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Projekt Grenzgänger in Potsdam

Gun­nar Schulz sitzt vor einem Stapel Fotos, betra­chtet einzelne Auf­nah­men und blickt auf ein zer­ris­senes Land. “Israel ist für mich eine ferne, nahe Welt”, sagt Schulz über seine Lei­den­schaft für den Staat im Nahen Osten. Durch seinen Beruf hat sich die Begeis­terung von Schulz gesteigert: Er arbeit­et als Street­work­er in der “Vil­la Wild­wuchs” am Babels­berg­er Park 15 mit Jugendlichen und rief dort 2002 das Pro­jekt “Gren­zgänger” ins Leben, dass seit­dem Jugendliche aus Israel, Palästi­na und Pots­dam zusam­men­brin­gen will. 

Schulz reicht Fotos von Stät­ten in Nazareth und dem Toten Meer an Sil­vie Jet­tke herüber. Sie studiert an der Fach­hochschule Pots­dam im Bere­ich Sozial­we­sen, in der “Vil­la Wild­wuchs” absolviert sie seit Sep­tem­ber ein Prak­tikum. Warum ger­ade Israel und Palästi­na? “Die Region war mir schon immer ein Rät­sel, ich wollte Erk­lärun­gen für die Ver­bit­terung und den Hass zwis­chen den Men­schen dort”, sagt Jet­tke. Viele Büch­er hat sie über den Nahost-Kon­flikt und seine Gründe bis jet­zt gele­sen. Im näch­sten Früh­jahr zählt dies nur noch wenig. Dann erfüllt sich die 27-Jährige einen Traum: Als eine von vier Betreuern wird sie beim “Grenzgänger”-Projekt mit 18 Pots­damer Schülern ab dem 28. März 2005, dem Oster­mon­tag, für zwei Wochen in Israel und Palästi­na herum­reisen. Bis jet­zt ken­nt Sil­vie Jet­tke nur die Erzäh­lun­gen ihres Chefs, der selb­st schon fünf­mal in Israel war. 2003 gin­gen er und neun weit­ere Mit­stre­it­er in der Region zum ersten Mal auf “Grenzgänger”-Mission. In diesem Jahr reiste er noch ein­mal mit sieben Schülern, fünf Stu­den­ten und drei weit­ere Betreuern vom 15. bis zum 27. April in das Land. 

Gun­nar Schulz zeigt aus dieser Zeit ein Bild hoch, auf dem die von Gebir­gen, Tälern und Ero­sion­skratern durch­zo­gene Wüste Negev zu sehen ist. Er erin­nert sich noch genau an den jun­gen Führer, der die Gruppe aus Deutsch­land durch das trock­ene Gebi­et leit­ete. “Er erzählte uns stolz, dass er sieben Jahre als Pilot zur israelis­chen Armee möchte”, sagt Schulz. “Wir hat­ten einen Totalver­weiger­er bei uns, dass gab natür­lich heiße Diskus­sio­nen.” Es sind solche Erfahrun­gen, die Schulz den Teil­nehmern des “Grenzgänger”-Projekts ermöglichen möchte. “Die Jugendlichen kom­men immer völ­lig verän­dert wieder zurück und sehen die Welt mit anderen Augen”, sagt Schulz. 

In diesem Jahr haben sich Schüler aus dem Evan­ge­lis­chen Gym­na­si­um Her­mannswerder, vom Espen­grund-Gym­na­si­um in Babels­berg und vom Ein­stein-Gym­na­si­um in der Hege­lallee gemeldet. Damit sie nach Israel reisen kön­nen, braucht es das Ver­hand­lungs­geschick von Gun­nar Schulz. Die Jugendlichen benöti­gen eine Freis­tel­lung von der Schule, von den Eltern eine Ein­ver­ständ­nis­erk­lärung. “Natür­lich haben manche Leute die Sor­gen, ob es in Israel für ihre Kinder nicht zu gefährlich ist”, sagt Schulz. 

