(MAZ, 17.05., Frank Schauka) POTSDAM Der Fall des entlassenen Häftlings Jens J. zeigt, wie kompliziert
die Debatte um Gewalt gegen Gefangene in der Justizvollzugsanstalt
Brandenburg/Havel ist und wie sensibel sie zu führen wäre: Infolge einer
Disziplinarmaßnahme hätte der 35-Jährige von Freitag, 24. Juli, bis Montag,
27. Juli 1998, auf seiner Doppelzelle verbringen müssen. Mitfühlende
JVA-Bedienstete gestatteten ihm dennoch, einen Mithäftling zu besuchen,
erinnert sich Jens J.
Stundenlang betranken sich die beiden am 26. Juli mit selbst hergestelltem
Alkohol. Am Abend wankte J. auf seinen Haftraum. Entsprechend enthemmt,
schlug er seinem Zellengenossen Karsten N. ins Gesicht. Der rief aus Furcht
JVA-Bedienstete zu Hilfe, die die Zelle stürmten — unmaskiert, aber mit
Schlagstöcken bewaffnet, erinnert sich J., der wegen Totschlags neun Jahre
in Haft gesessen hatte.
Drei Bediensteste — die J. benennt — hätten ihn “mit Fäusten und Stöcken”
traktiert. Ein “Wutausbruch eines Gefangenen kann so heftig werden, dass er
einen Nervenzusammenbruch bekommt” und medizinisch versorgt werden muss. Das
sei auch bei ihm passiert. “Ich war kein einfacher Fall, ich war aufsässig.”
Gefesselt, gebissen und Zähne ausgeschlagen
Anschließend hätten die Bediensteten ihn auf den Isolierhaftraum direkt
gegenüber seiner Zelle gezerrt. Dort sei er niedergerungen und auf einer
Pritsche an Händen und Füßen stramm gefesselt worden. Er habe geschrien,
weil die Gelenke blau angeschwollen waren und schmerzten. Die Fesseln wurde
nicht gelockert.
Als der Bedienstete, der links hinter ihm stand, sich über ihn beugte, habe
er ihn in den Oberschenkel gebissen. Darauf habe der Mann, zu DDR-Zeiten
Boxer, ihn einmal ins Gesicht geschlagen, so dass drei Schneidezähne
zerbrachen. Die Bediensteten ließen J. allein. Da er jedoch, wie er sagt,
Schmerzen hatte, brüllte er — so laut, dass die Nachtruhe der 220 Gefangenen
im Hafthaus 3 gefährdet schien. Es ist nicht unüblich, dass sich Unruhe im
Gefängnis wie ein Lauffeuer verbreitet und bald die gesamte Station erfasst.
Zwei Stunden später kehrten die Bediensteten zurück, um Jens J. in den
besonders gesicherten Haftraum im Haus 4 der Anstalt zu bringen. Auf dem Weg
blieb der Gefangene an Händen und Füßen gefesselt. Ein Bediensteter, sagt
J., habe ihm einen Stoß versetzt, so dass er eine Treppe ins Erdgeschoss
hinabstürzte.
Am Montag, 27. Juli, wurde Jens J. vom Zahnarzt behandelt. Da er einem
Bediensteten mit dem Satz “Man sieht sich im Leben zweimal” drohte, kam er
mit jenem Tag auch für sechs Monate in Einzelhaft.
Juristisch entwickelte sich der Fall so: Der Leiter der JVA erstattete am 5.
August Anzeige wegen Nötigung und Körperverletzung gegen den Gefangenen.
Jens J. reagierte am 25. September seinerseits mit einer Anzeige gegen die
Bediensteten. Nach mehrwöchiger Prüfung schlug die Staatsanwaltschaft die
Anzeige des Gefangenen nieder — zumal Jens J. damals angab, er könne sich
wegen seines reichlichen Alkoholkonsums nicht genau an den Vorfall erinnern.
