(Tagesspiegel) Potsdam — Nach Zusammenstößen rechtsextremistischer und linksgerichteter
Jugendlicher in Potsdam sind bis Donnerstagnachmittag vier Verdächtige
in Untersuchungshaft gekommen. Darunter sind drei Rechtsextreme und ein
Linker. Die Gewaltspirale hatte sich in den vergangenen Wochen weiter
nach oben gedreht. Bildungsstaatssekretär Martin Gorholt sagte, die
Gewalttaten belegten, dass der Rechtsextremismus die „eigentliche
Bedrohung“ im Land sei.
Bisheriger Höhepunkt der gewalttätigen Auseinandersetzungen war der
brutale Übergriff von circa 15 Rechtsextremisten am Sonntag. Sie
stoppten eine Straßenbahn per Notbremse, sprangen heraus und schlugen
zwei junge Männer auf der Straße mit Flaschen und traten ihnen gegen die
Köpfe. Nach Angaben des Sprechers der Staatsanwaltschaft Potsdam, Jörg
Wagner, wurden sechs Haftbefehle gegen die Neonazis außer Vollzug
gesetzt. Unter den Beschuldigten seien auch Berliner. Die Gewalttat
könnte ein Racheakt für eine Attacke von Linken gewesen sein, bei der
vor gut zwei Wochen ein rechtsextremer Jugendlicher in der Potsdamer
Innenstadt niedergeschlagen worden war. Von den Haftbefehlen gegen die
Linken seien drei außer Vollzug gesetzt worden, sagte Wagner.
Die Staatsanwaltschaft ermittele wegen des Verdachts des „versuchten
Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung“, sagte der Sprecher.
Der Haftrichter hatte die Haftbefehle nur wegen des Verdachts der
„gefährlichen Körperverletzung“ ausgestellt. Nach dem Angriff der Linken
waren Wagner zufolge Haftbefehle wegen „versuchten Mordes“ ergangen.
Diese unterschiedliche Einstufung hatte Oberbürgermeister Jann Jakobs
(SPD) kritisiert. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Straftaten
von rechten und linken Jugendlichen mit zweierlei Maß beurteilt würden.
In Potsdam müsse „alles getan werden, damit die Gewaltaktionen nicht
weitergehen“, verlangten Politiker am Donnerstag. ddp
Linke und rechte Szene mit Haftbefehlen lahmgelegt
Nach Übergriffen: Umfangreiche Ermittlungen der Polizei / Durchsuchungen von Wohnungen in Berlin und Potsdam
(PNN) Im Zusammenhang mit den rechten und linken Übergriffen in Potsdam sind die Ermittlungen weit umfangreicher als bisher bekannt. Außerdem hat die Potsdamer Polizei ihre Präsenz in der Stadt noch einmal verstärkt. Seit dieser Woche sind auch 30 Beamte einer Sondereinheit aus anderen Schutzbereichen in Potsdam eingesetzt (siehe Kasten).
Wie erst gestern bekannt geworden ist, führt auch das Landeskriminalamt Berlin Ermittlungen gegen 15 Potsdamer und Berliner Linke, die am 1. Juni auf dem Berliner Ostbahnhof fünf Rechtsradikale überfallen haben sollen. Im Zusammenhang mit der Tat standen auch die vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten angeordneten Durchsuchungen von acht Wohnungen in Berlin und von einem Wohnprojekt in Potsdam am Mittwoch. Dabei waren zunächst neun Beschuldigte im Alter zwischen 18 und 34 Jahren vorübergehend festgenommen worden, darunter zwei Frauen, wie die Berliner Polizei gestern bestätigte. Inzwischen sind sie wieder auf freien Fuß. Unter den Tatbeschuldigten ist auch e mindestens eine Frau aus Potsdam.
Der Überfall vom Berliner Ostbahnhof steht in direktem Zusammenhang mit der Serie von gewalttätigen Übergriffen rechter und linker Gruppen in Potsdam. Denn der Überfall fand am Abend des ersten Tages des Prozesses statt, in dem der Überfall von Rechten auf das alternative Wohnprojekt Chamäleon in Potsdam in der Neujahrsnacht 2003 verhandelt worden war.
