Der Richterspruch im Neuruppiner Landgericht überzeugte weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung. Am 24. Oktober wurden nach einer weiteren Woche Verzögerung die Urteile im Mordfall von Potzlow bekanntgegeben (siehe jW vom 25./26.10.). Der 18jährige Haupttäter Marcel Sch. wurde wegen Nötigung in Tateinheit mit mehrfacher schwerer Körperverletzung sowie Mordes an dem 16jährigen Marinus Schöberl nach dem Jugendstrafrecht zu acht Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, sein 24jähriger Bruder Marko wegen Nötigung in Tateinheit mit mehrfacher schwerer Körperverletzung und versuchten Mordes zu 15 Jahren. Der 18jährige Sebastian F. erhielt lediglich eine Jugendstrafe von zwei Jahren wegen Nötigung in Tateinheit mit mehrfacher schwerer Körperverletzung. Seine elfmonatige Untersuchungshaft wird ihm dabei angerechnet, die verbleibende Strafe muß er erst antreten, wenn das Urteil rechtskräftig wird.
Die drei Jugendlichen hatten ihren langjährigen Bekannten Marinus ohne jeden Anlaß zunächst stundenlang geschlagen, gequält und gedemütigt – im Beisein dreier weiterer Personen, gegen die Strafbefehl wegen unterlassener Hilfeleistung erging. Später hatten sie Marinus zu einer stillgelegten Schweinemastanlage gebracht, wo sie ihn bestialisch ermordeten. Die Vorsitzende Richterin Ria Becher folgte in ihrem Urteil in weiten Teilen der Argumentation der Verteidigung, die betonte, eine gemeinschaftliche Verabredung zum Mord sei den Angeklagten nicht nachzuweisen. Vielmehr sei Marcel Sch. einer »spontanen Eingebung« gefolgt, Marinus durch Nachspielen einer Szene aus dem Film »American History X« zu töten. Die anderen, die gemeinsam mit Marcel Marinus zwangen, in die Kante eines Schweinetrogs zu beißen, hätten nicht ahnen können, daß Marcel ihm dann tatsächlich auf den Kopf springen würde. Wie die Verteidiger von Marko und Marcel, Matthias und Volkmar Schöneburg, sah die Richterin in Marcels Tat einen sogenannten Mittäterexzeß. Die Spirale der Gewalt habe der ältere Bruder in Gang gesetzt, als er anfing, Marinus zu schlagen. Marcel Sch. habe seinem Bruder und Sebastian F. imponieren wollen. Marko Sch. sei danach derjenige gewesen, der die Entdeckung der Tat habe verhindern wollen. Nachdem Marinus nach dem »Bordsteinkick« mit völlig entstelltem Kopf dagelegen habe, habe er die Suche nach einem Stein angeregt, mit dem man das Opfer endgültig töten wollte. Dies wertete das Gericht als versuchten Mord.
Sebastian F. hatte sich nach dem Sprung auf den Kopf des Opfers vom Verbrechen »distanziert«, jedoch beim Verscharren der Leiche mitgeholfen. Gleichwohl räumte die Richterin ein, daß F. während seiner Untersuchungshaft seine Gesinnung nicht geändert habe. Wie die anderen Angeklagten gehört er zur rechten Szene. Der Verteidiger von Sebastian F. ist nun der Ansicht, das Urteil für F. sei immer noch zu hart, und legte Widerspruch ein. Auch die Staatsanwaltschaft reichte Beschwerde ein: gegen die Haftentlassung von F. unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Sebastian F. war derjenige gewesen, der auf das Opfer uriniert hatte. Marko Schönfeld wurde verminderte Zurechnungsfähigkeit aufgrund seiner Alkoholkrankheit und einer Persönlichkeitsstörung zuerkannt. Gleichzeitig schlug aber sein Vorstrafenregister zu Buche: Nur vier Wochen nach dem Mord in Potzlow war er in Prenzlau an einem Überfall auf einen Mann aus Sierra Leone beteiligt.
Das soziale Umfeld – Arbeitslosigkeit, Abwanderung der meisten Menschen mit höherer Qualifikation aus der Region – spielte im Plädoyer der Richterin keine Rolle. Auch das rechtsextreme Umfeld der Täter kam nicht zur Sprache. Das Erschütterndste am Prozeß war die Stumpfheit unter den Erwachsenen wie unter den jugendlichen Saufkumpanen der Angeklagten, aber auch die Verlogenheit einiger jugendlicher Zeugen. Diese taten vor Gericht, als seien sie der Sprache nicht mächtig und beklagten nach der Verhandlung vor den Fernsehkameras wortreich, daß man sie noch immer nicht in Ruhe lasse. Marinus’ Mutter hat auf das Gedenkkreuz am Tatort geschrieben: »Warum hat dir keiner geholfen?«