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Sein Schwert ist sein Schicksal

BIRMINGHAM Das Schloss müsste mal geölt wer­den. Es knar­rt wie bei einem
alten Burgver­lies. Die Tür öffnet sich mit einem Ruck. Im Gang warten
Pflegerin Cathy und Noel Mar­tin, eines der bekan­ntesten Opfer rechter
Schläger in Brandenburg. 

Seit fast neun Jahren ist der 45-Jährige vom Hals abwärts gelähmt — nach
ein­er sinnlosen Attacke durch zwei Neon­azis im bran­den­bur­gis­chen Mahlow am
16. Juni 1996. 

Reporterbe­suche hat­te er sei­ther viele. Er macht keine lan­gen Umschweife
mehr. “Hal­lo”, sagt er. “Mir geht es nicht gut. Vielle­icht werde ich bald
sterben.” 

Es ist ein Wieder­se­hen nach sieben Jahren. Damals gab er der MAZ ein langes
Inter­view über das Leben mit der furcht­baren Ver­let­zung, die seinen Körper
zu seinem Kerk­er gemacht hat. 

Wir haben zwei Stun­den Zeit, dann ist Pfer­deren­nen im Fernse­hen. Auf die
alte Lei­den­schaft aus seinem früheren Leben will er auch heute unter keinen
Umstän­den verzicht­en. “Es ist das Ren­nen in Sun­dawn. Wenn Sie beim Start
noch da sind, läuft das Fernse­hen neben­bei”, sagt er. “Ich weiß, welches
Pferd auf hartem Boden gut läuft, und welch­es lieber weichen Boden mag.”
Früher, in seinem ersten Leben, hat er gute Gewinne gemacht an den
Wettschal­tern. Heute zockt er kaum noch. “Du brauchst nicht nur Wis­sen. Du
brauchst auch viel Gefühl. Wer nichts mehr spürt, kann Pferde nicht
ein­schätzen.” Er ist härter gewor­den in diesen sieben Jahren. 

Neun Pfleger ver­sor­gen ihn Tag und Nacht. Noel Mar­tin dirigiert sie
rou­tiniert. Er braucht Cathy für jeden Zug an der Zigarette, zum Umblättern
der Zeitung, für jeden Schluck und jeden Bis­sen, den er zu sich nimmt. Nur
wenige Helfer wer­den zu Ver­traut­en. “Sie kom­men und gehen. In den letzten
drei Monat­en hat­te ich fünf neue Leute. Jedem muss ich alles wieder aufs
Neue erk­lären. Man wird darüber zum Papagei.” 

Vor sieben Jahren kon­nte man an den kräfti­gen Schul­tern noch den einst
begeis­terten Sportler ahnen. Inzwis­chen sind die Schul­tern schmal, die Arme
dünn geworden.. 

Sein rotes Ziegel­haus im britis­chen Birm­ing­ham ist seine Burg. Die meiste
Zeit ver­bringt er hier im Wohnz­im­mer neben dem Kamin. Von hier aus
tele­foniert er mit ein­er Mikro­fo­nan­lage, empfängt Besuche, betra­chtet die
Welt draußen im Fernse­hen. Ins Freie kann er nur im Som­mer, wenn es warm
ist, weil son­st seine Kör­pertem­per­atur rapi­de fällt. 

Damals, vor sieben Jahren war seine Frau Jack­ie an sein­er Seite. Eine
rot­blonde Frau mit fre­undlichem Lächeln und zupack­en­dem Wesen. Sie eine
Weiße, er ein Schwarz­er, hat­ten schon so manche Anfein­dung zusammen
durchge­s­tanden. Nach dem Angriff von Mahlow woll­ten sie sein zweites Leben
so lebenswert wie möglich gestal­ten. Sie stärk­te ihm den Rück­en, als mit
einem Schlag vor­bei war, was für ihn früher das Leben aus­machte: Arbeiten,
Laufen, Reit­en, Reisen, Tanzen, Fre­unde treffen. 

Jack­ies Grab liegt im Garten 

Dann kam im April 2000 der näch­ste harte Schlag: Jack­ie starb an Krebs. “Mit
ihr habe ich den Schlüs­sel zum Glück ver­loren”, sagt er. 

In seinem ersten Leben war er ein­er, der viele Fre­unde hat­te, der die Frauen
liebte. Seine Kol­le­gen benei­de­ten ihn um seine Fre­undin­nen und später um
seine Frau. Heute freut er sich, wenn ihm jemand ein­fach nur zuhört. Frauen
ver­ab­schieden sich dann meist mit einem Kuss auf die Wange, so kann er sie
wenig­stens ein biss­chen spüren. 

Jack­ie hat er bei sich behal­ten. Ihr Grab liegt im Garten seines Haus­es. Vom
Wohnz­im­mer aus kann er sie immer sehen. Seine Liebe­serk­lärung hat er in die
Grab­mauer meißeln lassen. Ein Glock­en­spiel bim­melt darüber. Noel Martin
lächelt, wenn er an sie denkt. “Sie bekommt jede Woche Blu­men. Manchmal
glaube ich, dass sie um mich ist.” 

