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Jenseits der Schlagzeilen

Drei Män­ner tre­f­fen sich zufäl­lig an ein­er Hal­testelle. Es ist Nacht. Man hat getrunk­en. Man pöbelt sich an. Man provoziert sich. Ein­er holt aus und schlägt zu. Ein ander­er bleibt liegen. Schw­er verletzt. 

Ein Fall wie viele. Nichts Ungewöhn­lich­es. Kein Aufreger. Nichts für die Zeitung. Es sei denn der Täter ist Neon­azi, das Opfer Schwarz­er, der Tatort Ost­deutsch­land. Dann ist es ein Skandal. 

Deutsch­land hat wieder einen beson­ders bru­tal­en Fall von Aus­län­der­feindlichkeit, als am frühen Oster­son­ntag 2006 der Deutsch-Äthiopi­er Ermyas M. in ein Pots­damer Kranken­haus ein­geliefert wird. Die Augen­höh­len­wand des 37-Jähri­gen ist nach einem hefti­gen Schlag zertrüm­mert, um ihn zu ret­ten, wird er von Ärzten in ein kün­stlich­es Koma ver­set­zt. Ob er je wieder ganz gesund wer­den kann, ist zu diesem Zeit­punkt unklar. 

Von “ver­suchtem Mord” spricht tags darauf — als bun­desweit die Empörungs­mas­chine anläuft — die Pots­damer Polizei. “Abscheulich, men­schen­ver­ach­t­end”, schnaubt Bun­deskan­z­lerin Angela Merkel. Gen­er­al­bun­de­san­walt Kay Nehm zögert nicht, die Ermit­tlun­gen an sich zu reißen. Von einem “Mord­ver­such aus frem­den­feindlichen Motiv­en” spricht auch er, geeignet, die innere Sicher­heit des Lan­des zu gefährden. Für Innen­min­is­ter Wolf­gang Schäu­ble ste­ht fest: Das war ein “frem­den­feindlich­er Exzess”. Nur: War es das wirklich? 

Vom heuti­gen Mittwoch an wird die 4. Große Strafkam­mer des Landgerichts Pots­dam ver­suchen, Licht ins Dunkel des Falls Ermyas M. zu brin­gen. Man darf orakeln: Ein­fach wird das nicht. 17 Prozesstage wur­den im Bran­den­bur­gis­chen ange­set­zt, 24 Seit­en umfasst die Anklageschrift gegen Björn L. und Thomas M. Von Mord­ver­such freilich ist darin keine Rede mehr, von frem­den­feindlichen Motiv­en eben­so wenig. Es geht nur noch um gefährliche Kör­per­ver­let­zung und unter­lassene Hil­feleis­tung. Nur noch? Wie es aussieht, wer­den die drei Richter und ihre Schöf­fen nicht nur über zwei Angeklagte zu befind­en haben — wie es aussieht, wer­den sie sich auch ein Urteil über Vorurteile bilden müssen. 

Fol­gt man der Staat­san­waltschaft, dann war es nicht dumpfer Ras­sis­mus, der sich vor zehn Monat­en in der Pots­damer Innen­stadt Bahn brach. Dann kam es dort nur zu ein­er Rangelei — mit fatal­en Fol­gen. Es gibt einen Handy-Mitschnitt von der nächtlichen Szene, er stammt vom Mobil­tele­fon des Opfers und ist etwa 80 Sekun­den lang. Ihm vor allem haben es die Ermit­tler zu ver­danken, dass sie den Tather­gang einiger­maßen genau rekon­stru­ieren konnten. 

Dem­nach traf Ermyas M. um vier Uhr mor­gens an der Straßen­bahn-Hal­testelle Char­lot­ten­hof auf Björn L. und Thomas M. und rief ihnen zu: “Geht mal anders rum, Mann!” Außer­dem ist das Wort “Schweine­sau” zu hören. Ver­mut­lich aus seinem Mund. Eine hohe Stimme antwortet: “Hey, Nig­ger!”, eine dun­klere: “Hey Nig­ger, wie bitte?” M., so glauben die Ermit­tler, sei daraufhin hin­ter den bei­den Män­nern herge­laufen und habe ver­sucht, Björn L. zu treten. Der jedoch habe sich umge­dreht und M. mit einem einzi­gen, hefti­gen Schlag zu Boden gestreckt. 

All das weiß noch nie­mand, als einen Tag später in deutschen Redak­tion­sstuben an grif­fi­gen Schlagzeilen gebastelt wird. Es passt alles zu gut zusam­men: Ein halb tot geprügel­ter Schwarz­er, ein Tax­i­fahrer, der zwei Kurzgeschorene am Tatort gese­hen hat, Pots­dam, eine Hochburg brauner Kam­er­aden — die Sache scheint ein­deutig. Wenige Wochen bevor die Welt zu Gast bei Fre­un­den ist, ein solch­er Gewal­texzess von Neon­azis: Deutsch­land ist empört. Ein Gefühl, das noch gesteigert wird durch Bun­de­san­walt Nehm, der die bei­den Tatverdächti­gen vor laufend­en Kam­eras mit ver­bun­de­nen Augen im Hub­schrauber abtrans­portieren lässt. Als Innen­min­is­ter Jörg Schön­bohm (CDU) das als “über­zo­gen” kri­tisiert, sieht er sich post­wen­dend Rück­tritts­forderun­gen gegenüber. 

