Mit Entsetzen haben wir vom Mord an dem 16- jährigen Marinus Schöberl hier in Potzlow erfahren. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen und Freunden! Gemeinsam mit vielen jungen Leuten aus der Uckermark sind wir heute auch deshalb hier, weil wir aus eigenen schmerzvollen Erfahrungen wissen: Es hätte auch uns treffen können!
Wir, das sind junge Menschen aus der Uckermark, die sich in antifaschistischen Zusammenhängen engagieren und diese Demonstration mit organisiert haben.
Als wir uns vor zwei Wochen zu diesem Schritt entschlossen haben, hatten nicht wenige von uns die Befürchtung, dass unsere Idee von den kommunalen politischen Eliten wieder einmal verdreht, ignoriert und kriminalisiert wird. Leider haben sich solche Befürchtungen bewahrheitet. Was in den letzten Tagen zum Teil über Gerüchte, lokale Medien und Presseerklärungen an Sichtweisen transportiert worden ist, wirft aus unserer Sicht ein bezeichnendes Licht auf das gesellschaftliche Klima in der Region.
?Falscher Zeitpunkt, falscher Ort?, so die oft gehörte Meinung zu diesen Demonstrationen. Wir fragen uns allen Ernstes, was soll denn noch passieren, dass deutliches Auftreten gegen Nazis, dass Wut und Trauer öffentlich gemacht werden dürfen- oder ?richtig sind?? Wann und wo darf man denn sagen, was man von dem gesellschaftlichen Klima hier hält?
Wir können uns nur schwer daran erinnern, ob es in der Uckermark irgendwann einmal den richtigen Ort, die richtige Zeit gegeben hat:
Die ständigen Sauforgien und Gewalttaten der Nazis bei Stadt- und Dorffesten waren jedenfalls noch nie Gegenstand irgendwelcher Proteste oder Debatten. Dabei ist es ein glücklicher Zufall, dass es in Grünow, Kerkow, Pinnow, Brüssow, Schwedt, Angermünde, Warnitz oder Dedelow bisher ?nur? bei Schwerverletzten geblieben ist. Für Ausländer, Obdachlose oder nicht- rechte Jugendliche sind solche Volksfeste ?No go areas?- und keinen interessiert es.
Wir haben für die ganze Region südlich von Prenzlau (Potzlow) für die letzten Jahre Dutzende rechtsextremer Gewalttaten und anderer Aktivitäten registriert. Antisemitische Plakate in Gerswalde, Übergriffe auf polnische Bürger und Polizisten in Warnitz, Gewalttaten gegen die Junge Gemeinde in Lindenhagen. In unserer Chronik der nachweisbaren rechtsextremen Aktivitäten in den letzten zwei Jahren stehen 145 Ereignisse. Wir brauchen nichts zu erfinden, um die Feststellung zu untermauern, das die Uckermark ein Schwerpunkt rechtsextremer Gewalt und Aktivität ist!- Leider war diese Tatsache nie Begründung genug, nie der richtige Ort und die richtige Zeit, etwas zu tun.
Jugendpolitik in der Uckermark heißt sehr verkürzt- kein Geld, keine Politik, keine antirassistische Bildung, keine Förderung für emanzipatorische Projekte, Akzeptanz und Toleranz gegenüber Nazis. Seit Jahren ist dies bekannt und werden die Gelder noch mehr gekürzt. Seit Jahren gleichen sich die naiven und gefährlichen Versuche, ?die Jungs von der Strasse zu holen und mit ihnen zu reden? zu wollen. Sie sind gescheitert, nicht nur in Potzlow und in Strehlow — nur, der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort, dies zu ändern, den gab es irgendwie noch nie.
Es ist versucht worden das gesellschaftliche Klima, dass immer neue Tätergenerationen gebiert, zu beschreiben. Die Analysen aus der Uckermark sind zu überregionaler Berühmtheit gelangt. Wir erhalten Einladungen aus der ganzen Bundesrepublik zu Diskussionen und Veranstaltungen über Rechtsextremismus und Rassismus. Nur hier, in der Uckermark, da gab es kaum Reaktionen, da verweigert man sich der Diskussion über staatlichen Rassismus, über das Mehrheitsklima von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, über Rechtsextremismus aus der Mitte der Gesellschaft. Wohl, weil der richtige Ort und die richtige Zeit bisher fehlte.
Statt dessen fabuliert der Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses und Schuldirektor Herr Bretsch aus Angermünde darüber, das ?Politik, außer im Fach Politische Bildung, nicht in die Schule gehört?. Wohlgemerkt, nachdem Nazis die Schule zum wiederholten Male mit Hakenkreuzen beschmiert hatten! Erziehung und Jugendarbeit haben wertfrei zu sein, so die vorherrschende Meinung der politischen Eliten. Dafür, sich selbstbestimmt politisch zu engagieren und zu äußern ist nach ihrer Meinung immer der falsche Ort und die falsche Zeit!
Dementsprechend sind Demonstrationen in der Uckermark kein politisches Grundrecht, sondern extremistische Provokation. Für so etwas ist die Uckermark nun wirklich nicht der richtige Ort!
Wir haben in den letzten Wochen sehr aufmerksam die Reaktionen auf diesen schrecklichen Mord verfolgt. Viele öffentliche Äußerungen haben uns nur bestärkt hierher zu kommen und zu demonstrieren: Die Ignoranz der rechtsextremen Ursachen im Ort, die Behandlung des Mordes als schrecklichen Einzelfall, die Ausblendung der antisemitischen Überzeugungen der Täter oder die Verteidigung der Jugendpolitik in der Uckermark.
Für uns gab und gibt es auch deshalb nur eine Antwort auf die Frage, wann die richtige Zeit, wo der richtige Ort für entschiedenes Auftreten gegen Nazis, für das öffentlich machen gesellschaftlicher Ursachen und für die Einforderung unserer Rechte ist:
Hier und heute!!!
?Wo, wenn nicht hier,
wann, wenn nicht jetzt,
wer, wenn nicht wir!?
(Rio Reiser)
Potzlow ist überall! Dem rechten Konsens entgegentreten- heute und jeden Tag!!!