(ND, 6.10., Peter Nowak) Der Briefkasten des Potsdamer Oberbürgermeisters Jann Jacobs dürfte immer
sehr voll sein. Daher hat Heike S. auch am Mittwoch das Stadtoberhaupt
persönlich aufgesucht, um einen Offenen Brief mit dem Titel „Freiheit für
Julia“ zu übergeben. Dort haben sich Gruppen und Einzelpersonen aus Politik,
Wissenschaft und Kultur für die Freilassung der Tochter von Heike S.
ausgesprochen. Seit 20. Juni 2005 sitzt Julia S. in der JVA Luckau-Duben in
Untersuchungshaft. Die 21jährige Potsdamerin war mit anderen mittlerweile
gegen Auflagen aus der Haft entlassenen Personen am Abend des 18.Juni in
der Potsdamer Innenstadt festgenommen worden. Vorausgegangen war eine
tätliche Auseinandersetzung der Gruppe mit einem bekannten Neonazi, der
leicht verletzt wurde. Weil dabei auch ein Teleskopstock benutzt worden sein
soll, sieht die Staatsanwaltschaft die Tatmerkmale des gemeinschaftlichen
Mordversuchs gegeben. Die Untersuchungshaft für Julia S. wird mit der
Fluchtgefahr angesichts einer drohenden hohen Haftstrafe begründet.
In dem u.a. von der Filmemacherin Rosa von Praunheim, der AG
Antifaschismus der Universität Potsdam, dem Brandenburger Flüchtlingsrat und
verschiedenen Hochschulprofessoren aus Potsdam unterzeichneten Brief wird
hingegen ein anderes Bild gezeichnet.
„Eine antifaschistische Bedrohung in der Öffentlichkeit gibt es nicht -
Neonazis und ihre Strukturen sind das Problem“, betonen die Unterzeichner
des Offenen Briefes. Damit nehmen sie kritisch zu Presseveröffentlichungen
der letzten Wochen Stellung, die von einer Gewaltspirale zwischen Rechten
und Linken ausgehen. Im Brief werden einige rechte Übergriffe der letzten
Monate in Potsdam und Umgebung aufgelistet. Allein seit Mai 2005 seien in
Potsdam 17 rechte Übergriffe bekannt geworden. Die Dunkelziffer liege noch
höher. Sogar im Gerichtsgebäude seien Zeugen, die gegen Rechte aussagen
wollten, durch Neonazis massiv eingeschüchtert worden. Auch das linke
Potsdamer Wohnprojekt Chamäleon sei immer Ziel von Neonaziangriffen gewesen,
zuletzt am 12. Juni diesen Jahren. Julia ist Vorsitzende des Vereins
Chamäleon e.V. und ist auch selber schon von Neonazis angegriffen worden und
ist in Prozessen gegen Rechte als Zeugin aufgetreten.
In dem Brief wird kritisiert, dass Täter aus der rechten Szene oft mit
geringen Strafen davon kommen, während Linke gleich mit der Anklage des
Mordversuchs konfrontiert sind. Darin wird eine „offensichtliche
juristische Ungleichbehandlung“ gesehen.
Die Unterzeichner fordern die Aufhebung der Anklage wegen versuchten Mordes
und die sofortige Freilassung von Julia S. aus der Untersuchungshaft.
Auch der Potsdamer Rechtsanwalt Steffen Sauer, der Julia S. juristisch
vertritt, sieht in den Anklagevorwurf des Mordversuchs die Einschüchterung
einer politischen Aktivistin. „Julia S. ist in Potsdam relativ bekannt als
Ansprechpartnerin für offizielle Stellen wie z.b. die Landeszentrale für
politische Bildung“. Zwei Haftbeschwerden gegen diese Entscheidung sind von
der Potsdamer Justiz bisher verworfen worden.