Potzlow-Prozess: Mord ohne Grund
Der Potzlow-Prozess gibt noch immer Rätsel auf / Das Urteil wird morgen
verkündet
(MAZ, Frank Schauka) NEURUPPIN/POTZLOW —
In den Urteilen zum Potzlow-Prozess steht die große
Jugendkammer des Landgerichts Neuruppin morgen vor der Aufgabe, die Tötung
von Marinus Schöberl durch drei Neonazis erklären zu müssen, obwohl sie
möglicherweise keinen Grund hatten, den Jungen mit den blondierten Haaren
umzubringen. Zumindest keinen zwingenden, einleuchtenden Grund.
Es habe für den Mord “keinen Grund” gegeben, betonte Staatsanwältin Eva
Hoffmeister in ihrem Plädoyer. Ähnlich verständnislos äußerte sich der
Verteidiger des 18-jährigen Hauptangeklagten Marcel Sch. “Eigentlich gab es
keinen Grund dafür, dass mein Mandant Marinus tötete. Er begreift diese
Handlung selbst nicht”, sagte Anwalt Volkmar Schöneburg. Mehr als 20
Verhandlungstage und die Befragung Dutzender Zeugen haben kein eindeutiges
Mordmotiv erkennbar werden lassen. Ein grundloser Mord also?
Vor seinem Tode zitterte Marinus vor Angst
Vielleicht starb der 16-jährige Schüler am frühen Morgen des 13. Juli 2002
nur deshalb, weil Marcel, Marinus langjähriger Bekannter aus Potzlow, einen
“blackout” hatte, wie der Angeklagte vor Gericht behauptete. Jedenfalls
sprang der damals 17-Jährige dem am Boden liegenden, in eine Steinkante
beißenden, vor Angst zitternden Marinus mit Springerstiefeln ins Genick -
genau so wie in dem Film “American History X” ein Neonazi einen Schwarzen
ermordet.
Marinus, der den Spielfilm kannte und zweimal, weil er sich sträubte, in
diese “wehrloseste Position, die man sich vorstellen kann”, gezwungen wurde,
muss Todesangst durchlitten haben, vermutete Staatsanwältin Hoffmeister.
Nach dem “Bordstein-Kick” erschien den Tätern Marinus Gesicht so
fürchterlich zugerichtet, dass Marcels 23-jähriger Bruder Marco empfahl, den
Sterbenden, der seinen letzten Atem schwach röchelnd aushauchte, zu
erschlagen. Vermutlich war Marinus schon tot, als wenig später Marcel mit
einem Stein den Kopf des 16-Jährigen zertrümmerte.
Es habe sich um eine “typische Gewalteskalation” gehandelt, so Anwalt
Volkmar Schöneburg. Es sei keine geplante Aktion, auf keinen Fall ein
politisch motivierter Mord gewesen. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin habe
sich viel zu früh auf eine rechtsextremistisch motivierte Tat festgelegt und
abweichende Erklärungsansätze nicht vorurteilsfrei geprüft, kritisierte auch
Volkmar Schöneburgs Bruder Matthias, der Marcels älteren Bruder Marco
verteidigt.
Vielleicht ist die Deutung der Tat durch die Staatsanwaltschaft lediglich
der Versuch, ein Verbrechen zu erklären, das in Wahrheit grundlos war.
Vielleicht jedoch dringt die Staatsanwaltschaft mit ihrer Interpretation zu
dem eigentlichen Wesen der Tat vor.
Danach erschiene die Tat logisch und folgerichtig, Brüche im Tatablauf gäbe
es nicht: Die Täter wären nicht nur überzeugte Neonazis, auch ihre Tat wäre
nichts anderes als ein Ausdruck ihrer menschenverachtenden Gesinnung. Sie
hätten ihr Opfer mit dem Wort “Jude” entmenschlicht und auf diese Weise
konsequent vorbereitet für die “viehische Tat”, wie Neuruppins Leitender
Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher das Verbrechen bezeichnet hat.
Unter diesem Blickwinkel würde sich das Geschehen etwa so zusammenfügen:
Anfang Juli 2002 wird der Neonazi Marco Sch. nach mehrjähriger Haft
entlassen. Am Freitag, dem 12. Juli, kommt der rechtsextremistische
Sebastian F. aus Templin zu Besuch nach Potzlow. Der 17-Jährige ist ein
Schulfreund von Marcos jüngerem Bruder Marcel. Dieser wiederum führt sich
gelegentlich als Neonazi auf, manchmal jedoch gibt er sich auch als Linker -
meistens dann, wenn Marco im Gefängnis sitzt und der Einfluss auf den
jüngeren Bruder geringer ist.
Täter mit äußerst geringer Intelligenz
Am Nachmittag des 12. Juli berauschen sich die drei zunächst an
rechtsextremer Musik, später, typisch für die Szene, an Alkohol, schließlich
daran, dass sie Marinus, der zufällig zu der Gruppe stößt, zu einem Opfer
stilisieren, auf das sie ihre nazistische Vorstellung des Untermenschen
projizieren können. Marinus stottert, trägt blondierte Haare, weite Hosen
und muss sich bei zu großem Alkoholkonsum übergeben. In ihrem
Vorstellungshorizont — beschränkt durch einen Intelligenzquotienten von 55,
70 und 75 — erscheinen diese Äußerlichkeiten den Tätern offenbar alles
andere als deutsch. Sie entwerfen ein Gegenbild, schimpfen Marinus “Jude”,
prügeln ihn zu Boden, urinieren auf den Hilflosen. Das Martyrium dauert mit
Unterbrechungen mehrere Stunden und steigert sich. Schließlich drängt die
Gruppe Marinus unter erneuten Schlägen zu einem entlegenen Schweinestall, um
ihn nach dem Vorbild des Filmes hinzurichten. So etwa sieht es die
Staatsanwaltschaft.
Manche Einzelheiten fügen sich jedoch nur schwer in dieses Bild: Warum,
ließe sich fragen, verließen die drei jungen Rechtsextremen die Wohnung, in
der sie Marinus misshandelt hatten, ursprünglich ohne den 16-Jährigen?