Seit ihrem Tod kämpft er um so ver­bis­sener gegen innere und äußere Dämonen.
Dreimal im Jahr springt ihn gren­zen­lose Ein­samkeit an wie ein wildes Tier:
An Wei­h­nacht­en, an Jack­ies Todestag, dem 12. April und am 16. Juni, dem Tag,
an dem ihn die Neon­azis zum Krüp­pel machten. 

Er braucht dann Wochen, um das zu über­winden. Dann konzen­tri­ert er sich
wieder auf das Böse da draußen und macht mobil gegen Frem­den­hass. Sein
Schw­ert ist sein eigenes Schick­sal. Am eige­nen Beispiel will er jedem
zeigen, wohin Ras­sis­mus führt. Sein Schild sind ein­fache Lebensweisheiten,
kon­se­quent umge­set­zt: “Jed­er sollte für die anderen ein Trittstein sein,
damit sie, von Stein zu Stein, den Fluss des Lebens über­queren kön­nen. Ich
will ein Trittstein für viele sein, die den Hass überwinden.” 

2001 kehrte er im Roll­stuhl nach Mahlow zurück, an den Ort, an dem ihm das
schlimm­ste Unrecht seines Lebens zuge­fügt wurde. Er war beseelt vom
Gedanken, den Nazis zu zeigen, dass er noch da war. Tausende hat er damals
beein­druckt, weil er so klar über seine Lage reden kann. Weil er so schwer
getrof­fen wurde und trotz­dem für eine gute Sache kämpft. “Ich habe den
Rassen­hass ken­nen gel­ernt, seit ich hier in Eng­land zur Schule ging. Ich
habe mich immer gewehrt: gegen frem­den­feindliche Mitschüler, Lehrer und
Polizis­ten. Ich bin schwarz und stolz darauf, das habe ich immer allen
gezeigt. Das wird so bleiben”, sagt er. Er saß bei Beck­mann in der Talkshow,
wurde vom Sänger Mar­ius Müller-West­ern­hagen und vom Fußball­train­ers Mathias
Sam­mer unter­stützt. Er plädierte vor laufend­en Kam­eras für Tol­er­anz und
gegen Gewalt. Und wenn Reporter nach­fragten, ob er alle Deutschen hasse,
erk­lärte er kühl, dass es Ras­sis­mus über­all gebe. Und dass ihm viele
Deutschen ihr Mit­ge­fühl zeigten. 

Mit dem “Jacque­line und Noel Mar­tin-Fonds” sam­melt er Geld, um Jugendliche
aus Mahlow nach Eng­land zu holen. “Viele von ihnen haben Fre­unde, die rechts
sind. Wenn sie mich besucht haben, ver­ste­hen sie den Hass ihrer Freunde
nicht mehr. Sie fra­gen sich, wohin das führt”, sagt er. In diesem Jahr soll
eine Gruppe aus Mahlow kom­men. Ein Gegenbe­such englis­ch­er Schüler ist
geplant. Doch dafür fehlt bis­lang das Geld. * 

“Meine let­zte Frei­heit ist der Tod” 

D ie Täter von damals sind heute frei. Sie inter­essieren ihn nicht mehr.
“Das Leben wird sich um sie küm­mern”, meint er. “Sie wer­den Familien
grün­den. Vielle­icht ver­lieben sich ihre Kinder in Schwarze. Was sie dazu
wohl sagen wür­den? Diese Idee gefällt mir”, lacht er. 

Mit Jack­ie zusam­men hat­te er einst beschlossen, sich zehn Jahre auf das
Leben mit der Läh­mung einzu­lassen. “Damals war ich noch nicht bere­it zu
ster­ben. Jet­zt bin ich es”, sagt er. Und hofft, alles selb­st in der Hand zu
behal­ten. “Meine let­zte Frei­heit ist mein Tod: Ein Verzicht auf eine
leben­sret­tende Oper­a­tion, auf eine Blut­trans­fu­sion, schon kann es vorbei
sein. Ich entschei­de, wenn es so weit ist und gehe.” 

Angst vorm Ster­ben? “Ich habe Angst vorm Leben. Vor ein­er Welt voller Gewalt
und Hass. Und davor, dass ich nur noch vor mich hin vegetiere.” 

Aber er wäre nicht Noel Mar­tin, wenn er nicht doch noch einen Traum hätte:
“Ich wollte immer schon mal ein Jahr in Jamai­ka leben, der alten Heimat
mein­er Eltern. Um mich herum nur grüne Natur. Und nichts und nie­mand soll
mich dann zu etwas zwin­gen. Frei­heit? Vielle­icht gibt es das für mich im
näch­sten Leben.” 

*Wer spenden will: Der Jacque­line und Noel Mar­tin-Fonds wird vom Großen
Waisen­haus zu Pots­dam verwaltet. 

Kon­to: MBS Potsdam 

BLZ: 16050000 

Kon­to: 3502000580 

Ken­nwort Noel Martin

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