(von Kay Wendel, aus Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, 1/2003)
Spezifische Opfererfahrungen von Migranten waren in der sozialwissenschaftlichen Forschung bisher kaum Thema.[1] Neben der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre vorherrschenden Zentrierung des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses auf jugendliche Täter dürfte dies auch dem schwierigen Zugang der Forschung zu Migranten als Opfer geschuldet sein. Ein beträchtlicher Teil entzieht sich als Forschungsobjekt, ein Verhalten, das mit bestimmten Reaktionsformen auf die Opfererfahrung zusammenhängt. Da für ein einzelnes Opfer der unmittelbare Nutzen wissenschaftlicher Forschung oft nicht ersichtlich ist, gibt die Vorstellung, sich durch Befragung einer erneuten Konfrontation mit extrem belastenden Erlebnissen auszusetzen, den Ausschlag für eine Entscheidung gegen das Befragtwerden.
Anders verhält es sich mit Projekten, die Opfern eine praktische Hilfsperspektive bei der Bewältigung der Folgen einer Opfererfahrung anbieten. Auch hier kommt es vereinzelt zu einer Zurückweisung von Hilfeangeboten, doch meist kann sich in der tätigen Unterstützung und Begleitung ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Opfer und Beratern entwickeln. Allein schon deshalb, weil der Umgang des Opfers mit den Folgen der Opfererfahrung durch die Unterstützung beeinflusst wird, können die Erfahrungen der Berater über sozialwissenschaftliche Interviewsituationen hinausgehen. Sie sind selbst Akteure, deren Erfahrungen an die eigene Handlungsperspektive gebunden sind. Der Vorstellung einer objektiven Erkenntnis einer vom Betrachter unabhängigen sozialen Realität müssen die Erfahrungen aus einer solchen “unterstützenden Beobachtung” widersprechen. Ob ihnen dennoch eine Validität zukommt, würde von der Genauigkeit und Differenziertheit der Beobachtung und Selbstbeobachtung abhängen.
Die im Folgenden dargestellten Erfahrungen aus der unterstützenden Beobachtung wurden im Rahmen des Projekts “Opferperspektive” gemacht, eines seit 1998 existierenden, primär praktisch orientierten Projekts zur Unterstützung und Beratung von Opfern rechtsextremer Gewalt in Brandenburg.[2] Obwohl das Projekt sich um eine theoriegeleitete, systematische Form der Betreuung und Dokumentation bemüht und die Erfahrungen in einem Prozess der selbstreflexiven Teamarbeit ausgewertet werden, erreichen sie nur mit Einschränkungen die Validitätskriterien qualitativer Sozialforschung in einem strengen Sinne. Die Darstellung ist daher als eine erste Skizze zu verstehen, der eine genauere praktisch-wissenschaftliche Untersuchung noch folgen müsste.
Die Situation in Brandenburg
1998 ist das Jahr, in dem das Projekt “Opferperspektive” gegründet wurde, und 1998 markiert auch den Beginn des ersten umfassendes Landesprogramms zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, des so genannten Handlungskonzepts “Tolerantes Brandenburg”.[3] Die späteren Bundesprogramme aus dem Jahr 2000 nahmen wesentliche Elemente aus diesen Ansätzen auf Landesebene auf. Das Projekt “Opferperspektive” wie auch das Landesprogramm “Tolerantes Brandenburg” reagierten damals auf die zweite Welle rechtsextremer Gewalt in den 90er Jahren. Nachdem die erste Welle, die auf den Zeitraum von 1990 bis 1993 datiert werden kann, in der Öffentlichkeit als relativ eingedämmt wahrgenommen wurde — eine trügerische Wahrnehmung, denn die Zahlen der rechtsextremen Angriffe hielten sich auf einem hohen Niveau -, kam es ab 1996 in den neuen Bundesländern wieder zu einem Anstieg der rechtsextremen Gewalt. Ab Ende 1997 wurde diese neue Gewaltwelle mit dem rechtsextremen Schlagwort “national befreite Zonen” thematisiert, seit diesem Zeitpunkt deutete sich auch eine erhöhte mediale Sensibilität für Opfer rechtsextremer Gewalt an. Seitdem kann ein tendenzieller Paradigmenwechsel beobachten werden: weg von der Täterzentrierung aus der Zeit zu Anfang der 90er Jahre — eine Praxis, die unter dem Stichwort “akzeptierende Sozialarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen” betrieben wurde (vgl. Buderus 1998) -, hin zu einem Ernstnehmen der Perspektive der Opfer.[4]
Ausmaß der rassistischen Gewalt
Einen ersten, provisorischen Eindruck vom Ausmaß der rechtsextremen Gewalt gibt die Statistik, die von der “Opferperspektive” kontinuierlich geführt wird.[5] Im Jahr 2002 registrierten wir insgesamt 105 Angriffe mit rechtsextremen oder rassistischen Hintergrund in Brandenburg, bei denen 108 Menschen körperlich verletzt wurden. 39 der Verletzten waren nichtdeutscher Nationalität, davon 22 Asylbewerber, sieben waren russlanddeutsche Aussiedler (davon ein Ermordeter), zwei waren Obdachlose, der Rest mit 51 Verletzten überwiegend nichtrechte Jugendliche aus dem alternativen Milieu neben anderen Deutschen. Unter der Vermutung, auch bei Angriffen auf russlanddeutsche Aussiedler spiele eine rassistische Tatmotivation eine Rolle — den Angriffen gingen oft Anpöbeleien als “Russen” voran -, sind ca. 43 % der 108 Opfer von rassistischer Gewalt betroffen.
