(Heike Mildner, MOZ) Letschin. Wie haben Sie das Ende des Krieges vor 60 Jahren in der Oderregion erlebt? Was bewegt Sie heute, wenn Sie an das Jahr 1945 denken? — fragen wir in unserer Serie “60 Jahre danach”. Heute sind wir im Gespräch mit Ursula Fischer aus Sydowswiese über diese schwere Zeit.
Am 31. Januar 1945 hütet Ursula Fischer mit hohem Fieber zu Hause in Sydowswiese das Bett. Eigentlich sollte sie jetzt, wie schon im vergangenen Kriegsjahr, in der Heeresmunitionsanstalt Sonnenburg Flugabwehrgranaten für den Kampf um den Endsieg drehen. Doch die 19-Jährige hatte Scharlach bekommen, war ins Küstriner Lazarett gebracht und von dort nach Hause geschickt worden. Bis Golzow hatte sie ein Wehrmachts-LKW mitgenommen. Von Golzow bis Sydowswiese war sie zu Fuß über die Felder gegangen. Ihre Eltern fielen aus allen Wolken, als ihre Tochter Mitte Januar auf einmal fiebernd und entkräftet vor der Tür stand.
In Sonnenburg habe sie erlebt, wie Deutsche mit Menschen umgingen, die nicht deutsch, nicht blond und nicht blauäugig waren. Vor ihren Augen hatte damals ein Aufseher der Heeresmunitionsanstalt eine junge Zwangsarbeiterin geschlagen und zu Tode getreten. Weil ihr etwas vom Tisch gefallen war. Die deutschen dienstverpflichteten Frauen, die mit den Zwangsarbeiterinnen gemeinsam an dem Tisch arbeiteten, wurden angewiesen, kein Mitleid zu haben. Ursula Fischer kamen damals erste Zweifel an dem, was ihr beim Bund Deutscher Mädchen über die “Herrenrasse” gepredigt worden war.
Sonnenburg ist nun knapp zwei Wochen her, die junge Frau kämpft mit dem Scharlach. Die Russen sind noch weit, glaubt man den Nachrichten aus dem Volksempfänger. An diesem 31. Januar machen sich Ursulas Vater und zwei andere Männer aus dem Dorf mit dem Rad auf den Weg nach Kienitz. Auf der östlichen Oderseite wollen sie Baumstubben zum Feuermachen roden. Die drei trauen ihren Augen kaum, als sie in Kienitz auf Soldaten in der Uniform der Roten Armee treffen — Spitzen der 5. Stoßarmee, erfährt man heute aus Geschichtsbüchern. Die sagen etwas von “Damoi” zu den Sydowswiesern, sie sollen wieder nach Hause gehen. Dort glaubt ihnen keiner so recht, was sie soeben gesehen haben. Ein Wehrmachtsoffizier auf Fronturlaub in Kienitz benachrichtigt per Telefon das Oberkommando der Wehrmacht. Wer weiß, wie die Geschichte ohne diesen Anruf verlaufen wäre …
Wenn Ursula Fischer erzählt, rückt, was nun 60 Jahre her ist, in greifbare Nähe, wird fassbar. Die zierliche Frau, die verschmitzt lächelt, wenn man sich über die Zahl ihrer Lebensjahre verwundert zeigt, hat ein gutes Gedächtnis und ist eine geübte Erzählerin, die über den Fortgang der Ereignisse nicht erst lange grübeln muss.
Sie schildert die Odyssee der Fischers nach der Räumung von Sydowswiese. In einer Woche würden sie die Russen wieder über die Oder getrieben haben, war von den Soldaten zu hören. Einige Sydowswieser kamen bei Verwandten unter, die Fischers folgten mit anderen der Route, die die deutschen Strategen ihnen nach und nach zuwiesen. Zuerst ging es nach Buschdorf. “Meine Mutter hat mich auf meinen Rodelschlitten gesetzt und bis Buschdorf gezogen.” Eine Decke im Rücken und eine kleine Tasche war alles, was sie mitnahmen. Die 19-Jährige hatte immer noch hohes Fieber. Geflüchtet, vertrieben, evakuiert? Schwer zu sagen, meint Ursula Fischer, auch nach 60 Jahren.
