Orazio Giamblanco wurde 1996 von einem Nazi fast totgeprügelt. Langsam geht
es ihm besser. In diesem Jahr war er zu Besuch in der Heimat
(Tagesspiegel, Frank Jansen) Der Fortschritt wirkt winzig und hat doch eine enorme Wirkung. Orazio
Giamblanco kann an seinem linken Fuß die Zehen wieder bewegen. Kurz vor und
zurück. Das kostet Kraft, der Italiener würde die Zehengymnastik kaum länger
als ein, zwei Minuten durchhalten. Aber nach sieben Jahren mit einem tauben,
verbogenen Fuß kann Giamblanco spüren, dass seine linken Zehen ihm etwas
besseren Halt geben. Dass er mit seinen Krücken stabiler steht und sicherer
im Krebsgang weiterkommt.
Giamblanco lächelt, “geht schon besser”. Er sitzt auf einer hydraulischen
Liege im Klinikum Bielefeld, ein junger Physiotherapeut knetet den Fuß,
drückt auf Sehnen, massiert die Fußsohle mit einer grauen, elektrischen
Gumminoppenbürste. “Das ist ein Vibramat”, sagt Heiko Seibt, der junge, groß
gewachsene Mann im weißen Kittel. Das Gerät surrt, scheint aber Giamblanco
nicht zu kitzeln. So weit ist der Fuß noch nicht. Doch der Therapeut ist
zufrieden. “Allein das aktive Zehenheben ist klasse.” Giamblanco lächelt
stumm. Zum Sprechen reicht die Kraft jetzt nicht mehr.
Vor sieben Jahren gab es keinen Arzt oder Therapeuten, der dem Italiener
“aktives Zehenheben” oder gar einen Gang an Krücken zugetraut hätte. Ende
1996 war Giamblanco weitgehend gelähmt. Er konnte kaum reden, litt unter
Kopfschmerzen, Alpträumen, Depressionen. Es war schon ein Wunder, dass er
überhaupt noch lebte — nachdem knapp drei Monate zuvor, am 30. September, in
der Kleinstadt Trebbin ein Skinhead zugeschlagen hatte. Mit seiner
Baseballkeule traf er Giamblanco am Kopf. In einer Notoperation retteten die
Ärzte im Krankenhaus Luckenwalde das Leben des Hilfsbauarbeiters, der erst
wenige Tage zuvor aus Bielefeld nach Brandenburg gereist war. Und ahnungslos
jungen Rechtsextremisten in die Arme lief.
Die spastische Lähmung wird für immer bleiben. Giamblanco, heute 62 Jahre
alt, wird auch nie wieder normal sprechen können. Und er ist für den Rest
seines Lebens traumatisiert. Aber Giamblanco hat in den sieben Jahren seinem
Körper — und der Psyche — viele kleine Fortschritte abgerungen. Er kann
inzwischen alleine essen, die Toilette aufsuchen und seit 2002 mit einem
Elektrorollstuhl in der näheren Umgebung herumfahren. Der Tagesspiegel hat
jedes Jahr berichtet. Giamblancos größter Erfolg ist eine Reise in die alte,
zuletzt in den achtziger Jahren besuchte Heimat Sizilien. Zusammen mit
seiner griechischen Lebensgefährtin, der zierlichen, 53 Jahre alten Angelica
Berdes und ihrer 29-jährigen Tochter Efthimia hat er sich im vergangenen
Juni diesen Traum erfüllt. Den er trotz der Behinderung und der Skepsis von
Verwandten und Bekannten nie aufgegeben hat.
Schon der erste sizilianische Luftzug beflügelt. Als Giamblanco am Mittag
des 22. Juni aus dem Flugzeug tritt und oben von der Gangway die Hügel rings
um Catania sieht, ruckt er nach vorne. Anstatt auf einen vom Flughafen
bestellten Pfleger zu warten, der ihn die Treppe hinunterbegleitet, wagt
sich Giamblanco selbst an die 17 Stufen. Nein, er will keine Hilfe; der
Protest von Angelica Berdes wird ignoriert. Ängstlich, aber auch erstaunt
beobachten Berdes und ihre Tochter, wie ihr Orazio zum ersten Mal seit jenem
September 1996 aus eigener Kraft eine längere Treppe bewältigt. Unten
angekommen, nuschelt Giamblanco lächelnd sein “geht schon”. Die Reise in die
Heimat hat bereits in den Minuten nach der Ankunft gewirkt.