Doch durch den Bau der umstrit­te­nen Mauer zwis­chen Israel und den palästi­nen­sis­chen Autonomie-Gebi­eten im West­jor­dan­land scheint die Zahl der Anschläge in Israel zurück­zuge­hen. Zudem kommt nach dem Tod von PLO-Chef und Palästi­nenser-Präsi­dent Jas­sir Arafat am 11. Novem­ber ein wenig Bewe­gung in den Frieden­sprozess zwis­chen den ver­fein­de­ten Völk­ern. Die Suche nach Ver­söh­nung wollen die “Gren­zgänger” mit ihrer Reise im April unter­stützen. Schulz sagt: “Wir suchen nicht nach dem Schuldigen für den Hass, son­dern wollen die Men­schen hin­ter dem Kon­flikt zeigen.” So ist ein Tre­f­fen mit Schülern der Hope Flower Schule im palästi­nen­sis­chen Beth­le­hem geplant, ein paar Tage später wollen die “Gren­zgänger” mit israelis­chen Jugendlichen in Beit Lohamei ein Fest vor­bere­it­en. Im Mit­telpunkt ste­ht jedoch die Arbeit an Fam­i­lien­porträts. Dabei gehen jew­eils zwei Schüler zu ein­er Fam­i­lie und lassen deren Mit­glieder jew­eils einen Frage­bo­gen aus­füllen. “Wir denken, dass wir dadurch einen Ein­blick in den All­t­ag und das Ver­ständ­nis der bei­den Völk­er erhal­ten”, sagt Gun­nar Schulz. 

Diese Idee unter­stützt der inter­na­tionale Schul- und Jugendwet­tbe­werb “Frieden für Europa – Europa für den Frieden”, ein Pro­jekt des Fonds “Erin­nerung und Zukun­ft” in Träger­schaft des Vere­ins “MitOst” aus Berlin, gegrün­det von Stipen­di­at­en der Robert Bosch Stiftung. Weit­eres Geld für die “Gren­zgänger” kommt vom eige­nen Träger, dem Diakonis­chen Werk und aus Spenden. “Wir sind immer noch auf Mit­tel von außen angewiesen”, sagt Schulz. Beson­ders, weil sein Vere­in 15 israelis­che und palästi­nen­sis­che Jugendliche im kom­menden Juli nach Pots­dam holen möchte. Für Schulz würde dann ein Traum in Erfül­lung gehen, wie er betont. Zwei Wochen soll der Aus­tausch dauern. Schulz möchte die gesamte Stadt ein­beziehen, mit Podi­ums­diskus­sio­nen, Aben­den der Begeg­nun­gen, Kulturprogrammen … 

“Ger­ade in ein­er Zeit, in der sich Anti­semitismus hin­ter der dur­chaus ange­bracht­en Kri­tik an der Poli­tik von Israel ver­birgt, wollen wir die Men­schen über die Zustände dort informieren”, sagt Schulz und betra­chtet nach­den­klich die Fotos vor sich auf dem Tisch. “Manch­mal wird man sog­ar als Deutsch­er für den Kon­flikt ver­ant­wortlich gemacht”, sagt Schulz. Ein Araber habe zu ihm gesagt: “Ihr hät­tet den Holo­caust entwed­er gründlich­er aus­führen müssen oder gar nicht erst anzetteln dür­fen – dann wären die Juden in der Welt ver­streut geblieben.” Wenn er solche Erleb­nisse erzählt, wirkt Schulz rat­los. “Natür­lich wehren wir uns gegen solch­es Denken”, sagt er. 

Weit­ere Bilder wan­dern durch die Hände von Gun­nar Schulz und Sil­vie Jet­tke. Sie zeigen die alten Bauw­erke von Jerusalem, die jüdis­che Holo­caustge­denkstätte von Jad Vaschem. Schulz erzählt von Sire­nenge­heul, von dem mul­mi­gen Gefühl in einen Bus zu steigen. Und davon, dass die Real­ität in Israel den­noch viel nor­maler abläuft, als dies von den Nachricht­en über Ter­ror und Tod sug­geriert wird. Ein Beispiel ist für ihn Jerusalem als Schmelztiegel der israelis­chen Gesellschaft. “Dort gibt es so unglaubliche Gegen­sätze und Wider­sprüche, da ist es fast lach­haft, wenn wir hier in Deutsch­land von ein­er mul­ti­kul­turellen Gesellschaft sprechen.” 

Auf weit­eren Auf­nah­men sind schließlich junge Leute aus Israel zu sehen – mod­ern gek­lei­det, lachend, mit Licht in den Augen. “Bei aller Ähn­lichkeit zu Jugendlichen von hier wer­den die jun­gen Leute im Nahen Osten durch das Umfeld schneller erwach­sen”, glaubt Schulz. Sil­vie Wet­tek hat neben ihm die meiste Zeit zuge­hört, oft genickt. An ihre Reise mit den “Gren­zgängern” hat sie keine Erwartun­gen, sie fährt in die Ungewis­sheit, gemis­cht mit ein wenig Angst. Wer an der Mis­ere im Nahen Osten schuld hat, weiß sie nach all den gele­se­nen Büch­ern immer noch nicht, auch Sozialar­beit­er Gun­nar Schulz schüt­telt den Kopf: “Darüber kann man nächte­lang disku­tieren und wird doch zu kein­er Lösung kommen.”

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