Von Buschdorf zog die Familie weiter nach Worin und von dort nach Münchehofe. Ihr Vater sei dann noch zum Volkssturm nach Müncheberg einberufen worden. Ursula Fischer blieb mit ihrer Mutter und einer anderen Sydowswieserin und deren Tochter zusammen. Per Sonderzug von Trebnitz aus gelangten sie nach Glöwen, eine Station vor Wittenberge und mit einem Pferdefuhrwerk weiter nach Söllentin in der Prignitz. Dort kamen sie bei einer Bauernfamilie unter. Nach den Massenquartieren der letzten Wochen sei es den Vieren bis zum ersten Mai dort recht gut gegangen, erinnert sich Ursula Fischer. Doch inzwischen waren in Söllentin die Russen mit weißen Fahnen empfangen worden. Am 1. Mai befahlen sie den Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimatdörfer, sofern diese östlich der Oder lägen.
Zu Fuß machten sich die Sydowswieser von Söllentin auf den Weg nach Hause, ruhten sich unter freiem Himmel oder in Scheunen aus, ernährten sich von Rhabarber und Brennnesseln, hatten immer Hunger. Manchmal schlossen sich ihnen andere an, dann wieder liefen sie zu viert. Einmal habe sie, als sie durch ein Dorf liefen, ein russischer Soldat zu sich gerufen. Alle befürchteten das Schlimmste. Schließlich hörte man immer wieder von Vergewaltigungen. Doch die junge Frau kam unversehrt und mit Brot und einem Stück Speck wieder. “Scheinbar hab ich so elend ausgesehen von dem Scharlach …”, bemerkt Ursula Fischer trocken. Solche Erlebnisse prägen sich ein.
Am 9. Mai endet der lange Fußmarsch mit zerfetzten Schuhen und kaputten Füßen. Als sie den Letschiner Kirchturm gesehen habe, habe sie auch wieder laufen können. In Letschin bekamen die Hungrigen ein Brot von der Bäckerei in der Ursula Fischer vor dem Krieg Lehrling gewesen war und zogen weiter nach Sydowswiese.
Dort war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. In der Frühlingsluft lag Leichengeruch. Das erste, was die Heimgekommenen taten, war, die Gefallenen zu begraben. Dann kam der Typhus. Wenn sie heute die Berichte von der Flutkatastrophe höre, wisse sie nur zu gut, wovon die Rede sei, meint Ursula Fischer.
In den ersten Tagen hatten die Heimkehrer weder Streichhölzer noch Feuerzeug. Was da ist, wird roh gegessen. Kein warmes Wasser, um sich einmal richtig zu waschen, kein warmes Getränk. Die Russen teilen die Deutschen zur Arbeit ein. Die Zickzackgräben auf dem Deich werden zugeschaufelt. Wer arbeitet, bekommt Brot. Ursula Fischer und andere Frauen schlagen Pflöcke in den Boden und ziehen Markierungsleinen bei einem russischen Minensuchkommando. Als sich einer der Soldaten in der Pause eine Zigarette anzündet, machen die Helferinnen große Augen. Der Soldat braucht ein bisschen, bis er begreift, dass es um sein Feuerzeug geht. Und er überlässt es ihnen. Dieses Feuerzeug hätten sie gehütet wie ein Geschenk. Kein Geschenk des Himmels, sondern eins der vordem verhassten Russen. Auch das prägt sich ein.
Fragt man Ursula Fischer nach ihrem Leben vor 60 Jahren, klagt sie nicht, sie schildert. Auch wenn es ebenso entbehrungsreich war wie das anderer ihrer Generation. Sie sage nur, was sie selbst erlebt habe, auch wenn andere sie vielleicht für bekloppt hielten, meint Ursula Fischer kampfeslustig. Auch die Deutschen hätten gelitten. Aber man dürfe nicht vergessen, dass sie den Krieg begonnen und viel Leid über andere Völker gebracht haben. Das sagt sie auch denen, die das heute nicht oder nicht mehr hören wollen.