„Wir waren gewarnt, dass es an diesem Tag in Potsdam zu Auseinandersetzungen beider Lager kommen könnte“, hieß es gestern bei der Polizei in Potsdam. So hätte die Antifa im Vorfeld im Internet zum „Rechtenfressen“ aufgerufen. In Potsdam, wohin Rechte und Linke zum Prozessauftakt auch aus Berlin angereist waren, sei die Polizei entsprechend präsent gewesen. In Berlin seien diese Gruppen dann ungeschützt aufeinander getroffen. Die Rechten hatten zuvor in Potsdam im und vor dem Gericht provoziert.
In dem Prozess war ein Rechtsradikaler zu einer Haftstrafe, ein zweiter zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.
Zwei Wochen nach Prozessende hatten dann in der Nacht zum 19. Juni fünf Linke vor dem Café Heider einen rechtsradikalen, polizeibekannten Jugendlichen gejagt und brutal niedergeschlagen.
Das damalige Opfer war wiederum beteiligt, als am vergangenen Wochenende fünfzehn Rechte aus Berlin und Potsdam in den frühen Morgenstunden eine Tram mit einer Notbremsung stoppten und dann innerhalb von zwei Minuten zwei offensichtlich Linke überfielen, mit Flaschen niederschlugen und teils schwer verletzten.
Durch die gegenseitigen Übergriffe ist die radikale linke und rechte Szene Potsdams derzeit fast komplett lahm gelegt: 20 Haftbefehle sind verkündet worden. Fünf gegen Linke wegen „versuchten Mordes“ – eine Frau und ein Mann, der gestern dem Haftrichter vorgeführt worden war, sitzen in Haft. Die anderen drei Haftbefehle gegen Tatverdächtige sind gegen Kaution (10 000 bzw. 60 000 Euro) und gegen strenge Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt.
Von den als gewaltbereit eingestuften Rechten sitzen derzeit vier in Untersuchungshaft. Darunter auch der Täter, der im so genannten Chamäleon-Prozess noch zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Trockener Kommentar eines Ermittlers: „Mit dem Überfall vom Wochenende hat er offensichtlich gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen.“
Wegen des Überfalls vom Wochenende wurden noch sechs weiteren Rechten aus Berlin und Potsdam die Haftbefehle verkündet. Diese sind ebenfalls gegen Kautionen von bis zu 60 000 Euro und Meldeauflagen (drei- bis siebenmal wöchentlich) außer Vollzug gesetzt.
Es sei trotz der linken Übergriffe noch immer so, dass die Rechten das eindeutig größere Gewalt- und Bedrohungspotential hätte, sagte gestern ein Staatsschutzexperte den PNN.
Beide Szenen, so ein Ermittler gestern, seien „quasi derzeit nicht mehr richtig Handlungsfähig“. Zumal die eigens gegründete Sonderkommission „Potsdam“ nach der Straftaten der vergangenen Wochen auf Repression und deutlich verstärkte Präsenz setzt.
Unterdessen versucht die Stadt zusammen mit der Polizei über den Beirat zur Umsetzung des „Aktionsplanes für Toleranz und Demokratie“ den Konflikt in der Griff zu bekommen. Zumindest in die linke Szene könne man über Mittelsleute indirekt wirken. Bestimmte Gruppierungen seien zum Dialog bereit. Illusionen macht man sich jedoch auch nicht: „An die Radikalen kommen wir nicht heran, die erreichen wir nicht“, sagte gestern ein Mitglied des Aktionsbündnisses. Aber im Gegensatz zu den Rechten kommen man an die linke Szene wenigstens noch heran. „Zu den Rechten haben wir keinen Kontakt, da gibt es keine Ansprechpartner, nichts.“
Neu sei an den Straftaten der letzten Wochen, dass auch Frauen als Initiatoren und Gewalttäterinnen aufgetreten sind, so ein Ermittler.
Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) betonte gestern, in Potsdam träfen ein „zahlen- und mentalitätsmäßig gefährliches Konflikt- und Gewaltpotenzial aufeinander“. Er lobte die Potsdamer Polizei für ihre Besonnenheit und Entschlossenheit. Er begrüßte ferner die von der Stadt Potsdam getroffenen präventiven Maßnahmen, um die Gewalt einzudämmen.
