Saul Oren — ein Opfer erinnert sich, wie NS-Ärzte an ihm und anderen 14-Jährigen grausame medizinische Experimente machten
(Tagesspiegel, Thomas Kunze) Oranienburg. “Hier war es”, sagt Saul Oren aufgeregt.
Dem 74-Jährigen ist anzumerken, dass er nichts aus jener Zeit im
Konzentrationslager Sachsenhausen jemals vergessen kann. Er war damals 14
Jahre alt. “Dort hatte der Lagerarzt Baumkötter sein Büro, und dort in Stube
51 lebten wir”, deutet er auf die lang gezogenen Baracken des
Krankenreviers. “Wir” — das waren Saul Oren und zehn weitere jüdische Kinder
und Jugendliche, die 1943 aus dem Vernichtungslager Auschwitz nach
Sachsenhausen gebracht wurden. Die Rettung vor dem sofortigen Tod in den
Gaskammern verdanken sie allein der Tatsache, dass sie von den Nazis für
medizinische Versuche missbraucht wurden.
In den vom übrigen Lager abgeschirmten Baracken nahm der Wehrmachtarzt Dr.
Arnold Dohmen mit Genehmigung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, an den
“Elf von Auschwitz” medizinische Experimente vor. “Erst lange Zeit nach dem
Krieg erfuhr ich, dass in Sachsenhausen Hepatitis-Impfstoffe an uns
ausprobiert wurden”, erzählt Saul Oren. Die Flüssigkeiten, die den Kindern
immer wieder in Muskeln, Adern und Darm gespritzt wurden, lösten
Fieberschübe und Schwächeanfälle aus. “Wir wussten, welch furchtbare
Experimente in den KZ gemacht wurden. Wir hatten in Sachsenhausen kastrierte
jüdische Jungen getroffen und fragten uns, welche Folgen die Versuche bei
uns haben würden.” Zugleich mussten die Kinder mit der Trauer um ihre in
Auschwitz ermordeten Familien und einer allgegenwärtigen Todesangst leben.
“Wir wussten, dass auch wir zum Tode Verurteilte waren. Wir zitterten jeden
Tag vor der SS”, sagt Oren. “Wir hatten keinen Zweifel, dass sie uns am Ende
als Zeugen ihrer Taten umbringen würden.”
Im Februar 1945, als die sowjetische Armee schon an der Oder stand, brachte
die SS täglich Kranke in den Gaskammern um. “Eines Tages erhielten auch wir
den Befehl, uns den Kranken anzuschließen und durch das Tor des Todes zu
gehen. Das also war unser Ende”, sagt Saul Oren leise.
Doch im letzten Moment kam ein Gegenbefehl. Erst Jahrzehnte später sollte er
erfahren, dass er und die anderen ihre Rettung drei Norwegern verdankten,
die als Häftlingsärzte und ‑pfleger im Krankenrevier arbeiteten. Sie hatten
bei Lagerarzt Baumkötter für die jüdischen Kinder interveniert und
behauptet, diese würden noch für weitere Experimente gebraucht.
“Lagerärzte wirkten entgegen dem medizinischen Ethos an fast allen Morden
und Massenmorden in der NS-Zeit mit, an Hinrichtungen und Vergasungen”, sagt
der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch. “In
Sachsenhausen gab es, wie mehrjährige Forschungen zeigen, mehr als 20
Versuchsreihen, bei denen die Opfer große Schmerzen erdulden mussten.” So
wurde zum Beispiel Saul Oren bei Bewusstsein an der Leber punktiert. “Dohmen
machte dazu in der Lebergegend einen Einschnitt, zeigte mir eine große Nadel
und sagte: “Du musst während des Einstichs den Atem anhalten, sonst wirst Du
sterben.” Danach war ich vor Schmerzen und vor Angst sehr geschwächt.” Am
21. April verließen die jüdischen Kinder mit mehreren Häftlingskolonnen das
Lager und wurden von SS-Männern in Richtung Norden getrieben. “Der
Todesmarsch dauerte zwölf Tage nahezu ohne jegliche Nahrung”, erinnert sich
Oren. In Lübeck wurden sie von den Engländern befreit. Saul ging mit
französischen Häftlingen nach Frankreich, studierte später und wurde
Ingenieur. In den 70er Jahren siedelte er mit seiner Frau und den Kindern
nach Israel über.
“In beinahe allen größeren KZ wurden Experimente an Menschen durchgeführt”,
sagt die Historikerin Astrid Ley. “Der Tod der Häftlinge wurde in Kauf
genommen oder war Teil des Experiments. Das gehörte zur
nationalsozialistischen Politik der totalen Verwertung und Vernichtung
ganzer Menschengruppen.” Am 7. November wird in den originalgetreu sanierten
Revierbaracken die Ausstellung “Medizin und Verbrechen” eröffnet. “Damit
soll ein Beitrag dazu geleistet werden, die Opfer der NS-Medizin in
Sachsenhausen in Erinnerung zu behalten”, betont Stiftungsdirektor Morsch.