(Berliner Zeitung, Jens Blankennagel) FRANKFURT (ODER). Die jüngste “Mutter” ist ein Mann — ein ganz junger.
Johannes Ganerke ist 14 Jahre alt und überragt die kleine Gruppe, die am
Freitag kurz hinter Frankfurt (Oder) am Straßenrand aus dem Nebel auftaucht,
fast um Haupteshöhe. Vorn tragen zwei ältere Frauen ein blaues Tuch mit
Picassos weißer Taube und dem Spruch “Mütter gegen den Krieg”. Trotz der
morgendlichen Kälte hat sich der Gymnasiast der Friedensstafette der Frauen
angeschlossen. “Es ist mir egal, dass ich heute der einzige Mann bin,
gestern waren ja auch Väter dabei.” Es gehe ums Prinzip, es gehe um den
Frieden. “Ich will einfach zeigen, dass der Krieg mir nicht egal ist”, sagt
er.
Die Leute brauchen einen Anstoß
Am Vortag waren 50 Leute in Eisenhüttenstadt losgelaufen. Bis zum ersten
Etappenziel in Frankfurt blieben 20 dabei. “Junge, Alte, Christen, Rote und
Grüne, Männer und Frauen”, sagt die Initiatorin Brigitte Grimm. Mit dem 120
Kilometer langen viertägigen Fußmarsch nach Berlin wollen die
Friedensaktivisten ein Zeichen setzen und Unterschriften sammeln, die sie am
Sonntag bei einer Protestkundgebung vor der US-Botschaft in Berlin übergeben
werden. “Mit 114 Unterschriften sind wir losgezogen, in Frankfurt hatten wir
bereits 427″, sagt Brigitte Grimm. Die Lehrerin rief zu dem Marsch auf, weil
ihr die am ersten Kriegstag begonnene Mahnwache vor dem Theater ihrer
Heimatstadt zu wenig war. Tage nachdem sie die Idee hatte, fiel ihr ein,
dass sie den Weg schon einmal gegangen ist, in umgekehrter Richtung. 1945,
als Vierjährige mit ihrer Mutter und den Geschwistern, nachdem sie die
Bombennächte in Berlin überlebt hatten.
“Wir haben nicht die Illusion, dass wegen uns der Krieg beendet wird”, sagt
Brigitte Grimm. Aber sie erzielen Aufmerksamkeit. “Jeder Autofahrer, der uns
sieht, denkt sich: Die machen was. Warum tue ich so wenig? Bin ich zu
gleichgültig oder zu bequem?”, sagt sie.
Die Resonanz sei durchweg positiv. Nur ein einziger Autofahrer habe den Kopf
geschüttelt. Die anderen hupen und winken. Passanten stehen an den Straßen,
klatschen oder schließen sich für ein paar Kilometer an. “Am Donnerstag war
es sehr warm, eine Frau gab uns zehn Euro und sagte: ‚Kauft euch Eis “,
erzählt Friedrun Köhn. Sie ist eine der drei Frauen, die bis Berlin
durchlaufen wollen. Alle Stationen: am Freitag bis Fürstenwalde, am
Sonnabend bis Erkner, am Sonntag bis Berlin.
Ständig klingelt ein Handy. Die Friedensmarschierer werden gefragt, wo sie
sind, wann ihnen Unterschriftenlisten übergeben werden können, wann man sie
zum Essen einladen könne. “Wir wollen am Sonntag um 12 Uhr an der
Friedensglocke in Berlin-Friedrichshain sein”, sagt die
PDS-Kreistagsabgeordnete Helga Böhnisch. Auch aus anderen Teilen
Brandenburgs wollen dann Frauen dazukommen.
Friedrun Köhn hat ein einfaches Motiv für ihre Teilnahme. “Krieg löst keine
Probleme”, sagt sie. Ihre Eltern gaben ihr ihren Vornamen als
Friedenssymbol. “Ich wurde 1945, drei Wochen vor der Bombardierung in
Dresden geboren”, sagt sie. Ihre Familie habe damals alles verloren. “Als
sie aus dem Luftschutzkeller kamen, hatten sie nur ihr Leben, einen Koffer,
einen Kinderwagen und ein Baby.” Immer, wenn ihr Vater von den Angriffen
erzählte, habe er gezittert. “So etwas schafft eine Grundhaltung”, sagt sie.
“Der Friedenswille ist bei den Menschen da”, sagt Brigitte Grimm. “Aber die
Leute brauchen einen Anstoß. Jemand muss sie fragen: Machst du mit?”
