POTSDAM Lampenfieber vor dem Tag der Deutschen Einheit? Lukas ist sechs Jahre alt und mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester zur Chorprobe nach St. Nikolai gekommen, in die große Potsdamer Stadtkirche, die ein wenig aussieht wie der römische Petersdom. Die zwölf Jungen vom Knabenchor treten immer bei einem Gottesdienst im Monat auf. Am 3. Oktober ist es wieder soweit. Aber da werden ganz andere Leute in den Bänken sitzen als sonst. Einen kennt Lukas, weil seine Mutter ihm ein Bild in der Zeitung gezeigt hat: “Der Präsident.” Neben Horst Köhler werden Gerhard Schröder, Angela Merkel, Wolfgang Thierse und alle anderen Spitzenpolitiker da sein. Und natürlich Matthias Platzeck als Gastgeber, denn es richtet immer jenes Land den Einheitstag aus, das gerade den Vorsitz im Bundesrat hat. Außerdem werden sich Bundestagsabgeordnete, Botschafter aus über hundert Ländern und Bürgerdelegationen aus ganz Deutschland die Ehre geben. Insgesamt 900 geladene Gäste, die dem ökumenischen Festgottesdienst am 15. Jahrestag der Einheit beiwohnen werden. Nicht zu vergessen die Fernsehzuschauer in ganz Deutschland bei der Live-Übertragung. Und Lukas und seine kleinen Kollegen werden vorne stehen und zwischen den Ansprachen die so oft geprobten Lieder anstimmen. Aber deswegen aufgeregt sein? “Nee”, sagt Lukas, grinst fröhlich und verschwindet im Kircheninneren, wo Reinigungstrupps den alten Säulen neuen Glanz verleihen. Während auf dem Alten Markt mit Feuereifer an den letzten Metern der schicken Granitpflasterung und dem neuen Rollrasen gearbeitet wird.
Nicht mehr lang ist es bis zum Tag der Deutschen Einheit oder besser gesagt: den Tagen der Deutschen Einheit. Denn Brandenburg gönnt sich in seiner Landeshauptstadt mit einem riesigen Bürgerfest gleich zweieinhalb Einheitstage: Zum Auftakt am 1. Oktober gibt es ein Festkonzert in St. Nikolai mit einem Auftritt des Dresdner Kreuzchors und einer Rede des luxemburgischen Premiers Jean-Claude Juncker. An den nächsten beiden Tagen ist dann Party: Musik, Kultur, Kinderevent und Sport in acht Festbereichen nebst 13 Bühnen — alles in der wunderschönen Kulisse der historischen Innenstadt, alles bei freiem Eintritt. Von einem Mini-Fläming-Skate über die Brandenburg-Meile und das Kinder-Fest-Land bis zu den Diskussionen und Lesungen. Ein besonderes Highlight: Der Stadtkanal wird eigens für das Fest geflutet und zur weltweit ersten Kanu-Regattastrecke umfunktioniert, die mitten im Herzen einer Stadt liegt. Wobei alles hier Aufgezählte nur ein Promille-Ausschnitt des detaillierten Festprogramms ist, das 80 Seiten umfasst.
500 000 Gäste werden zur Riesenfete erwartet — nach vorsichtigen Schätzungen. Denn allein am Brandenburg-Tag 2003 schoben sich schon 300 000 Menschen durch die historische Innenstadt, und nun ist laut Veranstaltungsmotto sogar “Deutschland zu Gast in Brandenburg”, mit entsprechendem Besucheraufkommen. Offiziell werden sich die Bundesländer auf einer Ländermeile präsentieren, wo man sich zum Beispiel — “oans, zwoa, drei, gsuffa” — durch bayerische Biersorten testen kann. Oder dem Rätsel nachgeht, was sich hinter dem “Zipfel-Gipfel” verbirgt: Einfach nur die Präsentation jener Orte, die geografisch am äußersten Rand, also den Zipfeln, der Republik liegen, wie List auf Sylt. Wesentlich exotischer sind da wahrscheinlich die Fest-Gäste aus der Lindenstraße: Mutter Beimer wird mit einer Schauspielerdelegation in einem Zelt am Alten Markt Selbstgekochtes servieren. Eigentlich hatten die TV-Macher im Vorfeld der Potsdamer Einheitsfeiern auch Matthias Platzeck einen Mini-Gastauftritt in ihrer Serie zugedacht, als Reklame für die Riesenparty. Aber der Ministerpräsident hatte keine Lust auf Lindenstraßen-Ruhm.
Ohnehin braucht das Fest nicht wirklich die PR-Schützenhilfe des Fernsehens. Denn die Bürger basteln bei ihrem Einheitsfest auch freudig selbst mit, mit vielfältigen Initiativen: “Mensch, das wäre doch eine tolle Sache für uns”, war die spontane Reaktion von Andreas Hoeppner, dem Leiter des Olympiastützpunkts Potsdam, als er vom Bürgerfest hörte. Allerdings wollte Hoeppner dort nicht nur die eigene Einrichtung präsentieren: “Wir haben alle anderen Olympiastützpunkte in Deutschland angeschrieben, um 15 Jahre gemeinsamen deutschen Spitzensport auf dem Fest zeigen zu können.” Viele der Spitzenathleten aus den anderen Bundesländern haben mittlerweile schon für das Fest zugesagt.
Aber auch viele andere haben spontan eine Einladungskarte verschickt: Andrea Böhlke zum Beispiel, die in Potsdam eine Musikalienhandlung besitzt und eine Kollegin von einem Musikverlag in Kassel kontaktiert hat. Gemeinsam wollen sie einen eigenen Stand am barocken Neuen Markt betreuen. Ein bisschen aufgeregt ist Andrea Böhlke schon, allein wegen der Menschenmassen. “Aber ich wollte meiner Bekannten einfach mal zeigen, wie schön Potsdam geworden ist und wie wenig die Herkunft aus Ost oder West hier noch eine Rolle spielt.” Und was für eine bessere Kulisse könnte man sich dafür vorstellen als die grandiosen Einheitsfeiern?
Am 30. September erscheint die MAZ-Beilage “Bürgerfest: Zum Tag der deutschen Einheit” mit dem kompletten Festprogramm. Informationen gibt es auch im Internet unter www.maerkischeallgemeine.de/einheit