Neun Haftbefehle nach Überfall von Rechtsradikalen
(TAZ) Potsdam — Nach dem Überfall von etwa 15 re
chtsgerichteten Jugendlichen
auf zwei Angehörige der linken Szene in Potsdam sind bislang neun
Haftbefehle wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung erlassen
worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt jedoch weiterhin wegen des
Verdachts des versuchten Mordes, teilte die Behörde gestern mit. Drei
junge Männer seien in Untersuchungshaft genommen, sechs Haftbefehle
außer Vollzug gesetzt worden. In der Nacht zum Sonntag sollen die Männer
die 24 und 25 Jahre alten Opfer überfallen und verletzt haben. Es
handelte sich möglicherweise um eine Racheaktion.
Gewaltsame Kette von Racheakten
Weitere Inhaftierungen linker und rechter mutmaßlicher Gewalttäter
(MAZ) Die Gewalt zwischen linken und rechten Gruppen in Potsdam ist immer offenkundiger eine Kette von Racheakten. Wie die MAZ erfuhr, ist gestern ein linker Tatverdächtiger inhaftiert worden, der selbst schon Opfer rechter Gewalt war: Der 20jährige Patrick B. stellte sich am Mittwochabend in Begleitung seines Anwalts und wurde am folgenden Morgen vom Ermittlungsrichter in Untersuchungshaft geschickt.
Die Polizei hatte ihn schon am 30. Juni im linksalternativen Wohnprojekt an der Zeppelinstraße verhaften wollen und dazu 30 Beamte aufgeboten. Der Gesuchte aber war nicht da; fortan wurde nach ihm gefahndet als Mittäter beim linken Angriff auf einen rechten Jugendlichen am 19. Juni am Café Heider. Fünf Haftbefehle hatte die Polizei nach dieser Tat bei der Staatsanwaltschaft beantragt, der Vorwurf beider Behörden lautete “schwere Körperverletzung”. Das Amtsgericht verschärfte das auf “versuchten Mord”, ließ von vier Festgenommenen aber drei laufen, weil keine Fluchtgefahr bestand. In Haft sitzt noch eine junge Frau, die Chefin des linken Vereins “Chamäleon”.
Der linksgerichtete Patrick B. war im März 2003 als damals 17-jähriger Auszubildender am Bahnhof Rehbrücke von mehreren Rechtsgesinnten schwer verprügelt worden, offenbar mit einem Teleskopschlagstock oder Totschläger, wie er auch jüngst am Café Heider benutzt wurde. Dann schubste man ihn schwer verletzt auf die Eisenbahngleise. Dass er noch lebt, ist nur einer Zugverspätung zu verdanken. Ende April 2005 war für diese Tat der zur rechten Szene Potsdams gehörende Heiko G. mit zehn Monaten Gefängnis bestraft worden, nachdem er erst im Februar zu sechs Jahren verurteilt worden war
Bislang galt der Anschlag einer Gruppe Rechter auf das linksalternative, innenstädtische Chamäleon-Projekt aus der Neujahrsnacht 2002/03 als Auslöser der jetzigen Konflikte. Für diesen Angriff verhängte das Amtsgericht Mitte Juni 2005 gegen zwei Täter eine Haft- beziehungsweise Bewährungsstrafe. An drei Prozesstagen reisten jeweils rund 50 Rechtsgesinnte an und bedrohten Zuschauer und Zeugen. Zuvor hatten linke Antifa-Gruppen gegen die Rechten mobil gemacht. Es folgten der linke Angriff auf einen Rechten am Heider und am Morgen des 3. Juli der Überfall von etwa 15 mutmaßlich Rechten auf einen Linken und dessen Freund unweit davon. In dem Fall sind zehn Verdächtige ermittelt, darunter sieben, die laut Ermittlern den harten rechten Kern in Potsdam bilden. Drei stellten sich am Dienstag selbst und kamen in U‑Haft. Vorwurf: schwere Körperverletzung, obwohl Polizei und Staatsanwaltschaft wegen versuchten Mordes ermitteln. Einen vierten sperrte man Mittwochfrüh ein: Michael G., der im Chamäleon-Prozess die Bewährungsstrafe bekommen hatte. Eine Frau wurde als fünfte aktiv Beteiligte gestern inhaftiert.