Wollten sie Marinus zunächst nicht weiterquälen? Welcher Zusammenhang
existiert aber dann zwischen der behaupteten Entmenschlichung des Opfers mit
Hilfe des Wortes “Jude” und der Hinrichtung Stunden später? Und war es schon
der gemeinschaftliche Entschluss zum Mord, als auf dem gerade begonnenen
Heimweg Marcel und Sebastian Marcos Idee aufgriffen, Marinus noch ein wenig
Angst einzujagen — woraufhin die drei in die Wohnung zurückkehrten, um den
auf dem Sofa Schlafenden hinauszuzerren und zu dem entlegenen Schweinestall
zu drängen.
Noch komplizierter ist vermutlich die Gewalt im Schweinestall zu bewerten.
Die beiden, die Marinus aufforderten, in die Steinkante zu beißen, hatten
möglicherweise den Film nie gesehen, dem die brutale Szene entlehnt war. Ob
ihre Aufforderung einen Mord vorbereiten sollte, ist zumindest zweifelhaft.
Und Marcel? Er war der einzige, der den Film mit Sicherheit gesehen hatte
und der den vor Angst zitternden Marinus nach dem Vorbild der Filmszene
umbrachte. Die Idee, Marinus in die Steinkante beißen zu lassen, hatte
jedoch nicht Marcel als erster geäußert.
Möglicherweise diente weniger der Film als Drehbuch für die Wirklichkeit.
Vielleicht agierte umgekehrt Marcel unvermittelt als Hauptdarsteller in
einer Mordszene, die vor seinen Augen plötzlich Gestalt angenommen hatte.
“Ich bin wie im Film auf ihn gesprungen”, äußerte sich Marcel im Prozess.
“Ich wusste nicht, was ich da tat. Abgesprochen mit den anderen war das
nicht. Die waren über mein Handeln ziemlich überrascht.” — Welche Wahrheit
auch immer sich hinter diesem “ziemlich” verbirgt.
Hohe Haftstrafen im Potzlow-Prozess
Richter sprachen Strafen zwischen 2 und 15 Jahren aus
(LR, 23.10.) Wegen des besonders grausamen Mordes an dem Schüler Marinus Schöberl sind
drei Brandenburger zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt worden. Sie
hatten den 16-Jährigen 2002 im uckermärkischen Potzlow stundenlang
gefoltert, mit einem Fußtritt getötet und seine Leiche in einer Jauchegrube
verscharrt. Die Richter am Landgericht Neuruppin sprachen am Freitag Strafen
zwischen 2 und 15 Jahren aus. Marinus Peiniger nahmen das Urteil so auf,
wie sie den gesamten Prozess verfolgt hatten — gleichg&uum
l;ltig.
Der für den tödlichen Tritt verantwortliche 18-Jährige wurde wegen Mordes
und gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von achteinhalb
Jahren verurteilt. Sein sechs Jahre älterer Bruder muss wegen versuchten
Mordes und gefährlicher Körperverletzung für 15 Jahre ins Gefängnis. Ein
weiterer 18 Jahre alter Tatbeteiligter erhielt wegen gefährlicher
Körperverletzung eine Jugendstrafe von zwei Jahren.
Die Staatsanwaltschaft hatte für die 18 und 24 Jahre alten Brüder die
Höchststrafe gefordert wegen Verdeckungsmordes. Für den 18-Jährigen
beantragten die Ankläger 9 Jahre und 8 Monate Jugendgefängnis wegen
versuchten Mordes. Die Verteidiger hielten nur den jüngeren Bruder des
Mordes und ihre beiden anderen Mandanten der Körperverletzung für schuldig.
Sie forderten wesentlich niedrigere Strafen. Die jungen Männer hatten zu
Prozessbeginn schriftliche Geständnisse abgelegt.
Monatelang fehlte von Marinus Schöberl jede Spur. Nach einem Tipp fanden
Ermittler die Leiche des Schülers und nahmen wenig später die drei
mutmaßlichen Täter fest.
Chronologie
(LR) Aufklärung des Mordes und Prozessverlauf
. 16. November 2002: Im Stallgelände in Potzlow finden Ermittler die
skelettierte Leiche des monatelang vermissten Schülers.
. 19. November 2002: Gegen drei Jugendliche aus der Uckermark wird
Haftbefehl wegen gemeinschaftlichen Mordes erlassen.
. 19. Februar 2003: Gegen die drei mutmaßlichen Mörder wird Anklage erhoben.
. 26. Mai 2003: In Neuruppin beginnt der Mordprozess. Unter Ausschluss der
Öffentlichkeit legen die sonst schweigenden Angeklagten schriftliche
Geständnisse ab.
. 30. Mai 2003: Zeugen berichten, dass der jüngere der angeklagten Brüder
mit der Tat angegeben und mehrfach Bekannte zum Versteck der Leiche geführt
hat. Keiner der Zeugen war aber zur Polizei gegangen.
. 24. Juni 2003: Kurz vor dem geplanten Ende des Prozesses wirft die
Verteidigung mehreren Ermittlern Rechtsbruch vor. Die Polizisten hätten die
Eltern der beiden jugendlichen Angeklagten von den Vernehmungen ihrer Söhne
ausgeschlossen.
. 18. Juli 2003: Die Aussagen der mutmaßlichen Mörder bei Polizeiverhören
dürfen vor Gericht als Beweise genutzt werden. Die Richter schenken den
Aussagen der Polizisten mehr Glauben als denen der Eltern. Sie weisen das
Beweisverwertungsverbot der Verteidigung zurück.
. 11. August 2003: Die Verteidigung erleidet eine weitere Niederlage: Ihre
Befangenheitsanträge gegen die Jugendkammer werden abgelehnt.
. 4. September 2003: Die psychiatrischen Gutachten bescheinigen allen drei
Angeklagten Anhaltspunkte für eine verminderte Schuldfähigkeit.
. 10. September 2003: Wegen Verdeckungsmordes an dem Schüler Marinus
Schöberl fordert die Staatsanwaltschaft hohe Haftstrafen für alle drei
Angeklagten; für zwei der Männer die Höchststrafe.
. 2. Oktober 2003: Die Verteidiger wollen deutlich mildere Strafen als die
Staatsanwaltschaft. Sie plädieren nur für einen der Angeklagten auf Mord.