Den Flug, das Hotel und zwei Mietwagen hat ein Berliner organisiert. Der
Stahl-Manager Ulrich Siegers las im Dezember 2001 eine Reportage über
Giamblanco. Das Schlusswort war dessen Wunsch, noch einmal nach Sizilien zu
kommen. “Da hab ich mir gedacht: Das muss ich machen”, sagt Siegers, “ich
hab die Zeit, ich hab das Geld, ich hab die Freiflüge.” Und er hat eine
eigene leidvolle Erfahrung, die für Giamblancos Schicksal sensibilisiert.
Siegers Frau wurde 1978 in London von einem Bus angefahren und ist schwer
behindert. Viel mehr möchte der 60-Jährige über sich und seine Familie nicht
in der Zeitung lesen. Er hebt Giamblanco aus dem Rollstuhl und in den Wagen,
er hält Angelica Berdes die Tür auf, er setzt sich ans Steuer und braust
hochtourig los.
Siegers hat sich auch nicht entmutigen lassen, als der erste Reiseversuch im
letzten Moment scheiterte. Mitte März 2002 stand er schon am Flughafen
Hannover, doch Giamblanco kam nicht. Die gewaltige Freude auf das
Wiedersehen mit Sizilien brachte seine fragile Psyche durcheinander. Auf der
Taxifahrt von Bielefeld zum Flughafen musste sich Giamblanco so oft
übergeben, dass Angelica Berdes entschied: zurück. Danach lag Giamblanco
weinend im Bett, tagelang. Die Baseballkeule hatte wieder einmal getroffen,
Jahre nach der Tatnacht in Trebbin.
Es gelingt Giamblanco erst im Juni 2003, an den Ort zu kommen, den er
unbedingt sehen wollte: Agira, seine alte Heimatstadt, in der auch die
Eltern begraben sind. Auf einer sonnenverbrannten steilen Bergkuppe kleben
die Häuser eng aneinander, überragt von einer wuchtigen Kirche und einer
Burg.
Der Friedhof befindet sich auf einem hügeligen Ausläufer, da will Giamblanco
hin. In der Mittagshitze steigt er, gestützt von Angelica Berdes, die Stufen
zu dem Totenhaus hinauf. Im Halbdunkel sind mehr als 200 Fächer zu erkennen,
versiegelt mit Marmorplatten. Auf einer steht “Manetto Filippa”, daneben
prangt das ovale Schwarz- weiß-Foto einer alten Frau mit streng
zurückgekämmten Haaren. Giamblanco flüstert “Mamma”, führt langsam die
rechte Hand an die Lippen und drückt einen Kuss auf die Fingerspitzen. Dann
streckt er den Arm aus, die Hand berührt das Foto. Links daneben liegt der
Vater Salvatore. Auch sein Foto berührt Orazio Giamblanco mit den
angefeuchteten Fingerspitzen. Angelica und Efthimia Berdes schauen zu. Und
achten darauf, dass Giamblanco, der sich leicht schwankend auf nur eine
Krücke stützt, das Gleichgewicht hält.
Neben diesem Höhepunkt hat die Reise allerdings auch heikle Momente. Der
große Clan, aus dem Giamblanco stammt, interessierte sich nicht allzu sehr
für das Schicksal des Verwandten aus Bielefeld, obwohl auch das italienische
Fernsehen und sizilianische Zeitungen über den rechtsextremen Angriff von
Trebbin berichtet hatten. Die Verwandtschaft nahm Orazio Giamblanco übel,
dass er sich von seiner ebenfalls aus Agira stammenden Ehefrau getrennt und
mit einer Ausländerin, der Griechin Berdes, zusammengetan hatte. Bittere
Ironie: Das Opfer rassistischer Gewalt bekam auch in der eigenen Familie
fremdenfeindliche Ressentiments zu spüren.