Erst als Nehm drei Wochen später die Zuständigkeit wieder abgegeben hat und erst als Einzel­heit­en über die fatale Nacht von Pots­dam nach außen sick­ern, scheint auch eini­gen Amts- und Wür­den­trägern zu däm­mern, dass sich die Real­ität wom­öglich doch nicht so braun-weiß zeich­nen lässt. “Doch kein recht­sradikaler Hin­ter­grund?”, titelt fast schon ent­täuscht Bild am Son­ntag. Andere machen sich gar nicht erst die Mühe, ein Frageze­ichen zu set­zen und nehmen sich nun plöt­zlich Ermyas M. vor, als habe der seine tödliche Ver­let­zung nur gespielt. Ist es nicht so, dass der Dok­torand mit den Rastalock­en in jen­er Nacht zwei Promille im Blut hat­te? Hat­te er zuvor nicht Stunk gemacht in der Dis­co “Art Spe­ich­er”? Und war er nicht schon einem Bus­fahrer laut­stark pöbel­nd aufge­fall­en? Lebt der Mann, der über Wochen stets als char­mant, intel­li­gent und san­ft­mütig skizziert wor­den war, nicht auch getren­nt von sein­er Frau? 

Was ist Dich­tung? Was Wahrheit? Es wird nicht ein­fach sein für das Landgericht Pots­dam, diesen Fall, der schon zahllose Male öffentlich ver­han­delt wurde, unvor­ein­genom­men aufzulösen. Matthias Schön­burg, der Anwalt des Angeklagten Björn L., spricht von einem Ver­fahren, das längst schon “poli­tis­che Dimen­sio­nen” angenom­men habe. Ver­mut­lich ist das untertrieben. 

Rel­a­tiv unstrit­tig ist, dass es tat­säch­lich L. und sein Kumpane Thomas M. waren, die in jen­er Nacht auf Ermyas M. trafen. Bei­de behaupten zwar, zum fraglichen Zeit­punkt zu Hause gewe­sen zu sein. Die Gegen­be­weise aber sind fast erdrück­end: Vom 31-jähri­gen Thomas M. wur­den auf Flaschen­scher­ben am Tatort DNA-Spuren gefun­den. Dem mut­maßlichen Haupt­täter Björn L. (29) dage­gen dürfte seine Fis­tel­stimme zum Ver­häng­nis wer­den, die ihm den Spitz­na­men “Pieps” einge­bracht hat. Nach einem Abgle­ich mit der fast weib­lich klin­gen­den Stimme auf Ermyas M.s Handy ist sich die Polizei sich­er: Er war’s. Zudem soll L. einem Mithäftling in Unter­suchung­shaft gesagt haben: “Hätte ich mal richtig zugetreten.”

Aber schon bei der Frage, ob es sich bei den bei­den um Recht­sex­trem­is­ten han­delt, ist es mit der Sicher­heit vor­bei. “Die hat­ten wir nicht auf dem Schirm”, heißt es beim Pots­damer Ver­fas­sungss­chutz. In Pots­dam selb­st dage­gen gibt es nicht wenige, die behaupten, L. und M. gehörten “seit Jahren” zur Neon­azi-Szene. Noch so ein Fragezeichen. 

Vieles in diesem Prozess wird abhän­gen von der Aus­sage des inzwis­chen 38-jähri­gen Ermyas M., der auch als Neben­kläger auftritt. Er hat sich erholt von sein­er schw­eren Ver­let­zung, aber nach 13 Tagen im Koma noch immer Gedächt­nis­lück­en. Zweimal ist er bis­lang öffentlich in Erschei­n­ung getreten, dem Stern hat er mit sein­er Frau ein länglich­es Inter­view gegeben, und im Fernse­hen bei Gün­ther Jauch war er ein­er der “Men­schen 2006”. Er hat ein biss­chen gere­det in bei­den Fällen, aber nicht wirk­lich viel gesagt, um keine “unnöti­gen Angriffs­flächen” zu bieten. All jenen, die in ihm nun “eine Art Aushängeschild” sehen, einen “leben­den Beweis für Frem­den­feindlichkeit”, hat er mit­gegeben: “Diese Rolle möchte ich nicht annehmen.” 

Was weiß Ermyas M. noch von der Nacht des 16. April 2006? Und was wird er davon dem Landgericht erzählen? Der Mann, der auf so bru­tale Weise berühmt wurde, hat das Recht zu schweigen, sollte er sich selb­st belas­ten. Man wird genau hin­hören, nicht nur im Gerichtssaal. Erst ganz am Ende jedoch wird man in der Lage sein, sich ein endgültiges Urteil über diesen denkwürdi­gen Fall zu bilden. Es wird, so viel ist jet­zt schon klar, nicht jedem gefallen.

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