Interessant ist der Ost-West-Vergleich. Dazu muss jedoch auf die Zahlen der Landeskriminalämter zurückgriffen werden, die eine andere Zählweise verwenden und ihr Erfassungssystem im Jahr 2001 grundlegend modifiziert haben.[6] Danach ist für das Jahr 2000 die absolute Zahl der Gewalttaten gegen Fremde mit 112 Angriffen in Nordrhein-Westfalen am höchsten, setzt man jedoch die Zahl der fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten zur Zahl der im Land lebenden Ausländer ins Verhältnis, so ist das Opferrisiko für Migranten im Jahr 2000, also das Risiko, als Migrant in Brandenburg Opfer einer fremdenfeindlich motivierten Gewalttat zu werden, 19,4 Mal höher als in Nordrhein-Westfalen.[7] Das subjektiv wahrgenommene Risiko lässt sich jedoch nicht mit diesen Zahlen ausdrücken, die nur ein erster Indikator für das Ausmaß der rassistischen Bedrohung in Brandenburg sind.
Bei der übergroßen Mehrheit der uns bekannten Gewaltdelikte handelt es sich um Körperverletzungen, Nötigungen und Bedrohungen. Ein geringerer Teil sind Brandstiftungen und Sachbeschädigungen an Imbisswagen, die einen türkischen oder vietnamesischen Betreiber haben. Im Jahr 2002 haben wir sieben solche Brandstiftungen und Sachbeschädigungen in Brandenburg registriert. Diese Kategorie sollte auch zu den rassistisch motivierten Gewalttaten gezählt werden, da diese Brandstiftungen indirekte Angriffe auf Personen sind, deren wirtschaftliche Existenz zerstört werden soll, um sie zu vertreiben.
Fallbeispiel Rathenow
Die wesentlichen Erfahrungen von Opfern rassistischer Gewalt sollen anhand eines Fallbeispiels dargestellt werden, auf das später noch einzugehen ist. Der Angriff ereignete sich in der Silvesternacht des Jahres 1999/2000, während des so genannten Millennium-Silvester. Tatort war Rathenow, das zu diesem Zeitpunkt Standort von zwei Asylbewerberunterkünften mit ca. 150 Asylbewerbern war. Eine Gruppe von sechs pakistanischen Asylbewerbern besucht eine Diskothek. Anschließend gehen sie weiter ins Stadtzentrum. Sie wohnen noch nicht lange in Rathenow und erwarten, dass sie mit Deutschen zusammen Silvester feiern können. Was sie nicht wissen, ist, dass die zentrale Kreuzung in Rathenow jedes Silvester Treffpunkt der rechten Szene ist. So geraten sie mitten in eine unübersichtliche Ansammlung von etwa 50 Personen, viele sind angetrunken, da
runter verschiedene rechtsextreme Cliquen. Eine fünf- oder sechsköpfige Clique bemerkt die Pakistani, ein Ruf genügt, und die Clique stürmt auf die Pakistani los und schlägt zwei von ihnen. Die Pakistani ergreifen die Flucht, verfolgt von den rechtsradikalen Angreifern, die mit Leuchtmunition nach ihnen schießen und Flaschen werfen. Einer der Pakistani wird getroffen und eingeholt. Er wird schwer zusammengeschlagen, bis eine deutsche Familie auf dem Weg nach Hause vorbeikommt und ruft, sie sollten aufhören. Die Familie leistet erste Hilfe und ruft die Polizei. Während sie auf die Polizei warten, werden sie und der Verletzte von einer anderen Clique Rechtsradikaler mit Knallern beworfen. Der Verletzte wird ins Krankenhaus gebracht, wo zwei abgebrochene Schneidezähne und schwere Rippenprellungen festgestellt werden. Er muss fünf Tage in stationärer Behandlung bleiben.
Psychische Prozesse der Opfererfahrung
Welche psychischen Prozesse laufen in einem Opfer rassistischer Gewalt ab? Zunächst löst der Angriff auf die körperliche Integrität Gefühle von Todesangst und Panik aus. Schon in das Erleben des Angriffs als potenziell lebensbedrohlich mischen sich kollektive Vorerfahrungen. Es kommt zu einer Rückkoppelung der kollektiven Viktimisierung auf die individuelle Opfererfahrung. Exemplarisch ist die Aussage des Algierers Khaled Bensaha, der mit zwei weiteren Asylsuchenden in der Nacht zum 13.02.1999 von einer Gruppe Rechtsradikaler in Guben gejagt wurde, wobei Farid Guendoul umkam. Im Interview sagt er auf die Frage, “Hattest du Todesangst?”: “Ja, das stimmt, das war Todesangst: Beim Rennen erinnerte ich mich an die Geschichten, die ich gehört hatte, von Leuten, die geschlagen wurden, dabei schwer verletzt worden sind. Oft hieß es, dass diese von Glück reden könnten, dabei nicht ums Leben gekommen zu sein. Ich hatte ihnen bis dahin nicht so ganz geglaubt, ich hatte mir das vorher nicht so richtig vorstellen können, aber in diesem Moment konnte ich es plötzlich. Ich renne und mein Leben steht auf dem Spiel, wenn ich Glück habe, komme ich weg, wenn nicht, werde ich sterben.” (Brauns/Wendel 2001, 105)
Gleichzeitig ergreift ein Gefühl der Ohnmacht und Ausweglosigkeit das Opfer. Die Handlungsoptionen Flucht oder Verteidigung sind verstellt, es ist als bloßes Objekt der Macht der Täter ausgeliefert. Haben Opfer rassistischer Gewalt diese Opfererfahrungen noch mit anderen Gewaltopfern gemein, so sind nun die Interpretationen des Angriffs und die Zuschreibung der Tatmotive unterschiedlich. Zunächst erscheint der Angriff unverständlich und scheinbar grundlos. Exemplarisch auch hier Bensahas Antwort auf die Frage “Welche Gefühle hattest du angesichts dieser Aggressivität?”: “Ich wollte eigentlich nur wissen, was hier geschieht, eine Erklärung, nichts als eine Erklärung, warum geschieht das? Wir hatten nichts gemacht, niemanden provoziert, es gab keine Zwischenfälle vorher, es passierte von einer Sekunde auf die andere … wie ein Blitz aus heiterem Himmel.” (Brauns/Wendel 2001, 107)
