JVA setzt Polizei über Gefährlichkeit eines Häftlings nicht ins Bild
(MAZ, Benno Rougk, Volkmar Krause) BRANDENBURG/H. Haarscharf sind Justiz- und Polizei an einem neuerlichen
Skandal um die Justizvollzugsanstalt (JVA) Brandenburg/Havel
vorbeigeschrammt. Wie erst jetzt bekannt wurde, hatte sich der Diensthabende
der JVA am vergangenen Sonntag gegen 15 Uhr an die Polizei der Stadt
Brandenburg mit der Bitte gewandt, sie möge den Transport eines Gefangenen
namens Kourganow ins städtische Klinikum unterstützen, da dieser einen
Selbstmordversuch unternommen habe.
Ohne Nachfrage kommandierte Dienstgruppenleiter Axel Müller einen
Streifenwagen mit drei Revierpolizisten zur Haftanstalt. Von dort wurde der
Gefängnistransporter zum Klinikum begleitet. Für Aufregung sorgte gegen 16
Uhr ein Fax der JVA an die Polizei mit der Bitte um Amtshilfe, in dem den
verdutzten Beamten mitgeteilt wurde, dass es sich bei dem Gefangenen
Kourganow um den Hintze-Entführer Wjatscheslaw Orlow handelt. Außerdem wurde
in dem Fax ausdrücklich darauf verwiesen, dass man in der JVA “den Verdacht
eines vorgetäuschten Suizids zum Zwecke der Entweichung” habe.
Erst eine Woche zuvor war Orlows Name durch die Medien gegangen, nachdem die
MAZ berichtet hatte, dass der Gefangene mit einer in der JVA gefundenen
scharfen Waffe in Zusammenhang gebracht werde. Anstaltsintern glaubt man,
dass Orlow mit Hilfe dieses so genannten Schießkugelschreibers einen
Ausbruch oder eine Geiselnahme erzwingen wollte. Mit seinem Kumpan Sergej
Serow hatte Gewaltverbrecher Orlow vor sieben Jahren den Gastwirtssohn
Matthias Hintze aus Geltow (Potsdam-Mittelmark) entführt, der im September
1997 in einem Erdloch qualvoll erstickte.
Mit dem Schrecken dieser Erkenntnis in den Knochen informierte die
Brandenburger Polizei-Leitstelle ihre ahnungslosen Beamten, die allerdings
Entwarnung geben konnten. Der ihnen unbekannte Gefangene sei eben wieder
zurück in die JVA gebracht worden, berichteten sie. Der Suizidversuch habe
sich nur als stark blutende Wunde erwiesen, die sich Orlow mit einem
Einmalrasierer am Bein selbst beigebracht hatte. Der gefesselte Gefangene
sei im städtischen Klinikum behandelt worden und wohlauf.
Doch damit der Pannen in der Polizei noch nicht genug: Zwar wurde der
meldepflichtige Vorfall dem Potsdamer Polizeipräsidium gemeldet. Doch eine
Meldung an den Brandenburger Dienststellenleiter Burkhard Neumann unterblieb
und auch die Staatsanwaltschaft erfuhr nichts. Unter den Polizisten der
Stadt spricht man von “einer völligen Fehleinschätzung der Lage und groben
handwerklichen Fehlern durch den Dienstgruppenleiter”, der bereits von
seinem Posten enthoben worden ist. Denn abhängig von der “akuten Situation”
hätte Orlow nur mit “weitaus mehr Personal oder mit Kräften des
Sondereinsatzkommandos (SEK) transportiert werden dürfen”, so ein Beamter.
In Polizeikreisen geht man davon aus, dass der zu 15 Jahren Haft verurteilte
Orlow den Kurztrip ins Klinikum für das “Auskundschaften eines Fluchtweges
genutzt hat”.
Allein schuldig fühlt sich die Brandenburger Polizei jedoch nicht und hat in
einem Bericht an das Justizministerium harsche Kritik an der Form des
Amtshilfeverfahrens geübt, da die Gefährlichkeit des Gefangenen nicht
deutlich gemacht worden sei. Die in der JVA gewonnene Erkenntnis, dass Orlow
möglicherweise einen Suizidversuch unternommen habe, um die medizinische
Versorgung zur Flucht zu nutzen, hätte der Polizei unbedingt mitgeteilt
werden müssen.
Neben der unzureichenden Abstimmung zwischen JVA und Polizei wurde
wiederholt auch Kritik an der ärztlichen Betreuung der 750 Gefangenen laut.
Wie die MAZ berichtete, ist auf der hochmodernen Krankenstation im Gefängnis
nur noch eine Internistin beschäftigt. Die vier anderen Planstellen sind
nicht besetzt. Das führt dazu, dass täglich Gefangene von der JVA ins
Klinikum gebracht werden müssen.
Andreas Dielitz, Vizesprecher des Justizministeriums, bestätigte gestern auf
MAZ-Anfrage den Gefangenentransport am vergangenen Sonntag in
Brandenburg/Havel. Versäumnisse seien dabei nicht festzustellen gewesen. Bei
dem Telefonat der JVA mit der Polizeidienststelle sei darauf hingewiesen
worden, dass es sich bei dem Gefangenen um “Kourganow alias Orlow” handele,
so Dielitz. Ob es zusätzliche Hinweise auf die Gefährlichkeit des Häftlings
gegeben habe, ließ der Sprecher offen. Da die Justizvollzugsanstalt solche
Transporte ins städtische Klinikum in der Regel allein durchführe, sei das
Amtshilfeersuchen an die Polizei die Ausnahme, die den angeforderten
Polizisten die besondere Situation verdeutliche.