Auf grausamste Weise starb Marinus aus dem brandenburgischen Potzlow:
„Sag, dass du Jude bist!“
In Neuruppin sind drei junge Männer angeklagt, die einen 16-Jährigen umbrachten und in einer Jauchegrube verscharrten – und niemand will davon gewusst haben.
Worte versagen. Die Feder sträubt sich. Als die Staatsanwältin die Anklage verliest – man sieht wie betäubt das Ungeheuerliche vor sich.
„Viehisch“ nannte der Leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher, vor der Presse das, was drei junge Menschen einem der ihren zugefügt haben. Viehisch – ein Wort, das hohe Juristen normalerweise nicht gebrauchen. Doch hier reicht es nicht. Kein Vieh täte einem anderen so etwas an.
Die Tat ist das eine. Vier Stunden lang haben Marcel und Sebastian, heute 18, und Marcels älterer Bruder Marco, 24, in den frühen Morgenstunden des 13.Juli 2002 in Potzlow, einem Dorf in der Uckermark, einen Jungen gequält, zusammengeschlagen, getreten, immer wieder, haben ihm gewaltsam Alkohol eingeflößt, bis er erbrach, immer wieder, haben auf ihn uriniert, als er schon wehrlos am Boden lag, haben ihn angebrüllt: „Juden saufen doch Pisse!“, haben ihn, den Halbtoten, in einen Schweinestall geschleppt, dann in eine Jauchegrube gestoßen, um zu sehen, ob er untergeht, und wieder herausgezerrt, und weiter getreten und geprügelt, bis Marcel dem Geschundenen den „Bordsteinkick“ gab: Marinus Schöberl, fast ein Kind noch mit seinen 16 Jahren, musste in die Betonkante eines Futtertrogs beißen, worauf Marcel, in schweren genagelten Springerstiefeln, ihm mit beiden Füßen voller Wucht auf den Hinterkopf traf.
Marinus sackte röchelnd weg. Sein Gesicht war jetzt so entstellt, dass Marco, der ältere Bruder, gesagt haben soll, den brauche man nun nicht mehr einem Arzt vorzustellen, der werde nicht mehr, der müsse weg. Oder: Den müssen wir jetzt umbringen. Die Brüder suchten daraufhin einen Gegenstand zum Töten. Marcel soll einen Gasbetonstein gefunden und den zweimal auf Marinus Kopf geworfen haben. Dann schleppten sie das offensichtlich tote Bündel Mensch wiederum zur Jauchegrube. Wie einen Hund verscharrten sie es.
Die Tat ist das eine. Das andere ist, was alles sonst noch geschah.
Nachdem sie Marinus beseitigt und die Blutspuren im Schweinestall mit Kies verdeckt hatten, gingen Marco, Marcel und Sebastian nach Hause, um sich schlafen zu legen. Ihr Opfer, jüngstes von acht Kindern (sieben ältere Schwestern), war seitdem „verschwunden“. Seine Eltern beunruhigte dies nicht, da Marinus oft tagelang wegblieb. Erst nach zwölf Tagen meldeten sie ihn als vermisst. Im Dorf wusste angeblich niemand etwas.
Was ist los mit diesen Menschen? Marco, Marcel und Sebastian waren in jener Nacht in Strehlow mit Marinus gewaltsam in das Haus dreier Dorfbewohner eingedrungen. Sie wollten weitersaufen, nachdem sie Nachschub organisiert hatten. Als sie angetrunken im Schlafzimmer der Leute standen, ließen sie sich nicht lange bitten. Man nahm auf der Veranda Platz.
Diese Erwachsenen bekamen mit, wie es eskalierte. Marinus sollte sagen, dass er ein Jude ist. Erste Schläge ins Gesicht. Marinus erbrach sich auf den Tisch.
Die Erwachsenen müssen mitbekommen haben, wieder der Junge hinausgeschleift wurde, sich wieder erbrach, wie er dann erneut zum trinken gezwungen und mit Fäusten traktiert wurde. Sie müssen gehört haben, wie er hinklatschte und vor Schmerzen schrie, wie er nicht mehr auf die Beine kam. Sie müssen das Blut gesehen haben, das ihm übers Gesicht lief. Und immer wieder: „Sag, dass du eine Jude bist!“ Ein Judas, ein Jude, ein Asi.
Gegen eine Frau, eine ausgemergelte 42-Jährige, der der Alkohol schon heftig zugesetzt hatte und die das alles mitansah, wird wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Sie soll Marinus bedrängt haben: „Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören die auf.“ Jetzt erklärt sie als Zeugin vor der 2. Großen Strafkammer des Neuruppiner Landgerichts: „Ick sag gar nischt, ansonsten allet über meine Anwälte.“
Die Vorsitzende Richterin Ria Becher fragt trotzdem. „Was haben sie denn eigentlich getrunken?“ „na Bier, ein oder zwei. Det kann einem ja keener verbieten. Alkohol is zwar nich jut, aber manchmal – und an eem Kasten is ja ooch nich ville dran! Die Mutti vom Nachbarn trinkt janz schön. Aber ich nich, hundertprozentig!“
Ihr Lebensgefährte, der im bett geblieben war, erinnert sich, dass Marinus auf der Couch lag, als die anderen loszogen. Er weiß auch noch, dass Marinus kaum laufen konnte und nicht mitwollte, als das Trio zurückkam. „Stank seine Kleidung?“ „Ja, nach Urin.“ Ob die drei betrunken waren? „Nee, janz normal, nach so ner Nacht.“
Seitdem war Marinus „verschwunden“. Und keine hatte eine Ahnung?