Dieses Unverständnis drückt sich in typischen Fragen wie der folgenden aus: “Warum haben sie mich angegriffen? Ich habe ihnen doch nichts getan, ich kenne sie nicht einmal.” Die Frage impliziert, dass der Angriff verstehbar gewesen wäre, wenn er als eine Reaktion auf eine Normverletzung durch das Opfer wahrgenommen worden wäre und das Tatmotiv sich gegen die Persönlichkeit des Opfers gerichtet hätte. Da diese Bedingungen hier nicht gegeben sind, bleibt der Angriff für das Opfer unverständlich, oder das Opfer interpretiert den Angriff auf sich damit, dass es stellvertretend für die eigene Nationalität oder alle Nichtdeutschen angegriffen wurde. Getroffen wurde einer, gemeint waren alle Nichtdeutschen. Diese stellvertretende Viktimisierung (Strobl 1998, 15) verletzt in besonderer Weise die geteilte Norm der Gleichheit, die von einer Mehrheit der nichtdeutschen Opfer als Menschenrecht angesehen wird. Nicht gegen ein besonderes Individuum mit einer besonderen Persönlichkeit richtet sich das Tatmotiv, sondern das Tatmotiv muss verstanden werden als ein Feindbild, das die Täter über die Gruppe der Nichtdeutschen konstruiert haben. Die die Tat begleitenden rassistischen Beschimpfungen bestätigen diese Interpretation.
Ein besonderes Merkmal rassistischer Gewalt liegt darin: sie stempelt das nichtdeutsche Opfer zum Fremden, zum Eindringling, dessen Recht, zur Gesellschaft dazuzugehören, bestritten wird. Das Opfer sieht sich unter Druck gesetzt, sich für seine Existenz zu rechtfertigen, sich gegen die negativen Zuschreibungen zu verteidigen, will es nicht sein Selbstwertgefühl verlieren. (vgl. Pilz 2001)
Eine Reihe von Faktoren beeinflusst die Opfererfahrung während und nach der Tat. Die wichtigsten sind Reaktionen unbeteiligter Dritter, das Verhalten der Polizei, die Justiz, die mediale und kommunale Öffentlichkeit.
Reaktionen unbeteiligter Dritter
Entscheidend für die Opfererfahrung sind die Reaktionen unbeteiligter Dritter. Besonders traumatisch sind Angriffe, bei denen Zuschauer untätig bleiben, Hilfe verweigern oder das Opfer sogar verspotten. Das Nichteingreifen wird vom Opfer oft interpretiert als Gleichgültigkeit oder als Zustimmung zu den Tatmotiven. Einen Einfluss auf solche Interpretationen haben allerdings Vorerfahrungen der Opfer mit rassistischen Diskriminierungen durch äußerlich unauffällige Deutsche. Die rassistischen Tatmotive werden bei solchen Erfahrungen von den Opfern meist nicht nur einer eng umgrenzten Gruppe — etwa jugendlichen Skinheads — zugeschrieben, sondern verallgemeinert auf einen relevanten Teil der deutschen Bevölkerung. Das Misstrauen gegen und die Distanz zur Mehrheitsgesellschaft werden verstärkt.
Verhalten der Polizei
Ein weiterer wichtiger Faktor, der auf die Opfererfahrung Einfluss hat, ist das Verhalten der Polizei. Gravierend sind Erfahrungen, wenn die Polizei in ihrer Schutzfunktion als untätig erlebt wird, wenn dem Opfer von der Polizei eine Täterrolle zugeschrieben wird oder wenn Opfer bei der Anzeigenstellung abgewiesen werden. Negativ wird auch eine mangelnde Information über den Fortgang der Ermittlungen oder Vernehmungen ohne ausreichend qualifizierte Dolmetscher erlebt. Solche Erfahrungen führen oft zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Instanzen der Mehrheitsgesellschaft und zu Resignation und Rückzug. Umgekehrt kann ein als korrekt wahrgenommenes Verhalten der Polizei einen wesentlichen Beitrag zur Wiedergewinnung des eigenen Selbstwertgefühls sein. Das Opfer erlebt dann die Polizei als Verbündete bei der Wiederherstellung der Geltung der verletzten Norm.
Justiz
Neben der Polizei hat die Justiz einen gewichtigen Einfluss auf die Opfererfahrung. Häufig fehlt nichtdeutschen Opfern das Wissen um ihre eigenen Rechte und um die Funktionsweise des deutschen Rechtssystems. Der Stand der Ermittlungen bleibt verborgen, die oft lange Dauer von durchschnittlich einem halben bis zu einem Jahr zwischen Tat und Hauptverhandlung kann das Ohnmachtsgefühl des Opfers verstärken. Im Falle des Angriffs auf die Pakistani in Rathenow brauchte die Justiz nach sehr umfangreichen Ermittlungen zwei Jahre und vier Monate, um die Tatverdächtigen vor Gericht zu stellen. Ein Teil der Opfer lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Deutschland. Eine besondere Belastung für das Opfer ist die Konfrontation mit den Angeklagten im Gerichtssaal, besonders, wenn diese Uneinsichtigkeit zur Schau stellen, wenn ihre Verteidiger die Täterversion zu scheinbar legitimen Argumenten elaborieren und der Gerichtssaal mit Anhängern und Freunden der Angeklagten gefüllt ist. In einer solchen Situation kann es zu einer sekundären Viktimisierung kommen. Urteil
e, die von Opfern als zu milde empfunden werden, können das Vertrauen in die Funktionalität der justiziellen Bearbeitung in Frage stellen.