Die beiden anderen seien der Körperverletzung schuldig.
. 16. Oktober 2003: Am Tag der geplanten Urteilsverkündung sorgt ein
überraschend aufgetauchter Zeuge für Wirbel. Er sagt, er habe gehört, wie
der erwachsene Angeklagte bereits im Sommer 2000 angekündigt habe, den
Schüler Marinus zu töten. Allerdings weicht er im Laufe der Befragung immer
mehr von dieser Aussage ab.
Gedenkstein erinnert an ermordeten Marinus
(Berliner Zeitung, Susanne Rost) POTZLOW. In Potzlow wird am 31. Oktober ein Gedenkstein für den ermordeten
Marinus Schöberl eingeweiht. Der 16-Jährige war im Juli 2002 spurlos
verschwunden. Vier Monate später entdeckte die Polizei seine Leiche in einer
Jauchegrube unweit des Dorfes. Drei junge Männer sollen den aus Potzlow
stammenden Schüler auf grausame Art umgebracht haben. Die Initiative für den
Gedenkstein ging vom Potzlower Pfarrer aus, der den Stein sponserte. Die
übrigen Kosten übernahm laut Bürgermeister Peter Feike die Gemeinde.
Staunen über ein Urteil
Der letzte Tag im Prozess um den Mord von Potzlow
(Tagesspiegel, Frank Jansen) Der Mann ist frei. Kaum hat Richterin Ria Becher das Urteil verkündet, steht
Sebastian F. auf und holt aus einer Plastiktüte eine große, blaue Dose
Tabak. Dann beginnt der 18-Jährige, eine Zigarette zu drehen. Ruhig, die
Hände zittern nicht, kein Krümel fällt zu Boden. Das ungläubige Staunen um
ihn herum, die hektischen Fragen der vielen Journalisten — der große
Kurzhaarmann wirkt unbeeindruckt und schweigt. Dabei hat ihn die
Jugendkammer des Landgerichts Neuruppin an diesem Freitagmittag gerade mit
einer sensationell kleinen Strafe bedacht und dann noch den Haftbefehl
aufgehoben. In einem Prozess, der wie kaum ein anderer in der Geschichte des
Bundeslandes Brandenburg Beachtung gefunden hat. Weil die Folter und
Ermordung des 16-jährigen Marinus Schöberl im Juli 2002 im uckermärkischen
Dorf Potzlow unfassbar brutal, ja sadistisch wirkt.
Doch Sebastian F. war nach Ansicht der Strafkammer “nur” in begrenztem Maße
ein Mittäter. Einer, der Schöberl geschlagen hat und der auf ihn urinierte.
Aber für den Mord sei Sebastian F. nicht verantwortlich. Das Hauptmaß der
Schuld hätten die Brüder Marco und Marcel S. auf sich geladen.
Marcel S., auch 18 Jahre alt und in dem fünfmonatigen Prozess immer bleich
wie ein Schwerkranker, hat am frühen Morgen des 13. Juli 2002 den schon seit
Stunden malträtierten Marinus Schöberl mit einem “Bordsteinkick” getötet.
Stockend trägt Richterin Becher vor, Marcel S. oder Sebastian F. hätten
Marinus gezwungen, in einem ehemaligen Schweinestall in die Kante eines
Trogs zu beißen. Dann sei ihm Marcel mit seinen Stahlkappenstiefeln auf den
Kopf gesprungen. “Der Kopfbereich wurde zerquetscht, Marinus kippte nach
links weg”, sagt Becher. Die Richter, die Schöffen, die Verteidiger, das
Publikum erstarren, zwei, drei Sekunden lang. “Marcel wollte nachempfinden,
wie es sich anfühlt, wenn ein Mensch stirbt”, sagt Becher tonlos, “und er
wollte seinem Bruder imponieren.” Marco S., 24, vorbestrafter Neonazi, nimmt
die rechte Hand an den Mund. Auf dem kahlen Schädel ist über dem linken Ohr
das Wort “Skinhead” tätowiert.
Das “komplexe Verhältnis” der beiden Brüder sieht die Strafkammer als eines
der wesentlichen Motive für den Gewaltexzess. Marcel habe Angst vor seinem
Bruder gehabt, aber er habe auch dessen Anerkennung gesucht, sagt Becher.
Und als dann Marco an jenem Abend “aus einer Laune heraus” anfing, den
harmlosen Hiphopper Marinus Schöberl zu quälen, habe Marcel sich die
“Einstellung” des großen Bruders zu Eigen gemacht “und sich dem Opfer
gegenüber als höherwertig angesehen”. Und dann mitgeprügelt, den
verängstigten Schöberl mit in den Schweinestall gebracht — und alleine, ohne
den Bruder und Sebastian F., “plötzlich den Entschluss gefasst, den
Bordsteinkick vollständig in die Realität umzusetzen”. Bechers Stimme ist
wieder leise geworden.
Die Kammer verurteilt Marcel S. zu achteinhalb Jahren Jugendstrafe. Wegen
Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Nötigung. Dass es nicht, wie von
der Staatsanwaltschaft gefordert, zehn Jahre si
nd, begründet Becher mit
seinem Geständnis kurz nach der Festnahme, Alkohol und “einer Intelligenz am
unteren Rand der Norm”. Die Kammer hält auch Marco S. den Suff und “einen IQ
von 55″ zugute. Und eine “Persönlichkeitsstörung”. Dennoch bekommt er
15Jahre, wegen versuchten Mordes und unter “Einbeziehung” einer früheren
Strafe, nach einem Überfall auf einen Afrikaner. Das hohe Strafmaß erklärt
die Kammer so: Für Marco S. gilt Erwachsenenstrafrecht, außerdem habe er
mitgewirkt, als Marcel noch einen Gasbetonstein auf Marinus Schöberl warf.
Um sicher zu sein, dass der Junge tot ist. Anschließend wurde er von den
Angeklagten in einer Jauchegrube verscharrt.