Vielleicht rege ihr Marsch ja zu einer Friedensstafette von Rügen bis zum
südlichsten Zipfel Deutschlands an.
Hupen, Winken und zehn Euro für die “Mütter gegen den Krieg”
Am Sonntag wollen die Teilnehmerinnen der Eisenhüttenstädter
Friedensstafette in Berlin sein
(Tagesspiegel) Frankfurt (Oder). Das Radio hatte für den Freitag Sonne versprochen, und nun
stehen Brigitte Grimm und ein Dutzend andere Frauen auf dem leeren
Frankfurter Rathausplatz im kalten Nebel. Gestern auf der ersten Etappe
ihrer “Friedensstafette Eisenhüttenstadt-Berlin” haben sie noch geschwitzt.
Jetzt wärmen sie sich an dem Gedanken, heute wieder die Landstraßen entlang
zu laufen statt zu Hause tatenlos die Kriegsnachrichten zu verfolgen. Heute
Abend wollen sie im gut 30 Kilometer entfernten Fürstenwalde ankommen. Und
Sonntag an der US-Botschaft in Berlin.
“Mütter gegen den Krieg” nennt sich die Initiative, die es auch in anderen
Städten gibt und die bei diesem Krieg damit begann, dass Brigitte Grimm,
Lehrerin im Ruhestand, ihre einstige Kollegin Friedrun Köhn anrief und zum
Marsch nach Berlin überredete. Das war am Montag. Am Donnerstag sind sie in
Eisenhüttenstadt gestartet, haben sich abends nach Hause fahren lassen und
heute früh wieder nach Frankfurt.
Zwei etwa 15-jährige Schüler kommen über den Rathausplatz geradelt. Sie
wollen ein Stück mitkommen. Brigitte Grimm, gestählt durch 35 Jahre
Berufserfahrung, lässt sich die Erlaubnis der Eltern aushändigen und belehrt
die Gruppe über das Verhalten unterwegs: möglichst Fuß- und Radwege
benutzen, ansonsten unbedingt links hintereinander laufen. So hat es die
Polizei angeordnet, der diese Demonstration allerdings kein Begleitfahrzeug
wert ist.
Einige der Frauen gehen zu ihren Autos, von denen aus sie Verpflegung,
Unterschriftensammlung und den Transport ermüdeter Teilnehmerinnen
organisieren. Die anderen marschieren mit geschulterter Papp-Friedenstaube
los. Die Passanten schauen überrascht; manche bleiben stehen, einzelne
grüßen. “Jut, wat ihr hier macht!”, ruft ein Mann. Mit jedem Meter Richtung
Stadtrand wird die Straße leerer. Ein aus dem Fenster eines Plattenbaus
lehnender Jungnationaler höhnt Unverständliches, Autofahrer recken die
Hälse, lächeln, fahren weiter. Friedrun Köhn sagt: “Mein Vorname passt gut
zu dieser Aktion”. Die zweite Ex-Lehrerin ist gut trainiert und geht
vorneweg. “Die Reaktion der Leute gestern war wirklich schön. Ganz oft haben
Autofahrer gehupt und uns gewunken. Und als wir in Frankfurt ankamen, haben
die Stadtverordneten ihre Sitzung unterbrochen, um uns zu begrüßen.” Eine
Frau berichtet von einer alten Dame, die spontan zehn Euro zückte: “Kauft
euch ein Eis!”
Die Bebauung entlang der Straße geht von verfallenen Altbauten in
Industriebrachen über, später kommen die Autohändler und Baumärkte. Dann
hört der Fußweg auf, die Straße heißt jetzt “Berliner Chaussee” — oder “B 5”
für die Autofahrer. An manchen Bäumen hängen Holzkreuze, die Äcker links und
rechts der Allee verlieren sich im Nebel. Aber den Frauen ist warm geworden
auf den ersten fünf Kilometern, auch wenn sie ein wenig enttäuscht sind. Die
meisten Autofahrer bremsen nur erschrocken oder sind längst vorbeigerauscht,
bevor sie das Transparent lesen konnten. Die acht verbliebenen Frauen halten
sich mit Geschichten aus dem Film “Good bye Lenin!” bei Laune, während
Brigitte Grimm den weiteren Verlauf des Marsches erläutert: Ankunft in
Fürstenwalde, Mahnwache, zurück im Auto. Am Sonnabend zu Fuß nach Erkner,
wobei ein früher Start die Chance auf ein Mittagessen bei einem karitativen
Verein in Hangelsberg böte. Die Einladung haben sie gerade bekommen.
Noch sechs Stunden bis Fürstenwalde, knapp drei Tage bis Berlin.