Reaktionsformen auf kollektive Viktimisierungen
Der rassistische Angriff auf ein einzelnes Opfer hat oft weitreichende soziale Folgen. Die Interpretation rassistischer Gewalt als stellvertretende Viktimisierung führt zu einer kollektiven Viktimisierung der Eigengruppe. (vgl. Strobl 1998, 15) Der geschilderte Angriff in Rathenow betraf unmittelbar sechs pakistanische Asylbewerber. Die Nachricht dieses schweren Angriffs verbreitete sich schnell unter anderen Asylbewerbern verschiedener Nationalität im Wohnheim. Sie verband sich mit dem Wissen um eine Serie von Angriffen auf Asylbewerber. Mehr oder weniger alle Rathenower Asylbewerber entwickelten Angst vor weiteren Angriffen. Das subjektiv wahrgenommene Opferrisiko vergrößerte sich bedrohlich. Nicht nur das traumatisierte Opfer reagierte mit Vermeidungsverhalten — der in der Silvesternacht angegriffene Pakistani verließ 47 Tage lang nicht mehr das Heim -, das Kollektiv der potenziellen Opfer zog sich ebenfalls aus dem öffentlichen Raum zurück. Am Abend gingen sie nicht mehr auf die Straße, am Tage nur noch in Gruppen.
Diese Rückzugstendenzen haben Einfluss auf das allgemeine Verhältnis zwischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft. Die in der kollektiven Viktimisierung entwickelten Ängste strukturieren verborgene Regeln des öffentlichen Raums. (vgl. Oswalt 2001) Bestimmte Orte werden zu bestimmten Tageszeiten als dominiert von rassistisch eingestellten Cliquen wahrgenommen. Das subjektive Opferrisiko erscheint in diesen Angstzonen als nicht mehr akzeptabel, die Orte werden gemieden. Der öffentliche Raum wird vorgestellt als durchsetzt von “No-go areas”, Zonen, die zu meiden sind, weil sie als zu gefährlich erscheinen. Es kommt zu einer Verdrängung der Gruppe potenzieller Opfer aus diesen Räumen und indirekt zu einer Bestätigung der Dominanz rechter Cliquen über diese Räume.
Interessant ist, dass die subjektiv wahrgenommene Gefährlichkeit bestimmter Orte nicht mit den tatsächlichen Angriffsorten identisch ist. Eine Untersuchung über rechtsextreme Angriffe in Cottbus (Oswalt 2001) brachte hervor, dass sich die Gewalttaten überall im Stadtgebiet ereignen und räumlich nicht eingegrenzt werden können. Hingegen konzentrierten sich die Ängste vor Angriffen auf bestimmte Plattenbauviertel und auf öffentliche Verkehrsmittel nach Einbruch der Dunkelheit. Zu vermuten ist, dass diese Ängste mit der Struktur dieser Räume zu tun haben: unbelebte, fast menschenleere Räume, in denen Opfer möglichen Angreifern allein, ohne Hilfe von Dritten, ausgeliefert sein würden. Der Hauptbahnhof, tatsächlich ein Ort, an dem sich häufig rassistische Angriffe ereignen, wird weniger als ein Angstraum wahrgenommen, vermutlich weil dieser Raum belebter ist und Sicherheitsdienste sichtbar sind.
Der Rückzug, die Resignation und das Verharren in der Opferrolle sind jedoch nur eine von möglichen Reaktionsformen von Opfern rassistischer Gewalt. Besonders im Falle von nichtdeutschen Imbissbesitzern, auf deren Stände Brandanschläge verübt werden, beobachten wir oft Verdrängungen der andauernden Gefahr. Diese Opfer interpretieren den Angriff oft nicht als rassistisch, also gegen die Eigengruppe gerichtet und im Motiv von einem relevanten Bevölkerungsteil geteilt. Stattdessen schreiben sie das Tatmotiv dem Täter persönlich zu: die Tat wird z.B. auf den Alkoholkonsum eines Einzeltäters zurückgeführt, sie wird als Ausnahme wahrgenommen. Mit einer solchen Interpretation kann das Opfer weiter seiner Arbeit nachgehen. Zu vermuten ist, dass hier der ökonomische Zwang zu einem Arrangement mit einer Kundengruppe wirkt, die in Teilen rassistisch eingestellt ist.
Eine dritte Reaktionsform ist der Kampf um die Wiederherstellung der verletzten Norm. Nach dem Angriff auf die Pakistani in der Silvesternacht und weiteren Angriffen auf Asylbewerber in Rathenow schrieben einige von ihnen Anfang Februar 2000 ein Memorandum an politische Instanzen des Bundeslandes. In dem von 47 Asylbewerbern unterzeichneten Text heißt es:
“Sehr geehrte Damen und Herren, wir mussten leider zur Kenntnis nehmen, dass trotz dieser Angriffe und unserer Lebensbedrohung die Obrigkeit des Landes Brandenburg nichts getan hat. Wir finden das Land zu unsicher, um darin zu leben. Niemand ist in der Lage, unsere Sicherheit zu garantieren. Angesichts anderer Übergriffe, wie in Potsdam, Belzig und Cottbus, appellieren wir an Sie: Besinnen Sie sich auf Ihre Menschlichkeit und Ihre Macht und handeln Sie, bevor die Situation eskaliert. Es gibt ein Sprichwort, dass Länder, um Frieden zu haben, zum Krieg rüsten müssen. Wir wollen uns nicht länger in Angst oder mit Waffen bewegen müssen. Wir wollen nicht länger Blut sehen.