Als Becher nach eineinhalb Stunden Urteil und Begründung verlesen hat, sind
die beiden Staatsanwältinnen und das Publikum verwirrt, auch empört. “Wir
werden auf jeden Fall Beschwerde gegen die Freilassung von Sebastian und
Revision gegen das milde Urteil einlegen”, sagt Oberstaatsanwältin Lolita
Lodenkämper. Überraschend kündigt auch der Anwalt von Sebastian F. eine
“vorsorgliche Revision” an. Der hält derweil seine fertig gedrehte Zigarette
in der Hand. Er wird gefragt, ob er sich freut. Sebastian F. grinst. Dann
folgt ein kräftiges “Jau”.
Potzlow: Zwei Mordurteile
Weil er eine Hip-Hop-Hose trug und sich die Haare färbte, musste Marinus
Sch. sterben. Gestern wurden die beiden Brüder Marco und Marcel S. zu acht
und fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Ihr Freund Sebastian F. bekam zwei
Jahre wegen Nötigung
(TAZ, Kirsten Küppers) Die Brüder bekommen hohe Haftstrafen. Der kleine Bruder acht Jahre und sechs
Monate wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung, der ältere 15 Jahre
wegen versuchten Mordes. Ihr Freund wird zu zwei Jahren wegen Nötigung
verurteilt.
Die Richter vom Landgericht Neuruppin haben den Mord, der in der Nacht zum
13. Juli 2002 in dem kleinen Ort Potzlow in der Uckermark geschah, nicht als
verirrte Tat von drei betrunkenen Jungs gewertet. Sie haben mehr als 40
Zeugen befragt, sie haben fast das ganze Dorf Potzlow ins Gericht geladen:
die Polizisten, den Getränkehändler, die Lehrer, die Schulfreunde, die
Alkoholiker. 25 Tage hat der Prozess jetzt gedauert.
Die Richter haben sich Mühe gegeben. Sie haben versucht herauszufinden, was
passiert ist in jener Nacht, als die drei Angeklagten, die Geschwister Marco
und Marcel S., 23 und 17 Jahre alt, sowie ihr Freund, der 17-jährige
Sebastian F. nach einem Abend voller Bier- und Schnapsherrlichkeit den
16-jährigen Marinus Sch. erst stundenlang gequält und geschlagen haben.
“Sag, dass du ein Jude bist”, verlangten sie. Auf das Gelände einer
stillgelegten LPG am Dorfrand haben sie ihn geschleppt. Dort erwartete ihn
ein so genannter “Bordstein-Kick”, wie er auch in dem Spielfilm “American
History X” gezeigt wird: Marinus Sch. musste in die Kante eines
Schweinetrogs beißen, Marcel S. sprang ihm mit seinen Springerstiefeln auf
den Kopf. Erst Monate später wurde die Leiche von Kindern in der Jauchegrube
gefunden.
Das Verbrechen flog auch deswegen auf, weil Marcel S. immer wieder mit der
Tat angegeben hatte. “Ich hab einen Penner umgebracht”, hat er gerufen,
“musste auch mal machen, is geil.” Die Angeklagten haben bei der Polizei
zugegeben, dass es so war. Den Rest haben Zeugenaussagen bestätigt. Am Ende
sahen es die Richter als erwiesen an, dass die Angeklagten Marinus Sch. als
Opfer aussuchten, weil er eine weite Hip-Hop-Hose getragen hatte und sich
die Haare blond färbte. Ihre rechte Einstellung führte zur Motivation, “ihn
zu demütigen, um eigene Überlegenheit zu demonstrieren”, sagte die
Vorsitzende Richterin gestern. Marcel S. habe vorsätzlich und aus niederen
Beweggründen gehandelt. “Er wollte erleben, wie es ist, einen Menschen zu
töten.”
Die Verteidiger der Angeklagten hatten dagegen kein rechtsextremes Motiv für
den Mord ausmachen können, vielmehr handele es sich um eine Tat im
Alkoholaffekt. Der Anwalt von Sebastian F. hatte sogar eine Jugendstrafe im
Gefängnis abgelehnt. Bei den Auseinandersetzungen habe es sich um “nicht
wesentlich mehr als eine Kabbelei” gehandelt. “Ein so genannter
Bordstein-Kick ist sicher brutal, aber nicht grausam. Er ist effizient, um
jemanden zu töten.”
Die beiden Brüder vernahmen mit gesenkten Köpfen ihr Urteil. Beim älteren
Bruder Marco S. floss auch dessen langes Vorstrafenregister in das Strafmaß
mit ein. Derzeit sitzt Marco. S. bereits im Gefängnis, wegen eines Überfalls
auf einen Asylbewerber aus Sierra Leone.
Sein kleiner Bruder wollte ihm mit dem Mord an Marinus S. imponieren,
erklärte die Richterin gestern. In der Untersuchungshaft hat Marcel S. sich
ein Hakenkreuz auf sein Knie tätowieren lassen. Auch im Gerichtssaal bemühte
er sich um ein ausdrucksloses Gesicht. Sein Freund Sebastian F. durfte
gestern nach Hause gehen. Bis zur Vollstreckung der Strafe ist er frei. Mit
einem breiten Grinsen im Gesicht, einer Plastiktüte in der einen und einer
Zigarette in der anderen Hand, verließ er gestern den Saal. Die
Staatsanwaltschaft hat indes angekündigt, gegen das Urteil in seinem Falle
Revision einzulegen. Auch der Anwalt der Nebenklage findet die Entscheidung
“viel zu milde”.
Hass, Wahn, Suff — Mord
Landgericht Neuruppin verhängt langjährige Haftstrafen für Mord an
16-jährigen Schüler. Jugendliche Täter stammen aus der rechtsextremen Szene.