Mit der Verhandlung am 10. Juni 1999 im Amtsgericht Brandenburg/Havel schien
die Angelegenheit erledigt: Mit Blick auf die alkoholbedingte
Unzurechnungsfähigkeit und seine lange Haftstrafe wurde J. nicht erneut
verurteilt. Zudem entschuldigte sich J. bei den Bediensteten.
Ob der Fall nun — da seit zwei Wochen Misshandlungsvorwürfe gegen
JVA-Bedienstete erörtert werden — wieder aufgerollt wird, steht noch nicht
fest. “Der Vorfall ist Gegenstand der gegenwärtigen Überprüfung”, teilte der
Sprecher der Staatsanwaltschaft Potsdam, Ralf Rogenbuch, auf Anfrage mit.
Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen.
Nach Suizidversuch in der Zelle verprügelt
Der Fall J. ist in seiner Problematik kein Einzelfall. Facettenreich
erscheinen auch die Fälle, nach denen Justizministerin Barbara Richstein
(CDU) sich veranlasst fühlte, fünf Bedienstete sofort zu suspendieren und
den Anstaltsleiter zu versetzen: Der Häftling Ronald P. etwa, der sagt, ein
maskiertes Rollkommando habe ihn nächtens zusammengeschlagen, litt nach
Informationen der MAZ unter starken Depressionen infolge erheblicher
Anabolikaeinnahme. In einer Nacht, als P. zur Ausnüchterung in der
Schlichtzelle saß, soll er seine Mutter angerufen und ihr mitgeteilt haben,
er wolle sich das Leben nehmen, was er schon mehrmals versucht hatte.
Daraufhin stürmten die Beamten die Zelle. Bei diesem “Rettungsversuch” — das
räumen Kenner des Falles ein — sei jedoch unangemessen hart vorgegangen
worden.
Von sogar “menschenrechtsverletzender Härte” ist im Fall Matthias D. die
Rede. Die Person, die das sagt, betonte jedoch auch: “Der Einsatz war
notwendig.” Nach einer Operation mit Vollnarkose überfiel den stark
LSD-abhängigen Häftling auf seiner Doppelzelle offenbar Panik. Er verlangte
einen Zuhörer, der nicht kam, weil der Psychologe schon Dienstschluss hatte.
Aus Zorn und Verzweiflung riss D. daraufhin das Metallbett auseinander und
wuchtete das Gestell so heftig gegen die massive Zellentür, dass das Holz
außen splitterte. Als die Maskierten die Zelle stürmten, müssen sie den
Gefangenen mit Fäusten und Schlagstöcken übel zugerichtet haben.
Jens J. sagt, er kenne keinen Fall, in dem einem Häftling, dem Gewalt
angetan wurde, gegen das Wort eines Bediensteten geglaubt wurde. Das gelte
auch für seinen ehemaligen Zellengenossen Bernd N. Es sei zwar richtig, dass
er sich mit N. gestritten habe. Doch nicht dabei sei Bernd N.s Unterarm
gebrochen worden.
Gefängnisaffäre: CDU-Abgeordneter will Rücktritt von Generalstaatsanwalt
(BM) Potsdam — Im Zusammenhang mit der Gefängnisaffäre hat der
CDU-Landtagsabgeordnete Sven Petke Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg
gestern den Rücktritt nahe gelegt. Der oberste Ankläger des Landes trage
Verantwortung für die “schwer wiegenden Indiskretionen”. Petke spielte
darauf an, dass am vergangenen Freitag die Entdeckung einer Schusswaffe im
März in der JVA Brandenburg/Havel publik wurde. Dadurch wurden die laufenden
Ermittlungen gestört.
Petke kritisierte, Rautenberg habe jedes Vertrauen verspielt und sei zu
einer Belastung für die Justiz geworden. Ein Generalstaatsanwalt dürfe
niemals den Eindruck der persönlichen Befangenheit oder Voreingenommenheit
aufkommen lassen. Hinzu komme die “gehäuft aufgetretene mangelhafte
Informationspolitik” gegenüber dem Justizministerium. Der Schaden für das
Amt habe nun ein zu großes Ausmaß erreicht. Dafür trage Rautenberg die
Verantwortung und müsse nun die Konsequenzen ziehen.