Bitte, wenn die Rechten nicht zur Ordnung gebracht und Asylbewerber nicht respektiert werden können, wenn auch die Genfer Konvention nicht berücksichtigt werden kann, bitte, bitte: Bringen Sie uns aus dem Land Brandenburg.” (Der Tagesspiegel, 05.02.2000)
Dieses Beispiel ist allerdings einzigartig. Rathenow war der erste Ort, an dem sich eine Gruppe von Opfern und potenziellen Opfern politisch selbst organisiert hat, mit dem Ziel, zukünftigen rassistischen Angriffen vorzubeugen. Inzwischen arbeiten einzelne Asylbewerber aus einer Reihe von Brandenburgischen Heimen in der aus der Memorandum-Gruppe hervorgegangenen “Brandenburger Flüchtlingsinitiative” mit. Die politische Gruppe der Rathenower Flüchtlinge hatte es vermocht, den Rückzug und die Resignation in ein aktives Engagement gegen Rassismus zu wandeln.
Kommunale Reaktionsmuster zwischen Solidarität und Leugnung
Waren auf Landesebene mit dem “Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg” seit 1998 gewisse Fortschritte bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus festzustellen, so herrschten zur Zeit des Rathenower Memorandums im Jahr 2000 auf der kommunalen Ebene eine Reihe stereotyper Reaktionsmuster vor, die vom konsequenten Nichtwahrnehmen des Problems über Bagatellisierung und Verharmlosung bis zu einer Problemverschiebung reichten (vgl. Wendel 2001b). Solche kommunalen Reaktionsformen haben jedoch einen wichtigen Einfluss auf die Bewältigung der Opfererfahrung, denn sie wirken in die kommunale Öffentlichkeit als Orientierung für den Umgang mit Opfern rechtsextremer Gewalt. Ähnlich wie die Reaktionen unbeteiligter Dritter während des Angriffs sind sie ein Indikator dafür, ob für das Opfer eine Solidarisierung von Deutschen wahrnehmbar ist oder ob es im Gegenteil zu einer sekundären Viktimisierung kommt. Eine solche sekundäre Viktimisierung kann auch beschrieben werden als eine Übernahme der Täterversion zur Erklärung des Angriffs: dem Opfer wird eine Mitschuld am Angriff gegeben; unter Rekurs auf rassistische Stereotype wird das Verhalten des Opfers als unangemessen, bedingt durch seine fremde Kultur, erklärt; umgekehrt werden die Täter entlastet, ihre Motive werden als zumindest teilweise nachvollziehbar erklärt, wieder unter Rekurs auf rassistische Stereotype. (vgl. Wendel 2001a)
Ein Beispiel für die Leugnung rassistischer Gewalt als eines besonderen gesellschaftspolitischen Problems sind die Äußerungen des damaligen Rathenower Bürgermeisters zum Angriff auf die Pakistani. Er hielt sich schlichtweg nicht für zuständig, um zum Überfall Stellung zu beziehen. Der Bürgermeister in einem Zeitungsinterview: “Ich kenne nicht die Hintergründe (…) wozu soll ich mich erklären?” Auf die Frage, ob er dem Asylbewerberheim nach den Vorfällen, deren ausländerfeindlicher Charakter ja mindestens in einem Fall au
f der Hand liegt, einen Besuch abgestattet habe, antwortet der Bürgermeister: “Da müsste ich ja zu jedem anderen gehen, der zusammengeschlagen wurde” (Frankfurter Rundschau vom 02.02.2000). Diese Äußerung beinhaltet den Verdacht, dass andere als rassistische Motive eine Rolle gespielt haben und negiert gleichzeitig alle Unterschiede zwischen rassistischer und normaler krimineller Gewalt. Schnell wird der einseitige Überfall zu einer “normalen” Wirtshausschlägerei, bei der beide Parteien die Schuld trifft. Übrig bleibt ein Konflikt zwischen Privatpersonen, der mit ungesetzlichen, da gewaltförmigen Mitteln ausgetragen wurde. Das rassistische Tatmotiv und die gesellschaftliche Wirkung der Tat auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Nichtdeutschen wird dabei ausgeblendet. Die fehlende Reaktion des Bürgermeisters, sein Schweigen, wirkt wie eine Bagatellisierung der rassistischen Gewalt.
Äußerungen von Kommunalpolitikern wie die oben zitierte sind deshalb so fatal, weil sich ein relevanter Teil der deutschen Bevölkerung an lokalen Autoritäten orientiert. Die “schweigende Mehrheit” der Bürger dürfte sich in ihren Ansichten bestätigt fühlen. Der Bürgermeister einer Kleinstadt im Süden Brandenburgs erhielt Dutzende zustimmender Briefe zu seiner Äußerung, was der Asylbewerber- gemeint war der in einer Hetzjagd in Guben gestorbene Farid Guendoul — denn nachts um diese Zeit auf der Straße zu suchen hatte (Berliner Morgenpost vom 07.09.1999).