Opfer als Jude gedemütigt
(TAZ) NEURUPPIN afp Wegen des brutalen Mordes an dem 16-jährigen Schüler Marinus
S. im brandenburgischen Potzlow hat das Landgericht Neuruppin am Freitag
gegen drei junge Männer aus der rechtsextremen Szene langjährige Haftstrafen
verhängt. Der 18-jährige Hauptangeklagte Marcel S. erhielt wegen Mordes und
gefährlicher Körperverletzung eine Jugendstrafe von achteinhalb Jahren. Sein
mehrfach vorbestrafter 24-jähriger Bruder Marco muss wegen versuchten Mordes
für 15 Jahre ins Gefängnis. Der 18-jährige Mittäter Sebastian F. wurde wegen
gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Die drei geständigen Täter hatten ihr Opfer im Juli 2002 nach starkem
Alkoholkosum in einen ehemaligen Schweinestall gelockt. Den Skinheads galt
der 16-Jährige als links orientiert, weil er sich die Haare blond färbte und
eine in der HipHop-Szene verbreitete weite Hose trug. In dem Stall
verhöhnten und misshandelten sie ihr Opfer. Der Schüler sollte das falsche
Bekenntnis ablegen, ein Jude zu sein. Als er schließlich gezwungen wurde, in
die Kante eines Schweinetrogs zu beißen, sprang der Hauptangeklagte Marcel
S. ihm mit Springerstiefeln ins Genick. Zudem wurden zwei Steine auf den
Kopf des Jungen geworfen. Die Täter sollen sich dies in einem US-Film
abgeschaut haben, in dem ein Schwarzer auf diese Weise von einem Neonazi
getötet wird. Die Leiche des Schülers warfen die jungen Männer in eine
Jauchegrube, wo sie nach vier Monaten von Kindern entdeckt wurde. Richterin
Ria Becher sprach in der Urteilsbegründung von einem besonders brutalen
Mord. Die rechtsextreme Einstellung der Jugendlichen sei ein Tatmotiv
gewesen. Die Urteile blieben unter den Strafanträgen des Staatsanwalts, der
gegen die Brüder Höchststrafen von 10 Jahren Jugendhaft bzw. lebenslänglich
beantragt hatte.
Urteilsverkündung im Potzlow-Prozess
Achteinhalb Jahre Haft für Haupttäter
(MAZ) NEURUPPIN/POTZLOW — Im Landgericht Neuruppin sind gestern die Urteile im
Potzlow-Proz
ess verkündet worden. Der bei der Tat 17-jährige Hauptangeklagte
Marcel Sch. wurde wegen Mordes an dem 16-jährigen Schüler Marinus Schöberl
zu einer Jugendstrafe von achteinhalb Jahren verurteilt. Marcels 24 Jahre
alter Bruder Marco muss wegen versuchten Mordes 15 Jahre in Haft. Der damals
17-jährige Sebastian F. erhielt einer Jugendstrafe von zwei Jahren, durfte
jedoch gestern nach Hause.
Entgegen der Anklage der Staatsanwaltschaft wertete die Jugendkammer des
Landgerichts das Verbrechen nicht als rechtsextreme Tat, obwohl die Täter
der Neonazi-Szene zuzurechnen sind.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin sowie zwei Verteidiger kündigten an, gegen
das Urteil in Revision zu gehen.
Neugier als Mordmotiv
Marinus Schöberls Tod war laut Gericht kein politisches Verbrechen
(MAZ, Frank Schauka) NEURUPPIN/POTZLOW — Marinus Schöberl musste im Alter von 16 Jahren sterben,
weil Marcel Sch. “erleben wollte, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu
töten”. Nicht, dass der 17-Jährige persönlich etwas gegen Marinus gehabt
hätte. Sie waren zwar keine engen Freunde, kannten sich aber seit Jahren.
Die beiden hatten wohl auch manches krumme Ding gedreht. Doch am frühen
Morgen des 13. Juli 2002 wollte Marcel plötzlich dieses mörderische Gefühl
ausleben, wie Ria Becher, die Vorsitzende der großen Jugendkammer des
Landgerichts Neuruppin, in ihrer Urteilsverkündung zum Potzlow-Prozess
gestern ausführte.
200 Meter abseits des Dorfes, am Ende eines 75 Meter langen Schweinestalls
auf dem Gelände einer verlassenen LPG, lag Marinus am Boden und biss in eine
Steinkante, weil Marcel es ihm befohlen hatte. Marinus hatte nicht mehr die
Kraft, sich zu wehren. Stundenlang hatten sie ihn geprügelt und gedemütigt.
Marco, Marcels älterer Bruder, und Sebastian, ein Schulfreund von Marcel,
hatten mit der Misshandlung begonnen. Schließlich schlug auch Marcel
mehrfach zu.
Marinus zitterte vor Angst, seine Hose war feucht und stank. Der Junge lag
in der hilflosesten Position, die man sich vorstellen kann, wie
Staatsanwältin Eva Hoffmeister es genannt hatte. Jeder in Potzlow kannte die
Szene aus dem Film “American History X”, in dem ein Neonazi einen Schwarzen
mit einem Sprung ins Genick ermordet. Marinus lag da wie dieser Schwarze.
Es sei nicht so gewesen, erklärte Richterin Becher, dass Marcel Marinus
“persönlich umbringen wollte”. Marcel — selbst oft geschlagen und nun in
einer Position des Starken — habe jäh den Entschluss gefasst, die ihm
vertraute Filmszene “bis zum bitteren Ende durchzuspielen”. Marinus sei
nicht mehr als das “zufällige, aber jetzt zur Verfügung stehende Opfer”
gewesen. Auf der Suche nach etwas Gefühl und dem Wunsch, von seinem
kriminellen Bruder Marco endlich anerkannt zu werden, brachte Marcel Marinus
um. Das tödliche Ende des Sprungs “war ihm klar”, sagte Becher. Wegen dieses
Mordes, angesiedelt “auf der untersten moralischen Stufe”, ist der heute
18-Jährige gestern zu einer Jugendhaftstrafe von achteinhalb Jahren
verurteilt worden. Bei guter Führung kann Marcel als 23-Jähriger dennoch
wieder frei sein.
Der Mord an Marinus, befand das Gericht, sei ein Mittäterexzess gewesen und
nicht das geplante politische Verbrechen, das die Neuruppiner
Staatsanwaltschaft zum Auftakt des Prozess im Mai angeklagt hatte. Die
höchsten Haftstrafen für alle drei Täter hatte sie deshalb gefordert: 15
Jahre Haft für den damals 23-jährigen Neonazi Marco, die Maximalstrafe von
zehn Jahren Jugendhaft für den zum Tatzeitpunkt 17-jährigen Marcel sowie
eine Jugendstrafe von neun Jahren und acht Monaten für den damals 17 Jahre
alten rechtsextremen Sebastian.
