
Für eine „vielfältige, offene und freie Gesellschaft“ haben heute Vormittag in Neuruppin ungefähr 100 Menschen gegen eine zeitgleich stattfindende Versammlung von Neonazis protestiert. Die ungefähr 80 Sympathisant_innen der „Freien Kräfte Neuruppin /Osthavelland“ hatten sich unter dem Motto: „Die Gedanken sind frei…“ vor dem lokalen Amtsgericht versammelt, um ihre Solidarität mit inhaftierten oder straffällig gewordenen Gesinnungsgenoss_innen auszudrücken. Nennenswerte Zwischenfälle gab es nicht. Die Polizei war mit Bereitschaftspolizei vor Ort und trennte beide Veranstaltungen voneinander ab. Die Proteste konnten jedoch in Hör- und Sichtweite stattfinden.
Proteste gegen Neonazis
Zu den Protesten hatte u.a. das Aktionsbündnis „Neuruppin bleibt bunt“ unter dem Motto „Gesegnet sei die Phantasie – verflucht sei sie“ aufgerufen. Der Leitgedanke der Protestversammlung ist der Titel eines Buches einer israelischen Schriftstellerin. Diese hatte als junges Mädchen die Vernichtungsstätten der Nationalsozialist_innen überlebt und ihre dortigen, traumatischen Erlebnisse im Jahr 2005 in literarischer Form verarbeitet. Die Verwendung des Buchtitels als Veranstaltungsmotto war somit ein klares Symbol gegen neonazistische Phantasien und deren fatale Auswirkungen.
Wie bereits an früheren Aktionen gegen die lokale Neonaziszene beteiligten sich auch am heutigen Tage viele namhaften Bürger_innen der Stadt und der Region, u.a. Bürgermeister Jens-Peter Golde und Landrat Ralf Reinhardt. Beide hielten auch Redebeiträge, in denen sie sich zu den demokratischen Werten bekannten. Des Weiteren waren auch diverse Kommunal‑, Landes- und Bundespolitiker_innen vieler Parteien anwesend.
Ebenfalls an den Protesten gegen die Neonazis beteiligte sich das Jugendwohnprojekt Mittendrin eV. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigten durch Transparente oder lautstarke Proteste deutlich, dass sie kein Interesse an der permanenten, neonazistischen Einflussnahme auf das Geschehen in der Stadt haben. In diesem Zusammenhang wurden die Neonazis auch noch einmal dezent an den Aufmarsch im Juni 2015 erinnert, als der so genannte „Tag der Deutschen Zukunft“ erstmals blockiert wurde. Das Mittendrin war übrigens in der Vergangenheit oft auch selber Zielscheibe militanter Neonazis. Erst am 12. September 2015 scheiterten mehrere Personen aus dem neonazistischen Milieu sich Zutritt zu Vereinsräumen des Jugendwohnprojektes zu verschaffen. Dennoch schlugen die Täter mehrere Scheiben ein. Anschließend griffen dieselben Personen im Stadtgebiet von Neuruppin auch noch mehrere Jugendliche tätlich an und wurden daraufhin von der Polizei gestellt.
Freie Kräfte solidarisieren sich mit verurteilten Gesinnungsgenoss_innen
Die „Freien Kräfte Neuruppin“ hatten für ihre Versammlung einmal mehr Mitstreiter_innen aus dem ganzen Land Brandenburg herbeigerufen. Die Teilnehmer_innen kamen neben dem regionalen Landkreis Ostprignitz-Ruppin, so auch aus der Prignitz, dem Havelland, Potsdam-Mittelmark, der Uckermark und Teltow-Fläming sowie aus der kreisfreien Stadt Brandenburg an der Havel, darunter auch viele Funktionäre der NPD sowie des III. Weges. Gemäß des im Vorfeld verfassten Aufrufes und diesbezüglicher Redebeiträge während der Veranstaltung, solidarisierten sich die Neonazis mit rechtmäßig verurteilten oder straffällig gewordenen Gesinnungsgenoss_innen.