Alltagsrassismus
Verkürzt wäre es allerdings, einen direkten Einfluss solcher Äußerungen auf die individuelle Bewältigung der Opfererfahrung nachweisen zu wollen. Diese Debatten spielen sich in Lokalmedien und in bestimmten Räumen der kommunalen Öffentlichkeit ab, soziale Räume, an denen die meisten der nichtdeutschen Opfer aufgrund ihrer marginalen sozialen Stellung nicht partizipieren. Liest man diese Äußerung von Kommunalpolitikern hingegen als ein Symptom für rassistische Einstellungen in der Bevölkerung, so wird der Blick auf das Verhältnis zwischen der nichtdeutschen Minderheit und der deutschen Mehrheitsbevölkerung gelenkt. Drei Faktoren sind hier für die Interpretation der Gewalterfahrung durch das Opfer besonders entscheidend: Vorerfahrungen mit Verhaltensweisen unauffälliger Deutscher, die als Diskriminierungen erlebt werden, die Reaktionen unbeteiligter Dritter während des Angriffs und der Umgang mit dem Opfer nach dem Angriff. In dieser Perspektive erscheint die rassistische Gewalt als ein gravierender Höhepunkt in einem Kontinuum von Ausgrenzungserfahrungen. Vor dem Hintergrund negativer Erfahrungen in den drei Dimensionen lassen sich die rassistischen Tatmotive nur noch schwer auf eine bestimmte kleine Gruppe der deutschen Bevölkerung einschränken, wie jugendlichen Skinheads, sondern werden, wenn nicht global der gesamten deutschen Bevölkerung, so doch einem relevanten Teil zugeschrieben. Diskriminierende Verhaltensweisen “ganz normaler Deutscher” können als rassistische Viktimisierung erlebt werden. Ein Beispiel schildert ein 33-jähriger schwarzer Südafrikaner in Hennigsdorf bei Berlin:
“Ein anderes Beispiel, was ich erlebt habe, war die Situation mit den Kindern. Ich saß eines Morgens vor meinem Haus, um die Sonne zu genießen, und da kam eine Kindergartengruppe auf mich zu. Wie Sie wissen, mag ich Kinder sehr gerne, und ich wollte mit ihnen spielen. Ein Kind schrie entsetzlich und eine Frau, ich nehme an, es war die Kindergärtnerin, kam auf mich zu und sagte: ‚Gehen Sie ins Haus, das Kind weint wegen Ihnen, es hat Angst vor Schwarzen. Aber wie kann ein Kind Angst vor mir haben? Ich kenne die Bedeutung von ‚verschwinde, dies sagte die Frau zu mir mit einer aggressiven Stimme, und diese Frau war eine ganz normale Deutsche.” (Luzar 2002, 68)
Institutioneller Rassismus
Neben der rassistischen Gewalt, neben dem Alltagsrassismus ist ein weiterer Bereich für die Opfererfahrung von Asylbewerbern relevant: der institutionelle Rassismus. Während der Begriff “institutioneller Rassismus” in der deutschen Öffentlichkeit noch als Provokation wahrgenommen wird, verwenden ihn offizielle britische Stellen seit 1999, so die Stephen Lawrence Inquiry. Ute Osterkamp bemerkt: “Der Begriff institutioneller Rassismus soll deutlich machen, daß rassistische Denk- und Handlungsweisen nicht Sache der persönlichen Einstellungen von Individuen, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders verortet sind, welche die Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch gegenüber den Nicht-Dazugehörigen privilegieren. Indem man sich solchen Bedingungen anpaßt, die einen gegenüber anderen bevorzugen, beteiligt man sich an deren Diskriminierung, ohne daß persönliche Vorurteile im Spiel sein müssen.” (Osterkamp 1997, 95)
Gerade die hier angesprochene Opfergruppe befindet sich in einer marginalisierten Lage. Ihr Aufenthalt wird als nur vorübergehend definiert und daher werden sie von Integrationsmaßnahmen zum größten Teil ausgenommen. Ein unsicherer Aufenthaltsstatus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten, als Schikanen erlebte Einschränkungen wie die Residenzpflicht[8] oder Wertgutscheine zum Einkaufen, eine Unterbringung in abgelegenen, schäbigen Unterkünften, all das verringert ihre sozialen Teilhabechancen an der Aufnahmegesellschaft auf ein Minimum. Asylbewerber sind abhängig von den Entscheidungen einzelner Sachbearbeiter der Ausländerbehörde oder des Sozialamts, die einen gravierenden Einfluss auf ihre Lebensverhältnisse haben.[9]
Aufgrund dieser Lebensverhältnisse fallen viele Asylbewerber in einen Zustand depressiver Resignation. In verschiedenen Unterkünften in Brandenburg konnten wir beobachten, wie das Leben vieler Asylbewerber auf eine Abfolge von Schlafen, Essen und Warten reduziert ist. Die Untätigkeit und soziale Isolation zermürbt und führt zu Apathie. Doch Kompetenzen und Ressourcen sind auch unter Asylbewerbern ungleich verteilt. Wer seine Hoffnungen noch nicht aufgegeben hat und wer kann, versucht aus der sozialen Isolation der abgelegenen Unterkünfte zu fliehen. Ein Teil entscheidet sich für ein Leben in der Illegalität in den größeren Städten. Dort haben sie Arbeitsmöglichkeiten und Zugang zu ethnischen Gemeinschaften, die ihre geringen sozialen Teilhabechancen teilweise verbessern können. Zurück in den Unterkünften in den entfernten ländlichen Regionen bleibt die Diaspora der extrem marginalisierten Asylbewerber. In manchen der ländlichen Unterkünfte wohnt permanent nur etwa ein Fünftel der gemeldeten Bewohner.