Gestern hingegen konnte Sebastian F. den Gerichtssaal zunächst als freier
Mann verlassen. Er wird demnächst wegen gefährlicher Körperverletzung eine
Jugendstrafe von zwei Jahren antreten müssen, auf die seine elfmonatige
Untersuchungshaft allerdings angerechnet wird. Marco Sch. wurde wegen
versuchten Mordes und Körperverletzung sowie unter Berücksichtung diverser
Vorstrafen zu einer Gesamtstrafe von 15 Jahren verurteilt. Ein
rechtsextremes Motiv für den Mordversuch konnte dem überzeugten Neonazi für
diese Tat jedoch nicht nachgewiesen werden. Strafmildernd wirkten sich zudem
der äußerst geringe Intelligenzquotient von 55 sowie die Alkoholabhängigkeit
des Angeklagten aus.
Die Jugendkammer des Landgerichts — die sich weitgehend den Beweisketten der
Potsdamer Verteidiger Matthias und Volkmar Schöneburg anschloss -
differenzierte in der Urteilsbegründung stark zwischen der
rechtsextremistischen und menschenverachtenden Geisteshaltung der drei Täter
und dem Verbrechen.
Die Staatsanwaltschaft werde teilweise in Revision gegen das Urteil gehen,
kündigte die Leiterin der politischen Abteilung, Lolita Lodenkämper, an.
Insbesondere das Urteil gegen Sebastian F. sei zu gering ausgefallen.
Rechtsmittel will wegen des Urteils gegen Marco Sch. auch Anwalt Matthias
Schöneburg einlegen.
Reaktion der Eltern
“Es ist immer noch unvorstellbar für uns, dass wir unsere Kinder achteinhalb
und 15 Jahre nicht mehr zu Hause sehen können”, weint Jutta Sch. Mit ihrem
Mann hat sie zu Hause auf das Urteil gewartet. “Wir haben nach all den
schlimmen Wochen nicht mehr die Kraft gehabt, um an diesem Tag den
Presserummel im Gerichtssaal ertragen zu können.” “Ohne Frage gehört diese
schlimme Tat gesühnt,” ergänzt Jürgen Sch. “Was ich aber nicht verstehe ist,
warum der dritte Beteiligte an der Tat, der die Leiden von Marinus Schöberl
miterlebt und nichts für ihn getan hat, nur zu zwei Jahren Jugendstrafe
verurteilt wurde und sofort nach der Urteilsverkündung vorläufig nach Hause
konnte. Dennoch sind wir dem Gericht dankbar, dass unserem Sohn Marco die
Sicherheitsverwahrung nach 15 Jahren Gefängnis erspart bleibt, die der
Staatsanwalt gefordert hat. Somit werden wir Marco irgendwann wieder in die
Arme schließen können.”
Ein Anderer in Potzlow
Bis zum Ende des Prozesses gegen Skinheads, die einen Jungen brutal ermordet
haben, findet das Opfer in seinem Dorf kein Mitgefühl
(FR, Pitt von Bebenburg) Es ist ein unheimlicher Prozess gewesen wegen einer grauenvollen Tat. In
Potzlow, einem Dorf von 576 Einwohnern in der Uckermark, haben die beiden
Brüder Marco und Marcel S., 24 und 18 Jahre alt, und Marcels Schulkamerad
Sebastian F. im Sommer vergangenen Jahres einen sprachbehinderten Jungen
stundenlang gequält und ermordet. Auf eine Weise, die die Staatsanwaltschaft
vor der Zweiten Großen Strafkammer des Neuruppiner Landgerichts “viehisch”
nannte. Das Opfer, der 16 Jahre alte Marinus Schöberl, hatte blond gefärbte
Haare und trug eine weite Hose, wie sie die eher links-alternativ
orientierten Hiphopper mögen. Das passte den Tätern nicht. Sie zwangen ihn
zu sagen, dass er “Jude” sei, um ihn dann als einen Menschen zu behandeln,
der für sie kein Recht auf Leben hat.
Kaum einer aus Potzlow hat sich auf den Weg nach Neuruppin gemacht, um den
Prozess zu verfolgen. Drei Zeugen mussten von der Polizei geholt werden,
weil sie nicht von sich aus gekommen waren. Es waren jene beiden Männer und
eine Frau, in deren Haus die Tortur von Marinus begonnen hatte. Gegen die
drei erging Strafbefehl wegen unterlassener Hilfeleistung. “Ich habe mir
nichts vorzuwerfen”, sagte die Frau vor Gericht.
In ihrem Haus, auf ihrer Veranda, schlugen die Täter den Jungen. Sie soffen
selbst und flößten ihm Schnaps und Bier e
in, bis er erbrechen musste. Der
Junge lag vor dem Haus, Sebastian F. pinkelte auf den Wehrlosen. Im
Morgengrauen des 13. Juli 2002 brachten sie ihn zu verfallenen Ställen am
Rande des Dorfes. Dort zwangen sie ihn, in den Betonrand eines Schweinetrogs
zu beißen. Dann sprang Marcel mit seinen schwarzen Springerstiefeln auf den
Kopf, wie er es in dem Gewaltfilm “American History X” gesehen hatte.
Marinus war halb tot und so entstellt, dass der Ältere, Marco, zu dem
Schluss kam: “Der wird nicht mehr. Den können wir keinem Arzt mehr
vorstellen.” Die beiden Brüder wollten ihn endgültig töten, Marcel fand
einen Stein und warf ihn zweimal auf den bereits zertrümmerten Kopf des
Jungen. Sebastian F. war nach Marcels brutalem Sprung mit den Worten: “Damit
will ich nichts zu tun haben”, kurz weggegangen. Er kam zurück und half mit,
den Jungen zu verscharren. Das Landgericht sah keine Beteiligung von F. an
dem Mord.
Strafen für Marcel und Marco S.
Sebastian F. darf am Ende der Urteilsverkündung seine Plastiktüte packen und
nach Hause gehen. Er muss zwar später wieder ins Gefängnis, um seine
zweijährige Jugendstrafe abzusitzen. Doch zunächst hebt das Gericht den
Haftbefehl auf — sehr zum Unwillen der Staatsanwaltschaft. Denn die
Vorsitzende Richterin Ria Becher hatte selbst darauf aufmerksam gemacht,
dass F. in elf Monaten Untersuchungshaft “nicht von seiner inneren Haltung
gegenüber anderen Menschen Abstand genommen” hat. Marcel und Marco gehen
dagegen vom Gerichtssaal zurück ins Gefängnis: Marcel wird zu achteinhalb
Jahren, Marco S. zu 15 Jahren Haft verurteilt. Dabei bezieht das Gericht
frühere Strafen mit ein.
