innewohnen. 

Wie kann man sich also dieser Geschichte näh­ern, ohne den bar­barischen Charak­ter der Tat zu ver­drän­gen? Nicht zulet­zt sind nicht wenige der Erk­lärungsver­suche in Wahrheit Mys­ti­fika­tio­nen der Tat; etwa wenn unter­schla­gen wird, wie es vielfach geschehen ist, dass Ma­rinus Schö­bel, um ihn zum Opfer zu machen, als »Jude« beze­ich­net wurde. Dann wird die Tat wirk­lich zu einem Geheim­nis. Allerd­ings erk­lärt diese Etiket­tierung längst nicht alles. Das Wis­sen darüber, dass »Jude« und »Opfer« syn­onym benutzt wer­den und neben »Schwuler« in bes­timmten, vor allem jugendlichen Milieus zu den beliebtesten Pejo­ra­tiv­en gehören, hil­ft da eben­falls nicht sehr viel weit­er. Die Tat erweckt einen allzu beliebi­gen Ein­druck, als dass blondierte Haare und weite Hosen oder die Beze­ich­nung »Jude« oder son­st irgen­dein Indiz Auf­schluss geben kön­nten. Eine Ermit­tlung muss also andere Wege gehen. 

Die Regis­seurin Tama­ra Milo­se­vic wagt in ihrem Film »Zur falschen Zeit am falschen Ort« einen Blick auf die Pot­zlow­er Zustände, wie er radikaler nicht sein kön­nte. Sie besuchte im Som­mer 2004 über den Zeitraum eines hal­ben Jahres Pot­zlow und beo­bachtete das Biotop, in dem Mar­i­nus Schö­bel nicht über­lebt hat. Der Film zeigt in strenger Dra­maturgie den All­t­ag von Leuten, die keinen All­t­ag mehr haben. Alt und Jung sitzen beisam­men und kif­f­en und trinken und trinken und kiffen.

Zwis­chen­durch, wenn es allzu lang­weilig wird, wird ein­er zum Opfer be­stimmt und erniedrigt. Zwei solch­er Szenen zeigt Milo­se­vic in ner­ven­z­er­ren­der Aus­führlichkeit. Ein alkoho­lisierter Mann wird auf ein­er »Garten­par­ty« – man sitzt draußen und betrinkt sich – von den anderen gehänselt, gedemütigt und in den See geschub­st. »Irgend­wann ist jed­er mal dran«, beschwichtigt der Mann, der viel zu betrunk­en ist, um sich zu wehren. Es sind solche Szenen, die eine leise Ahnung davon ver­mit­teln, welch mörderisches Poten­zial dieser Gruppe innewohnt. Der Bürg­er­meis­ter des Ortes hat­te die Tat so kommentiert:Marinus sei eben »zur falschen Zeit am falschen Ort« gewesen. 

Wie soll man diese Gruppe von Men­schen, die von einem eben so elo­quenten wie von sich selb­st überzeugten Führer — dem Vater von Math­ias, des besten Fre­unds von Mar­i­nus — zusam­menge­hal­ten wird, nen­nen? Ein Rack­et? Dazu ist die Gruppe zu des­or­gan­isiert. Eine Clique? Es fehlen das gemein­same Inter­esse und der Gen­er­a­tio­nen­zusam­men­hang. Eine Bande vielle­icht, aber es fehlt die krim­inelle – wie auch jede andere – Ener­gie. Einzig die Führerfig­ur ist dynamisch in jed­er Sit­u­a­tion: wenn er andere erniedrigt, wenn er (als ein­er der weni­gen Arbeit­ge­ber im Dorf) den anderen bei der Arbeit zusieht, wenn er vor der Kam­era die Welt erk­lärt und über das Ver­hal­ten seines Sohnes, der ihn ent­täuscht habe, schwadroniert. 

Sein Sohn Matthias war der beste Fre­und von Mar­i­nus, er war es auch, der Monate nach der Tat dessen ver­schar­rte Leiche ent­deck­te, sie aus­grub und die Polizei ver­ständigte. Er ist der einzige, der im Film gut über das Opfer spricht. Er ist nach der Ent­deck­ung der Tat selb­st zum Opfer gewor­den. Er gilt als »Ver­räter«, weil er die Polizei gerufen hat, gilt als Schwäch­ling, weil er der Aus­gren­zung nicht stand­hielt und in eine schwere Depres­sion ver­fiel. Tama­ra Milo­se­vic ergreift in dem Film ein­deutig Partei für ihn, ist er doch der einzige, der nach­denkt und Gedanken in Worte fassen kann.

Als Matthias voller Zunei­gung über seinen ermorde­ten Fre­und spricht, fällt auf, dass zum ersten Mal etwas über den Ermorde­ten berichtet wird, das nicht die Sicht der Täter auf ihr Opfer spiegelt. Matthias begreift bis heute nicht, was mit ihm selb­st geschehen ist. Es ist qual­voll, diesem sehr jun­gen, schon schw­er geze­ich­neten Men­schen zuzuse­hen, der sich alle möglichen Fra­gen stellt, auch wenn diese sehr ein­fach, beina­he naiv wirken. Seine Rolle ist die des gedulde­ten Außen­seit­ers. Dafür sorgt nicht zulet­zt sein Vater, der dem Sohn vor­wirft, es sich im Schmerz um den ermorde­ten Fre­und bequem gemacht zu haben. 

Wahrschein­lich ist der Begriff der Horde die passende Beze­ich­nung für diese Gruppe. Horde im Sinne eines Rudi­ments men­schlich­er Gesellschaft, in der das Gesetz des Vaters so abso­lut wie willkür­lich ist und alle Beziehun­gen der Men­schen untere­inan­der über den Vater ver­mit­telt sind. Damit ist ei­ne Schwund­stufe der mod­er­nen Gesellschaft erre­icht, in der Zeit, Gen­er­a­tion und jede abstrak­te Ver­mit­tlung von Herr­schaft – und sei es durch die Reli­gion – ver­loren gegan­gen sind. 

Der Film kommt ohne Kom­mentare aus, die einzi­gen bei­den Off-Kom­mentare sind Zitate aus der Anklageschrift und aus einem ärztlichen Gutacht­en über Matthias. »Zur falschen Zeit am falschen Ort« erin­nert in der Film­sprache, in der Dialek­tik von Nähe, wie sie die Kam­era schafft, und Dis­tanz, wie sie die Mon­tage her­stellt, an das Werk von Claude Lanz­mann. Ein großer Ver­gle­ich — aber die gelun­gene Gegenüber­stel­lung der Real­ität des Täterum­felds, in dem es keine Rück­kehr zur Nor­mal­ität gibt, weil die Nor­mal­ität gar nicht durch­brochen wurde, mit der Real­ität des Opfer­um­felds, in der das Trau­ma die biografis­che Kon­ti­nu­ität zer­stört hat, ist eine her­aus­ra­gende Doku­men­ta­tion deutsch­er Zustände. 

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