Dass bei den ehemaligen Schweineställen der früheren LPG in Potzlow eine Leiche liegen soll, erfuhr die Polizei erst vier Monate nach der Tat, am 17.November. Bis dahin hatte Marcel mindestens acht Personen gegenüber gesagt, er habe einen umgebracht, „einen alten Asi“, „einen Penner“, „einen Juden“, das „Scheißjudenschwein“, den Marinus.
Ein 18-jähriger Zeuge: „Ick wollte nischt davon wissen. Dachte, der spinnt rum.“ „Wie hat Marcel das erzählt?“, fragt die Vorsitzende. „Lustig, locker, janz normal“, sagt der Zeuge. Ob ihm schon mal „verbale Aggressionen“ bei einem der Angeklagten aufgefallen sind, fragt die Staatsanwältin. Verbale Aggressionen. Der Zeuge ist Sonderschüler. Sebastian sei immer „jut druff“ gewesen, mehr kann er nicht sagen.
Ein anderer, der mit Marcel ein Zimmer im Heim für Auszubildende in Buckow bewohnte, berichtet: „Er kam rin und sagte, ey, ick muss dir wat sagen – dass er mit Sebastian und Marco den een, den Marinus, umgelegt hat.“ Marcel sei „locker“ wie immer gewesen. „Hat er ein Motiv genannt?“, fragt die Vorsitzende. „Weil der ihnen in die Quere kam.“
Der Nächste erinnert sich besser: „Weil der die falschen Klamotten anhatte und die falsche Haarfarbe.“ Marcel habe „rumgeprahlt“. Dieser Zeuge sagt aber auch, Marcel sein immer „so eine Art Klassenclown“ gewesen, habe sich „aufgeführt wie ein Achtjähriger“.
Am 15.November kam im Jugendclub von Strehlow wieder einmal die Rede auf Marinus. Ein Mädchen: „Marcel sagte, er weiß, wo der is. Ick hab det nich jegloobt und hab dann fünf Euro dagegen gewettet. Der Marcel hatte eine Axt und eine Taschenlampe geholt und is los, da hat jesagt, hier isses nich, is zweemal durch den Morast, und dann war da der Schädel. Und er hat jesagt „Scheißschädel“ und hat mit der Axt zugehauen. Dann sind wir zurückgegangen. Marcel hat die Axt sauber gemacht und erzählt, dass sie den Bordsteinkick gemacht haben. Dann sind wir heimgegangen.“
Ach ja: „Er hat noch gesagt, wenn ihr was erzählt, dann seid auch ihr dran. Da hab ich ihm die Axt weggenommen. Weil ich dachte, dass er irgendeine Scheiße damit macht.“ Ein Mädchen, immerhin.
Warum haben sich die Jugendlichen keinem Erwachsenen anvertraut? Wer kümmert sich eigentlich um diese Kinder, wer gibt ihnen Halt, wer vermittelt ihnen die Werte, ohne die eine zivilisierte Gesellschaft nicht auskommt? Wer bringt ihnen bei, dass es „unwertes Leben“ nicht gibt, ebenso wenig wie „Untermenschen“? Wer lebt ihn
en vor, dass auch der ein vollwertiger Mensch ist, der eine HipHop-Hose trägt und gefärbte Haare wie Marinus oder eine andere Hautfarbe hat oder eine andere Meinung? Niemand offenbar. Arbeitslosigkeit und Alkohol reichen nicht zur Entschuldigung.
Die Antworten der jungen Zeugen auf Fragen des Gerichts oder des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Alexander Böhle, wenn es um den Eindruck vom Verhalten der Angeklagten geht – sie belegen, dass diese Jugendlichen entweder nie gelernt haben Mitmenschen wahrzunehmen, oder das ihnen die Worte und Gefühle fehlen: „Immer locker, gut druff, ganz normal.“ Alles ist normal, lustig und locker, selbst das Abscheuliche, das Grausame und Unerträgliche. Sind diese Kinder, für die niemand Verantwortung zu tragen scheint, Produkte einer total entzivilisierten, verwahrlosten Gesellschaft? Eine verlorene Generation? Sebastian ist schon Vater.
Der Staatsanwalt, der bei der richterlichen Vernehmung zugegen war: „Keine Gefühlsregung, keine Tränen. Das schockierte mich, weil ich bis dahin dachte, dass bei so jungen Menschen wenigstens hinterher Emotionen hochkommen.“ Der Ermittlungsrichter: „Wie ein Kindergartenkind, das sich freut, etwas mitteilen zu können, hat Marcel erzählt.“
Matthias und Volkmar Schöneburg, Brüder, die das Brüderpaar Marco und Marcel behutsam und werbend verteidigen, fragen: „Marco kam sicher nicht jenem Tag erst zu seiner rechten Einstellung. Und Marinus lief auch früher schon als Hip-Hopper herum – ohne das etwas passierte. Sie kannten sich. Marcel und Marinus waren oft zusammen, es gab keinen Streit, keinen Anlass zu Hass oder Erniedrigung. Erst an jenem Abend.“ Warum?
Auch das Gericht hat diese Frage zu klären. Das Verhältnis der beiden Brüder zueinander wird dabei eine Rolle spielen. Stimmt es, dass Marcel den Älteren bewunderte und zugleich fürchtete? Dass er, der sich wie Marinus gerne als Hip-Hopper kleidete, sich von einem Tag auf den anderen zum Rechtsradikalen verwandelte, wenn der Bruder mal wieder aus dem Knast kam? Stimmt es, dass Marcel „ausrastete“ beim Bordsteinkick? Welche Rolle fiel Sebastian zu, der als „megarechts“ galt und jetzt nur zugibt „letztendlich nicht“ getan zu haben?