“Alles stockt. Ich kann nicht mehr arbeiten” , notiert der Jude Victor
Klemperer am 11. Juni 1942 in sein Tagebuch. Es ist wohl das Schlimmste, was
die Nazis dem renommierten Romanisten, Sprach- und Literaturwissenschaftler
antun konnten. Mehr als einhundert Zuhörer lauschen während der gemeinsamen
Veranstaltung mit der Akademie der Künste im Finsterwalder Kreismuseum dem
Vortrag von Walter Nowojski, dem verdienstvollen Herausgeber der Tagebücher
Klemperers.
Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören, als Nowojski aus den
Aufzeichnungen des «manischen Tagebuchschreibers» liest. «Immerhin war ich
frei, was man hier so nennt» , schildert Klemperer am 12. Januar 1942, im
«schlimmsten Jahr für die Juden in Deutschland» , seine Ängste nach einem
entwürdigenden Verhör in der Dresdner Gestapo-Zentrale. Die bedrückende
Atmosphäre ist im Zuhörerraum greifbar. Auch die vielen jungen Zuhörer sind
von dem mit authentischem Material erlebbar gemachten «normalen» Schicksal
eines Juden im nationalsozialistischen Deutschland berührt. Sie haben gerade
etliches im Deutschunterricht über Klemperer und seine einzigartige
Sprachkritik des Dritten Reiches «LTI» gehört, hier sitzt mit Nowojski einer
vor ihnen, der den renommierten Romanisten gekannt hat und dessen eigene
wissenschaftliche Arbeit «ein Leben mit Victor Klemperer» geworden ist.
Als 16-Jähriger macht der Niederlausitzer Walter Nowojski in einer
Senftenberger Buchhandlung die Bekanntschaft mit «LTI» . Das Buch lässt ihn
nicht mehr los. «Ich habe erst bei der Lektüre begriffen, wie wir mit
zynischen und verlogenen Vokabeln wie ‚fanatischer Kampf , ‚arteigen oder
‚Rassenschande groß geworden sind und sie gedankenlos verwendet haben.
Klemperer hat uns den Weg frei gemacht für ein besseres Denken.»
Deshalb gehört Nowojski zu denen, die Klemperers Vorlesungen in Berlin 1952
begeistert erleben. «Ihr Jungen seid die einzigen, die unschuldig sind» ,
vermittelt Klemperer der neuen Wissenschaftler-Generation ein humanistisches
Weltbild und sitzt damit «Zwischen allen Stühlen» . In der DDR gerät er
wegen seiner Geradlinigkeit in Schwierigkeiten und im Westen wird er
gemieden, weil er als bürgerlicher Wissenschaftler in der DDR bleibt. «Ein
solcher Lehrer hinterlässt Spuren.»
Und was für welche bei Nowojski! Als er 1978 von dem riesigen
handschriftlichen Nachlass Klemperers erfährt, ist er nicht zu halten. Er
erhält die Erlaubnis, das Material zu sichten, kämpft sich jahrelang durch
tausende Tagebuchseiten in zum Teil kaum lesbarer Handschrift, erstreitet
die Genehmigung zur Veröffentlichung beim Aufbau-Verlag. Als es soweit ist,
gibt es die DDR nicht mehr und Nowojski bangt um seine Leser. Aber es wurde
«der schönste Irrtum meines Lebens» , die Tagebücher avancieren zum riesigen
Erfolg. Klemperer wurde postum zum Star, auch durch den mehrteiligen
Fernsehfilm.
«Ich zitterte um mein Tagebuch» , schreibt Klemperer nach einer Durchsuchung
im Judenhaus, in dem die Klemperers leben mussten. Die Zuhörer im Museum
lassen sich von den Tagebuchnotizen Klemperers in den Bann ziehen, sie
spüren, welch ein Gewinn die Tagebücher für die deutsche
Geschichtsschreibung sind. 153 Juden von 4500 leben 1945 noch in Dresden.
Klemperer muss den meisten von ihnen am 13. Februar 1945 Briefe mit dem
Befehl zum Abtransport überbringen. Klemperers Beschreibungen machen die
schlimme Situation nacherlebbar. Ironie der Geschichte: Der Brief rettete
die meisten von ihnen vor dem Bombenhagel Stunden später auf die Stadt.
Die Zuhörer erfahren an diesem Abend viel aus dem Leben eines Juden, der
kein Held sein wollte, und vom Schicksal der Juden in Dresden. Das lässt den
1931 in Annahütte geborenen Germanisten Walter Nowojski nicht los. 320
Leidensgefährten von Klemperer spürt er seit Jahren nach, hat schon etliche
Schicksale öffentlich machen können.
Museumsleiter Dr. Rainer Ernst freut sich auf die Mitarbeit Nowojskis an dem
Finsterwalder KulturLand-Projekt «Juden in der Niederlausitz» , das am 9.
November im Kreismuseum mit einer großen Ausstellung eröffnet wird.