Marvin Koch, der als einer der Köpfe der „Freien Kräfte Neuruppin“ gilt, erinnerte in seinem Redebeitrag in diesem Zusammenhang u.a. an die verurteilten Holocaustleugner_innen Horst Mahler, Ursula Haverbeck und Ernst Zündel. Des Weiteren jammerte er über die Paragrafen im deutschen Strafrecht, welche NS-Symbolik oder volksverhetzende Inhalte unter Strafe stellen. Im Zusammenhang mit der NS Diktatur von 1933 bis 1945 sprach Koch anschließend von den „zwölf goldenen Jahren“ in der deutschen Geschichte. Er ist durch seine Szeneaktivitäten übrigens auch selber strafbedroht. Immerhin wird gegen Marvin Koch mindestens wegen Landfriedensbruch prozessiert.
Ebenso verhandelt wird demnächst auch gegen Dave Trick, erster Redner der heutigen Versammlung, weiterer mutmaßlicher Kopf der „Freien Kräfte Neuruppin“ und NPD Abgeordneter in der Neuruppiner Stadtverordnetenversammlung. Er muss sich am 5. November 2015 vor dem Amtsgericht Neuruppin verantworten. Trick soll während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr einen Wahlhelfer der Partei DIE.LINKE tätlich angegriffen haben.
Unmissverständlich hatten die „Freien Kräfte Neuruppin“ bereits im Vorfeld angekündigt, dass während des heutigen Aktionstages, frei nach dem bei Neonazis beliebten Slogan: „Klagt nicht, kämpft!“, nicht„um Mitleid“ gebettelt, sondern vielmehr „ein Zeichen der Solidarität“ gesetzt und die „vorhandene Geschlossenheit“ präsentiert werden sollte. Bereits daraus ergibt sich das Bild, dass die strafbewehrten Machenschaften einzelner Aktivist_innen von der gesamten Gemeinschaft mindestens billigend in Kauf genommen werden und es sich bei den „Freien Kräfte Neuruppin“ also mitunter um eine kriminelle Vereinigung handelt.
Bunt statt Braun
Doch nicht nur um Neonazis und Gesinnungsgenoss_innen in den Justizvollzugsanstalten dieser Republik ging es gestern. Das Aktionsbündnis „Neuruppin bleibt bunt“ nutzte die Chance der öffentlichen Versammlung auch, um mit „bunter Phantasie“ in Form von Musik, Theater und Graffiti-Kunst für eine „vielfältige, offene und freie Gesellschaft“ zu demonstrieren. Vielfach kam auch das Thema Flüchtlinge zur Sprache. Sowohl die Kommunalpolitiker_innen, Vertreter_innen des Aktionsbündnisses „Neuruppin bleibt bunt“ als auch des Mittendrin eV sprachen sich für die weitere Aufnahme von Flüchtlingen aus. Entsprechend wurden auch Slogans, wie „Refugees Welcome“ gezeigt.
Die Neonazis äußerten sich daraufhin ebenfalls in dieser Sache. So schürte der havelländische NPD Abgeordnete Michel Müller einmal mehr Ängste vor Flüchtlingen bzw. kolportierte bekannte Vorurteile und Gerüchte. Matthias Fischer, bekannter Funktionär des III. Weges, posierte dazu passend mit einem „Asylflut Stoppen“ Schild. Nick Zschirnt von den „Freien Kräfte Neuruppin“ weitete die Thematik dann noch ins Globale aus und verurteilte in seiner Rede beispielsweise die „One World Faschisten“ oder der die „Hochfinanz“ (eine bei Antisemit_innen beliebten Metapher um das all zu offensichtliche J‑Wort zu meiden), die er wahlweise für die Weltpolitik inkl. „Flüchtlingskrise“ oder die Gedankenkontrolle verantwortlich machte.
Einen bleibenden Eindruck hinterließen die Neonazis durch derartige Propaganda jedoch nicht. Ihr aktionistisches Theater überzeugte in Neuruppin heute, wie auch schon bei vergangenen Aktivitäten offenbar niemanden. Neuruppin blieb einmal mehr bunt.