So reagieren Giamblancos Brüder Francesco und Giuseppe, tief gebräunte derbe
Mannsbilder, etwas verlegen, als sie nach vielen Jahren Orazio wiedersehen -
mit Krücken. Doch die Frauen des Clans und die Kinder begegnen Giamblanco,
Angelica Berdes und ihrer Tochter herzlich und offenbar ohne Vorbehalte. In
einem schmalen Haus im engen Dörfchen Gagliano Castelferrato wird üppig
aufgetischt und stundenlang in einem italienisch-deutsch-griechischen
Mischmasch aufeinander eingeredet. Am Schluss jedoch, als Angelica und
Efthimia Berdes mit viel Geschick Giamblanco in den Mietwagen bugsieren, ist
der Clan ganz still. Im Halbkreis stehen die sonst so lebhaften Sizilianer
um das Auto herum. Die Mienen verraten eine etwas verschämte Bewunderung für
die Mühe der Griechinnen. Es scheint, als seien die beiden jetzt anerkannt.
Die Reise hat auch bei Orazio Giamblanco ein kleines Wunder bewirkt. “Er ist
seit Sizilien viel ruhiger”, sagt Angelica Berdes im Dezember in Bielefeld,
die Depressionen hätten nachgelassen. Nur am Jahrestag de
s Überfalls, am 30.
September, “hat Orazio wieder geweint, egal, was man gesagt hat”. Giamblanco
hebt die rechte Hand und murmelt, “viele Tage denke ich für mich alleine,
warum ist das geschehen?” Stille. Angelica Berdes und die Tochter schauen
sich an. Sie verstehen und leiden mit. Die Baseballkeule trifft auch die
beiden Frauen.
Angelica Berdes hatte nach dem “Unfall”, wie sie den Angriff nennt, ihren
Fabrikjob aufgegeben. Die anstrengende Pflege fordert einen hohen Preis -
die Griechin leidet unter Rückenschmerzen und Bluthochdruck und sucht seit
Jahren regelmäßig einen Psychiater auf. Tochter Efthimia scheint robust, hat
aber auch viel einstecken müssen. Sie sah sich gezwungen, nach dem Überfall
auf Giamblanco ihre Lehre als Friseurin abzubrechen, weil ihr Chef kein
Verständnis für die unvermeidlichen, pflegebedingten Fehlstunden hatte. Nach
jahrelanger Arbeitslosigkeit hat Efthimia Berdes nun einen festen Job in
einer Schokoladenfabrik — meistens sieben Tage die Woche, im
Dreischichtsystem. Die junge Griechin braucht jeden Cent, um sich die teure
Wohnung leisten zu können, die sie dem hilfebedürftigen Giamblanco und ihrer
oft überforderten Mutter zuliebe im selben Haus gemietet hat.
Und der Täter? Jan W. verbüßt 15 Jahre Haft. Das Landgericht Potsdam wertete
im Prozess 1997 den Angriff auf Giamblanco als versuchten Mord. Inzwischen
hat W. sich von der rechten Szene getrennt und sogar ein paar ehemalige
“Kameraden”, die in der Tatnacht ebenfalls Italiener attackiert hatten,
belastet. Die einstigen Kumpane kamen allerdings 2002 und in diesem Jahr mit
milden Strafen davon. Jan W., heute 29 Jahre alt, hat sich auch öffentlich
von Gewalt distanziert und sein Heldenimage in der Szene demontiert. Doch
das enorme Medieninteresse im letzten Jahr irritiert ihn auch. “Ich will
nicht der Vorzeige-Aussteiger Brandenburgs sein”, sagt er heute und will in
keinem Film und keiner Zeitung mehr erscheinen. Eines aber ist ihm wichtig:
“Ich hoffe, dass die Reise nach Sizilien Herrn Giamblanco viel Kraft gegeben
hat.” Und: “Was damals in Trebbin passiert ist, tut mir unendlich leid.”
Der Vibramat surrt nochmal an der Fußsohle entlang. Dann fordert der
Physiotherapeut Giamblanco auf, sich alleine zu erheben. Der Italiener
presst die Hände auf die Liege und winkelt die Arme an. Ächzend kommt er
hoch, der Kopf wird rot. Giamblanco steht. Nach vorne gebeugt, wacklig.
Therapeut Seibt stützt ihn. Schließlich schafft es Giamblanco, an nur einer
Krücke langsam aus dem Behandlungszimmer zu gehen, hinaus zum
Elektrorollstuhl. Er sinkt hinein und lächelt hintergründig. “Wir fahren
nochmal nach Sizilien”, sagt Giamblanco, als wolle er nur einen Scherz
machen. Dann nickt er. “Geht schon.”