Manchmal können wir in unserer Arbeit nur schwer unterscheiden, ob die Depressivität von Opfern Folge eines rassistischen Angriffs ist oder ob sie den marginalisierenden Lebensverhältnissen geschuldet ist. Es kam zur paradoxen Erfahrung, dass Opfer nach einem rassistischen Angriff endlich die Hoffnung entwickelten, wegen des Angriffs in eine größere Stadt umverteilt zu werden. Bei der Motivation für den Umzug lässt sich kaum mehr unterscheiden, welchen Einfluss die traumatische Opfererfahrung, welchen Einfluss die soziale Isolation der allgemeinen Lage als Asylbewerber und welchen Einfluss die Hoffnungen auf bessere soziale Teilhabechancen in den größeren Städten haben. Die Stadt Potsdam ist ein Beispiel für eine widersprüchliche Entwicklung. Einerseits haben sich die Lebensbedingungen für Asylbewerber durch eine Reihe von Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse und eigene Wohnungen deutlich verbessert. Auch haben sich kleine ethnische Gemeinschaften mit Anschluss an grö&sz
lig;ere in Berlin gebildet. Andererseits, gerade weil Nichtdeutsche im öffentlichen Räum häufiger als in den Vorjahren präsent sind, kam es zu einer Häufung rassistischer Angriffe im Jahr 2002. In diesem Jahr haben wir zwölf Angriffe auf Migranten und Asylbewerber in Potsdam registriert. Dennoch ist Potsdam weiterhin ein Ziel für Umverteilungen von Asylbewerbern aus den ländlichen Regionen. In Rathenow hingegen haben sich in diesem Jahr nur noch drei rassistische Gewalttaten ereignet, und dennoch ist dort der Wunsch nach Umverteilung nach wie vor weit verbreitet.
Die Problematik von Umverteilungen kann als Indikator für das Zusammenwirken rassistischer Gewalt, Alltagrassismus und institutionellem Rassismus gelesen werden. Daran kann auch verdeutlicht werden, dass eine isolierte Betrachtung der rassistischen Gewalt an der Lebensrealität von Asylbewerbern vorbeigeht. Erst die Gesamtheit der Ausgrenzungserfahrungen konstituiert die Opfererfahrung.
Verändertes Klima?
Bisher wurde versucht, Opfererfahrungen von Migranten und Asylbewerbern in Brandenburg darzustellen, so als ob sich die gesellschaftliche Situation in den letzten vier Jahren nicht gewandelt hätte. Zu fragen ist nun, welchen Einfluss die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Projekte und staatlichen Maßnahmen gegen Rechtsextremismus auf die Opfererfahrung hatte. Dass sich diese Frage an dieser Stelle nur anreißen lässt, dürfte sich von selbst verstehen. Ich möchte dennoch ein paar Hinweise geben. Zunächst: die Gesamtzahl der Gewaltdelikte mit rassistischer oder rechtsextremer Motivation ist nicht zurückgegangen, die Entwicklung ist jedoch regional uneinheitlich. Das Beispiel Rathenow mag dafür stehen, wie die rassistische Gewalt rechtsextremer Jugendcliquen zeitweise zurückgedrängt werden konnte. Das dürfte an einer Kombination einer verschärften staatlichen Repression mit einem gestärkten Selbstbewusstsein der Asylbewerber liegen, die nicht mehr als leichte Opfer wahrgenommen werden. Fraglich ist jedoch, wie nachhaltig die Eindämmung der rassistischen Gewalt ist, denn eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft gelang in Rathenow bisher nur in kleinen Ansätzen. Das Gegenbeispiel ist Potsdam, wo eine vielfältige Landschaft zivilgesellschaftlicher Initiativen entstanden ist, sich die Zahl der Angriffe jedoch noch gesteigert hat.
Jenseits der Frage nach der Entwicklung der rassistischen Gewalt hat sich die Situation in einigen Bereichen deutlich verbessert. Das betrifft die Resonanz für nichtdeutsche Opfer bei Polizei und Justiz, das Angebot von Opferhilfsorganisationen, das Verhalten von Kommunalpolitikern und kommunalen Bündnissen und die Medienberichterstattung. Ausnahmen und Rückfälle in längst überwunden geglaubte Zustände sind jedoch noch immer anzutreffen, diese können aber aufgrund der Hilfsangebote und der im allgemeinen größeren Sensibilität für Opfer leichter korrigiert werden.
Nicht geändert hat sich die Fortexistenz rassistischer Einstellungen und Verhaltensweisen in einem relevanten Bevölkerungsteil Brandenburgs, trotz des Gegengewichts zivilgesellschaftlicher Initiativen und lokaler Bündnisse. Nicht geändert haben sich auch die marginalisierenden Wirkungen des institutionellen Rassismus. Ohne eine Thematisierung dieser Zusammenhänge werden wir uns noch lange mit rassistischer Gewalt auseinandersetzen müssen.
Mit anderen Worten: rassistische Gewalt kann nur als ein Teil des gesellschaftlichen Rassismus betrachtet werden. Ohne die Thematisierung des umfassenderen Zusammenhangs rassistischer Ausgrenzungsprozesse lässt sich auch rassistische Gewalt nicht nachhaltig zurückdrängen. Dabei ist anzunehmen, dass es nicht nur in der subjektiven Wahrnehmung der Opfer einen Zusammenhang zwischen rassistischer Gewalt, Alltagsrassismus und institutioneller Rassismus gibt, sondern dass auch innere Wirkungszusammenhänge bestehen. Die rassistische Gewalt jugendlicher Subkulturen ist ohne den Alltagsrassismus eines relevanten Bevölkerungsteils, als dessen Vollstrecker sie sich fühlen, nicht denkbar. Andererseits kann angenommen werden, dass die soziale Separation und Marginalität der Asylbewerber das Material sind, durch das sich rassistische Diskurse selbst bestätigen (vgl. Wendel 2001c). Positiv ausgedrückt: der Alltagsrassismus kann sich erst dann in normale, von gegenseitiger Anerkennung gekennzeichnete Beziehungen zwischen Migranten und Einheimischen wandeln, wenn die Basis gleichberechtigter und befriedigender sozialer Teilhabechancen existiert. Die Realität in den neuen Bundesländern ist davon auf beiden Seiten, auf der Seite der einheimischen Bevölkerung wie auf der Seite der Migranten, noch entfernt.