Im Neuruppiner Gerichtssaal hat sich seit dem Prozessauftakt im Mai das
Panorama einer völlig verwahrlosten Szene aufgeblättert, der in Potzlow
keineswegs nur Jugendliche angehören. Gesoffen wurde dort, Bier und Schnaps
vor allem. Mit einem Trinkgelage hatte auch der Samstagabend im Juli vor
einem Jahr begonnen, der Sonntag früh mit der Ermordung von Marinus endete.
Ungefähr zwei Promille soll jeder der Täter gehabt haben. Den drei jungen
Männern attestierte das Gericht stark verminderte Intelligenz. Bei Marcel
lag der Intelligenzquotient mit 55 so niedrig, dass es für ihn strafmildernd
ausfiel, weil das Gericht nicht ausschließen konnte, dass dieser Mangel im
Zusammenspiel mit dem Alkohol dazu geführt hatte, dass er nicht mehr Herr
seiner Handlungen war.
Es war keineswegs ein Zufall, dass die Täter auf Nazi-Jargon zurückgriffen.
Auch vor Gericht traten sie im rechtsextremen Outfit auf. Marco hat
“Skinhead” in den kahlen Schädel tätowiert. Zum Zeitpunkt der Ermordung von
Marinus war er erst seit einer Woche frei — nachdem er Vorstrafen wegen
Körperverletzung hatte absitzen müssen. Und da der Mord von Potzlow zunächst
nicht aufgeklärt wurde, konnte Marco weiter sein Unwesen treiben. Vier
Wochen danach fiel er zusammen mit seiner Freundin und einem anderen
Skinhead in Prenzlau über einen Schwarzen aus Sierra Leone her. Dafür kam er
ins Gefängnis, noch ehe die Ermittler Marinus gefunden hatten.
Ein Grabstein für Marinus
Nur wenige in Potzlow schien es zu stören, dass Marinus verschwunden war,
und als seine Mutter herumfragte, erntete sie häufig nicht mehr als ein
Schulterzucken. Es hörte auch niemand hin, als Marcel anfing, mit dem Mord
zu prahlen. “Das war ein geiles Gefühl, das müsst ihr auch mal machen”, soll
der 18 Jahre alte Mann gesagt haben. Erst als Marcel um 25 Euro wettete,
dass er die Leiche auch zeigen könne, und andere Jugendliche zu den Ställen
führte, wo sie Marinus an jenem Sonntagmorgen verscharrt hatten, wendete
sich schließlich jemand an die Polizei.
Für den Grabstein von Marinus, dessen kinderreiche Familie in armen
Verhältnissen lebt, haben nicht die Potzlower gesammelt. Eine Journalistin
von außerhalb brachte das Geld auf.
In Potzlow streitet man sich derweil darüber, ob der Alkoholkonsum der
Jugendlichen öffentlich debattiert werden darf. Und darüber, ob das
Jugendhaus — und nicht etwa die Eltern — die Verrohung der Jugendlichen
hätte verhindern müssen.
“Ich verliere nicht die Hoffnung”, sagt Pfarrer Johannes Reimer, “aber es
ist sehr schwierig.”
Potzlow-Prozess endet mit hohen Haftstrafen
Gericht wertet Mord an Marinus Schöberl nicht als Gemeinschaftstat der drei
angeklagten Neonazis
(Berliner Zeitung, Jens Blankennagel) NEURUPPIN. Keine dreißig Minuten nach Verkündung des Urteils im Prozess um
die Ermordung des 16-jährigen Schülers Marinus Schöberl steht einer der drei
Angeklagten am Freitagnachmittag rauchend vor dem Landgericht Neuruppin.
Nicht nur viele Prozessbeobachter sind überrascht, dass er vorläufig frei
ist. Auch er selbst. “Damit habe ich nicht gerechnet”, sagt der 18-jährige
Sebastian F. sichtlich erfreut. Ein glatzköpfiger Kumpel sagt zu ihm: “Jetzt
kannst du ja ein Bier schlürfen gehen.”
In dem fünf Monate währenden Mordprozess war dem jungen Mann vorgeworfen
worden, Marinus am 12. Juli 2002 mit zwei anderen Neonazis in Potzlow
stundenlang geschlagen, beleidigt, als Juden beschimpft und auf ihn uriniert
zu haben. Die Anklage sah es als erwiesen an, dass er mit den anderen später
geplant hat, Marinus in einem Stall nach dem Vorbild des Films “American
History X” zu ermorden. Klar ist: Die drei Täter hatten Marinus gezwungen,
in die Kante eines steinernen Futtertrogs zu beißen, dann war ihm der
Hauptangeklagte Marcel Sch. mit seinen schwarzen Springerstiefeln auf den
Kopf gesprungen. Um sicher zu gehen, dass er stirbt, warf er ihm dann noch
zweimal einen Stein auf den Kopf.
Nach dem Jugendstrafrecht drohte Sebastian F., der zur Tatzeit wie der
Haupttäter minderjährig war, eine Höchststrafe von zehn Jahren. Die
Staatsanwaltschaft forderte neun Jahre und acht Monate, der Verteidiger war
gegen eine Haftstrafe, wollte nur erzieherische Maßnahmen. Richterin Ria
Becher verhängte eine Strafe von zwei Jahren. Die muss Sebastian F. erst
antreten, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Die unterschiedlichen
Vorstellungen vom Strafmaß drücken die Schwierigkeit des gesamten Prozesses
aus. Wie soll ein Mord ohne wirkliches Motiv geahndet werden, begangen von
betrunkenen Jugendlichen mit bestenfalls unterdurchschnittlicher
Intelligenz? Wie lässt sich erklären, dass sie Marinus, den sie seit Jahren
kannten, “ohne Grund und Anlass” ermordeten? Die Staatsanwaltschaft sah
darin eine bestialische Tat, die ihren Ursprung im rechtsextremistischen
Gedankengut der Angeklagten hatte. Marinus hatte mit seinen weiten Hosen und
den gefärbten Haaren dem Feindbild der rechtsradikal eingestellten
Angeklagten entsprochen, deshalb haben sie ihn misshandelt. “Sie wollten ihn
demütigen und ihre Überlegenheit demonstrieren”, sagte auch die Richterin.
