Der klassische Neonazi mit Springerstiefeln und Bomberjacke verschwindet aus
dem Stadtbild von Cottbus. Kein Grund zum Aufatmen: Die rechtsextreme
Ideologie schleicht sich bei den Jugendlichen der Stadt mehr und mehr durch
die Hintertür ein, wie Sozialarbeiter und Politiker beobachten.
Schockiert zeigte sich Martina Münch, Vorsitzende des Vereins «Cottbuser
Aufbruch» , nach dem Besuch einer 10. Klasse der Sandower Realschule.
«Manche Schüler erklärten, es gäbe zu viele Ausländer in Cottbus, die uns
die Arbeit wegnehmen würden. Im gleichen Atemzug beteuerten sie, Nazis zu
verabscheuen.» Ihr pflichtet Rosemarie Effenberger vom Jugendamt bei, die
sich mit Jugendlichen der Stadt unterhielt. «Auch dort hörte ich die
Ansicht, in Cottbus würden zu viele Ausländer leben.» Dies sei ausgerechnet
nach einer Vorführung des Films «Die Frau des letzten Juden — eine
Spurensuche in Cottbus» passiert.
Tatsächlich schätzen viele junge Cottbuser den Ausländeranteil zu hoch ein.
Sabine Rack (21) sagt: «Es sind wohl um die zehn Prozent.» Alexander Deckert
(18) erklärt: «Ich nehme an, es sind 12 bis 13 Prozent.» Und Robert Ziebe
(17) glaubt: «30 bis 40 Prozent der Einwohner in Cottbus stammen aus dem
Ausland.» Konfrontiert mit den wirklichen Zahlen, reagieren sie alle
verblüfft: Nach Auskunft von Heidi Gilis, Leiterin der Statistikstelle der
Kommune, beträgt der Ausländeranteil derzeit 3,6 Prozent — die meisten von
ihnen leben in Ströbitz, in der Nähe der Brandenburgischen Technischen
Universität (BTU). Doch sie verlassen ihre gewohnte Umgebung kaum, wie
Sozialarbeiter Roman Frank beobachtet: «Man sieht sie ja höchstens mal beim
Einkaufen in der Spree Galerie.» Deshalb hält er es für nötig, dass Lehrer
ihre Schüler mit der Realität konfrontieren: «Viele Jugendliche sind sicher
ein bisschen weltfremd, weil sie zu wenig in anderen Gegenden Deutschlands
herumkommen.»
Damit nicht genug: Die Zahl rechtsradikaler Straftaten in Cottbus nimmt
weiter zu (siehe Hintergrund). So meldete Toralf Reinhardt vom
Landeskriminalamt für 2003 noch 36 Propaganda-Delikte: «2004 waren es
bereits 39.» Und das, obwohl Frank Töpfer, Sozialarbeiter in Schmellwitz,
feststellt: «Es gibt immer weniger klassische Neonazis in Cottbus.»
Wie passt beides zusammen« Nach Töpfers Worten passen sich Rechtsradikale
seit einigen Jahren in ihrem äußeren Erscheinungsbild an, sie versuchen,
weniger aufzufallen — und greifen zugleich Reizthemen auf, von denen sie
wissen, dass Familien sie beim Abendessen diskutieren. Aktuelles Beispiel:
«Hartz IV» . Als die Gewerkschaft «Verdi» im vergangenen Herbst am
Oberkirchplatz zu Demonstrationen gegen die neuen Gesetze aufrief, sprang
die Deutsche Volksunion (DVU) auf den Zug auf — mit Wahlplakaten wie
«Schnauze voll» Diesmal DVU — die Quittung für die Bonzen» . «Die rechte
Szene hat sich geändert» , urteilt Töpfer. «Das geht so weit, dass sie
Symbole verwendet, die ursprünglich aus der Antifa-Ecke kommen.» Mit
verwirrenden Folgen: Neonazis tragen Palästinensertücher, sie schmücken ihre
T‑Shirts mit Porträts des Befreiungskämpfers Che Guevara, und sie hören
Bands wie «Ton, Steine, Scherben» , als deren Managerin einst die
Grünen-Politikerin Claudia Roth arbeitete. «Ich halte dabei eine Frage für
wichtig» , erklärt Töpfer: «Handelt es sich um eine Strategie?»
Falls dies der Fall ist, muss sie nicht in jedem Fall verfangen. So
schilderten Mitglieder des Vereins «Cottbuser Aufbruch» bei ihrer Sitzung in
der vorigen Woche, wie Jugendliche am Brunschwigpark zwei ausländische
Studenten beschimpften und bis in einen benachbarten Supermarkt verfolgten.
Dort stießen die Rechtsradikalen jedoch auf klaren Widerstand: Mehrere
Kunden des Marktes protestierten lautstark gegen ihre Pöbeleien, die
Jugendlichen zogen wieder ab. Reaktion der Vereinsvorsitzenden Martina
Münch: «Das nenne ich echte Zivilcourage.»
Hintergrund Straftaten-Statistik
Für das Jahr 2004 meldet das Landeskriminalamt 60 rechts motivierte
Straftaten aus Cottbus, eine mehr als im Jahr zuvor. Im Detail heißt das:
elf Gewaltdelikte, 39 Propagandadelikte, zehn sonstige.