Literatur
Brauns, Michael/Wendel, Kay, 2001: Nichts ist, wie es vorher war. Interview mit Khaled Bensaha, 2. August 2000. In: Prozessbeobachtungsgruppe Guben, Hg., 2001: Nur ein Toter mehr … Alltäglicher Rassismus in Deutschland und die Hetzjagd von Guben. Münster, 105–113
Buderus, Andreas, 1998: Fünf Jahre Glatzenpflege auf Staatskosten. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik. Sozialpädagogische Jugendprojekte gegen Rassismus und Gewalt seit Hoyerswerda. Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. Bonn
Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Hg., 2002: Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2001. Düsseldorf. Im Internet (Stand: 2003-02-25)
Kleffner, Heike/Wendel, Kay, 2000a: Der Mediendiskurs über Rechtsextremismus in den 90er Jahren. Unveröffentlichtes Manuskript.
Luzar, Claudia, 2002: Fallstudie Hennigsdorf. Eine Analyse rechtsextremer Gewalt aus der Opferperspektive. Unveröffentlichte Diplomarbeit am Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin
MacPherson, William, 1999: The Stephen Lawrence Inquiry. Im Internet (Stand: 2003-02-26)
Opferperspektive, 1999: Die Opfer in den Blickpunkt rücken. In: Mecklenburg, Jens, Hg., 1999: Was tun gegen Rechts? Berlin. Im Internet (Stand: 2003-02-26)
Osterkamp, Ute, 1997: Institutioneller Rassismus. Problematik und Perspektiven. In: Paul Mecheril/Thomas Teo, Hg., 1997: Psychologie und Rassismus. Reinbek
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Pilz, Desire, 2001: “Niggerschlampe!” In: Engelmann, Rainer, 2001: Texte gegen Rechtsextremismus. Würzburg. Im Internet (Stand: 2003-02-26)
Strobl, Rainer, 1998: Soziale Folgen der Opfererfahrungen ethnischer Minderheiten. Baden-Baden
Wendel, Kay, 2001a: Das Prinzip Opferperspektive. In: Pfeffer und Salz e.V., Hg., 2001: Recherchebroschüre Rechtsextremismus. Auf den Spuren der Zivilgesellschaft. Angermünde. Im Internet (Stand: 2003-02-26)
Wendel, Kay, 2001b: Tolerantenburg exposed. In: Prozessbeobachtungsgruppe Guben, Hg., 2001: Nur ein Toter mehr … Alltäglicher Rassismus in Deutschland und die Hetzjagd von Guben. Münster, 19–34
Wendel, Kay, 2001c: Rechte Gewalt und institutioneller Rassismus. In: Prozessbeobachtungsgruppe Guben, Hg., 2001: Nur ein Toter mehr … Alltäglicher Rassismus in Deutschland und die Hetzjagd von Guben. Münster, 115–122
Anmerkungen
[1] Eine Ausnahme und Pionierarbeit ist die Untersuchung von Rainer Strobl (Strobl 1998) üb
er soziale Folgen der Opfererfahrung bei Migranten türkischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. Unsere Beobachtungen an einer anderen Opfergruppe, vor allem an AsylbewerberInnen in Brandenburg, decken sich weitgehend mit den von Strobl beschriebenen Zusammenhängen. [zurück]
[2] Für eine Darstellung des Konzepts der “Opferperspektive” siehe: Opferperspektive (1999) und Wendel (2001a). Dieses wie auch ähnliche Projekte in den anderen neuen Bundesländern werden seit Mitte 2001 über das Bundesprogramm Civitas gefördert. [zurück]
[3] Zur Kritik des “Handlungskonzepts ‚Tolerantes Brandenburg” siehe Wendel (2001b) [zurück]
[4] vgl. Kleffner/Wendel (2000a) [zurück]
[5] Im Internet; diese Zahlen (Stand: 31.12.2002) weichen von der vom Landeskriminalamt geführten Statistik ab, was sich vor allem mit anderen Erfassungskriterien und Angriffen, die nicht angezeigt wurden, erklärt. Noch höhere Zahlen ergeben sich, wenn zusätzlich zu den bei einem Angriff verletzten Personen auch die nicht verletzten berücksichtigt werden. Die sich so ergebende Zahl der von einem Angriff Betroffenen liegt bei 156 Personen. [zurück]
[6] Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, 183–188 [zurück]
[7] Da aus der Statistik der Gewalttaten in Brandenburg für das Jahr 2001 nicht mehr hervorgeht, wie viele Gewalttaten gegen Fremde gerichtet waren, greife ich auf Zahlen aus dem Jahr 2000 zurück: 112 fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen, 65 in Brandenburg. Die Zahlen zur Größe der ausländischen Bevölkerung beziehen sich auf Angaben des Statistischen Bundesamts für den 31.12.1999 (Im Internet, Stand: 2003-02-26). [zurück]
[8] Vgl. exemplarisch die Stellungnahme der Opferperspektive zur Residenzpflicht für den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags. Im Internet (Stand: 2003-02-26) [zurück]
[9] Das Machtverhältnis der Institutionen über ihre Klientel produziert auf beiden Seiten partikulare Erkenntnisformen. Von Seiten vieler Asylbewerber werden negative Entscheidungen einzelner Sachbearbeiter deren Willkür und feindlicher, rassistischer Einstellung zugeschrieben; die Sachbearbeiter sehen sich ihrerseits meist nur als ausführende Organe der Gesetze und Verordnungen. Der Begriff institutioneller Rassismus versucht beide Seiten, personalisierende Zuschreibungen und Identifikation mit legitimierten Kontrollmechanismen, als Effekte derselben Praxisform zu beschreiben. (vgl. Wendel 2001c) [zurück]