Doch der eigentliche Mord ist laut Gericht keine gemeinsame
rechtsextremistisch motivierte Tat, denn die soll Marcel Sch. allein
begangen haben. Obwohl die anderen daneben standen, Marinus gar gezwungen
hatten, vor dem tödlichen Sprung in den Trog zu beißen. “Sie hatten den
Sprung nicht für möglich gehalten”, sagte die Richterin. Daher wurde nur der
Haupttäter wegen Mordes verurteilt — zu acht Jahren und sechs Monaten Haft.
“Er wollte das Gefühl erleben, wie es ist, zu töten. Und er wollte seinem
Bruder und Sebastian imponieren”, sagte Becher. “Er spielte sich auf als
Herr über Leben und Tod.”
Marcels großer Bruder, Marco Sch. — ein vielfach vorbestrafter
rechtsextre
mer Schläger, der gerade ein Strafe wegen Misshandlung eines
Afrikaners absitzt — bekam nicht die geforderte lebenslange Haft wegen
gemeinschaftlich begangenem Mordes. Er soll 15 Jahre wegen versuchten Mordes
ins Gefängnis. Denn er hatte nach dem so genannten Bordsteinkick dafür
gesorgt, dass sein Bruder dem Opfer einen Stein auf den Kopf wirft, um
Marinus zu töten. Außerdem hatte er mit den Misshandlungen begonnen. “Er hat
die Spirale der Gewalt erst in Gang gesetzt”, sagte die Richterin.
Sowohl Anklage als auch Verteidigung sind mit den Urteilen unzufrieden und
prüfen eine mögliche Revision. Im Fall von Sebastian F. allerdings haben
sich beide Seiten sofort entschlossen, Widerspruch einzulegen. “Ich sehe
keine schädlichen Neigungen bei ihm”, sagte sein Anwalt Ulrich Drews, der
auch die zweijährige Haftstrafe vom Tisch haben will. Die Staatsanwaltschaft
hingegen will eine weitaus härtere Strafe. “Wir haben auch Beschwerde gegen
die Freilassung des Mannes eingelegt”, sagte Staatsanwältin Lolita
Lodenkämper.
Mord nach Drehbuch — Hohe Strafen im Potzlow-Prozess
Mit Haftstrafen von 15 und achteinhalb Jahren für die Brüder Marco und
Marcel Sch. endete gestern der Prozess um den Mord an Marinus Schöberl aus
Potzlow. Der dritte Angeklagte ist vorerst wieder frei.
(BM, M. Lukaschewitsch) Neuruppin — Im Prozess um den bestialischen Mord an dem 16-jährigen Schüler
Marinus Schöberl in Potzlow sind gestern zwei der drei Angeklagten zu hohen
Haftstrafen verurteilt worden. Das Landgericht Neuruppin verhängte gegen die
Brüder Marco Sch. (24) und Marcel Sch. (18) wegen versuchten Mordes und
Mordes 15 Jahre Haft beziehungsweise acht Jahre und sechs Monate
Jugendstrafe.
Der dritte Mitangeklagte Sebastian F. (18) kam dagegen vorerst wieder auf
freien Fuß. Er erhielt zwar zwei Jahre Jugendstrafe wegen Nötigung und
Körperverletzung, die er aber nicht gleich antreten muss. Die Vorsitzende
Richterin Ria Becher hatte dem schlaksigen, ungelenken jungen Mann
schädliche Neigungen und eine ungünstige Sozialprognose bescheinigt,
trotzdem konnte er nach dem Urteil zunächst Hause gehen. Denn der Haftbefehl
lautete auf Mord. Dieser Vorwurf bestätigte sich nach Auffassung des
Gerichts nicht.
Rechtsanwalt Thomas Weichelt, der die Eltern des ermordeten Marinus Schöberl
als Nebenkläger vertrat und für alle Angeklagten eine Verurteilung wegen
gemeinschaftlich begangenen Mordes gefordert hatte, war fassungslos: “Das
ist nicht zu begreifen.” Auch die Staatsanwaltschaft will gegen das aus
ihrer Sicht “viel zu milde” Urteil gegen Sebastian F. Revision einlegen. F.
hatte Marinus einige Stunden vor seinem Tod in einem Schweinestall
geschlagen und auf ihn uriniert.
Doch an dem Mord selbst, begangen durch Marcel Sch., war F. nach Auffassung
der Richter nicht beteiligt: “Die Kammer konnte nicht klären, ob es unter
den Angeklagten eine Verabredung gab, Marinus zu töten”, sagte Richterin
Becher. Stets hatte Marcel Sch. die alleinige Verantwortung für den Sprung
auf den Kopf des am Boden kauernden Jungen übernommen. Das konnte auch die
Staatsanwaltschaft nicht überzeugend widerlegen.
Marcel habe die Mord-Szene aus dem Film American History X “bis zum bitteren
Ende durchspielen” wollen (s. Kasten), sagte die Richterin zum Motiv für die
Tat. Marinus musste in die Steinkante eines Schweinetrogs beißen. “Zunächst
nur, um ihm Angst einzujagen”, wie die Richterin sagte. Dann aber sprang
Marcel Sch. mit beiden Füßen — er trug stahlkappenbewehrte Springerstiefel -
auf den Kopf des Jungen. Sein Kopf wurde dabei regelrecht “auseinander
gesprengt”.
Anschließend suchten die beiden Brüder einen Stein, um Marinus den Rest zu
geben. Marcel fand einen Gasbetonstein und ließ ihn zweimal auf den Kopf des
Opfers krachen. Anschließend versenkten die Täter den Toten in einer
Jauchegrube. “Marcel wollte fühlen, wie es ist, wenn man einen Menschen
tötet”, sagte die Richterin. Marinus sei das “zufällige, aber gerade zur
Verfügung stehende Opfer gewesen”.