(Frank N. Furter) Einem Bericht der Potsdamer Lokalzeitung “Potsdamer Neueste Nachrichten” zufolge verurteilte am 9.Januar 2005 der Richter am Potsdamer Landgericht Wolfgang Peters in einem Schnellverfahren einen Obdachlosen zu sechs Monaten Gefängnis ohne Bewährung, weil dieser eine Flasche Alkohol im Wert von fünf Euro gestohlen hatte. Das hohe
Strafmaß wurde damit gerechtfertigt, dass der Obdachlose drei Küchenmesser (Waffen!) bei sich führte und die Tat deshalb als “gefährlicher Diebstahl” zu bewerten sei.
Hier soll nicht aufgeregt über das Missverhältnis zwischen dem Wert der gestohlenen Flasche und der Härte der Strafe lamentiert werden. Wer sich von den Propagandisten
der “inneren Sicherheit” noch nicht völlig das Hirn hat vernebeln lassen braucht keinen Anstoß zur Empörung über diesen krassen Fall von Klassenjustiz. Die
Inhumanität der derzeitigen Form menschlichen Daseins ist ausreichend dadurch
belegt, dass genug Leute die halbjährige Einkerkerung eines Menschen mit den Worten
kommentieren: “Da hat er es wenigstens warm im Winter”. Auch die Tatsache, dass es
sich bei den Schnellverfahren um eine Technik handelt, Angeklagte ihrer Rechte zu
berauben, setze ich als bekannt voraus. Hier soll nur auf einen Fakt aufmerksam
gemacht werden: das zeitliche Zusammentreffen dieses harten Urteils mit dem
Inkrafttreten der “Hartz IV”-Gesetze. Urteile dieser Art gab es schon früher, es ist
beileibe nicht das erste seiner Art. Aber die zeitliche Koinzidenz, das Urteil
gefällt am 9. Tag nach Inkraftreten von “Hartz IV”, verweist auf einen viel zu wenig
beachteten Zusammenhang von aktueller Sozial- und Kriminalpolitik. Die Ausweitung
prekärer Artbeitsverhältnisse, das Entstehen einer breiten Schicht von “working
poor” bei struktureller Massenarbeitslosigkeit und die Radikalisierung des
Strafsystems — die sich in Urteilen wie diesem, aber auch in den Versuchen der
Legalisierung von Folter zeigt — gehören zusammen, sind zwei Seiten einer Medaille.
Die “unsichtbare Hand” des prekarisierten Arbeitsmarktes findet ihre Entsprechung in
der “eisernen Faust” des Staates, der dahin entwickelt wird, die durch die
Ausbreitung von sozialer Unsicherheit hervorgerufene Unordnung auch gewaltsam
unterbinden zu können.
In dem Buch “Prisons de la misère” schreibt der us-amerikanische Jura-Professor Loic
Wacquant: “Im Gegensatz zum herrschenden Diskurs der Politik und der Medien sind die
amerikanischen Gefängnisse nicht von gefährlichen und hartgesottenen Kriminellen,
sondern von vulgären Verurteilten der gewöhnlichen Rechtssprechung bevölkert, die
aufgrund von Rauschdelikten, Einbrüchen und Diebstählen oder einfach wegen Störung
der öffentlichen Ordnung bestraft wurden. Das aber sind die entscheidenden
Auswegsversuche der prekarisierten Schichten der Arbeiterklasse, die voll von der
Peitsche der Flexibilisierung der Lohnarbeit und des Sozialabbaus getroffen worden
sind.” Er stellt fest, dass die Gefängnisse von heute vor allem den Abfall des
Arbeitsmarktes, den subproletarisierten und überzähligen Teil der Arbeiterklasse
einlagern. Urteile wie das vom 9. Januar, aber auch die Potsdamer Stadtordnung — die
u.a. das Nächtigen auf Parkbänken und das Mitnehmen von Gegenständen vom Sperrmüll
verbietet — zeigen deutlich, dass die Entwicklung in Deutscland in eine ähnliche
(nicht in die gleiche!) Richtung geht.
Der Begriff “Klassenjustiz” ist in den letzten Jahren aus der Mode gekommen, bzw.
wird nur noch — oft halbironisch — zur Kennzeichnung politischer Justiz gegen Linke
verwandt. Die dringend notwendige theoretische Auseinandersetzung mit den aktuellen
Klassenkämpfen darf den staatlichen Repressionsapparat nicht außer Acht lassen und
vor der Gewaltsamkeit der Durchsetzung neuer Ausbeutungsbedingungen nicht die Augen
verschließen. Ziel dieser theoretischen Auseinandersetzung muss es sein, einen
Beitrag zur praktischen Überwindung dieser Gesellschaft der Ausbeutung und der
Knäste sein.