(Vorab veröffentlicht aus dem Monitor Nr. 31) Die Purzelbäume und Bocksprünge der “Autonomen Nationalisten” werden immer absurder. In ihrem Bemühen, möglichst radikal, militant und autonom zu wirken, wird die Wahl der geklauten Parolen immer beliebiger. Dass Rio Reiser sich zu seinem Schwulsein offen bekannte, steht einer Verwendung von Ton-Steine-Scherben-Songs nicht im Weg. Sogar der “Freundeskreis Halbe”, der sicher nicht im Verdacht steht, “autonome” Strömungen in der Kameradschaftsszene zu befürworten, bringt auf seiner Webseite ein Lied des Antifaschisten und Teilnehmers am spanischen Bürgerkrieg, Ernst Busch, zur Melodie von Hanns Eisler, der jüdischer Herkunft war. Den Hitler‑, Horst-Wessel- und Heß-Verehrern ist es inzwischen offenbar völlig egal, ob sie ihren beliebigen Zitatenschatzauch mit Werken prominenter Jüdinnen und Juden garnieren, wie etwa Rosa Luxemburgs “Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden”.
Aber sich auf den Talmud zu berufen — geht das nicht etwas sehr weit? Für die Kameraden aus der Lausitz, die neuerdings das Label “Jugendoffensive.Info” verwenden, offenbar nicht. Ihren Aufkleber “Werde aktiv!” garnieren sie mit dem Motto: “Wer wenn nicht wir? Wann wenn nicht jetzt?” Nun gut, dieser Spruch ist mittlerweile weit verbreitet. In der hier zitierten Form ist er wahrscheinlich — unter dem Einfluss jüdischer Frauen in der nordamerikanischen Lesbenbewegung — aus dem feministischen Sprachschatz übernommen worden. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi wählte den zweiten Satz als Überschrift für einen Partisanen-Roman. Der Spruch geht auf einen Satz von Rabbi Hillel dem Älteren zurück, der vor 2000 Jahren einer der wichtigsten Interpreten des jüdischen Gesetzes war. Eine inhaltlich korrekte Übersetzung lautet etwa: “Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und solange ich nur für mich bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?” Überliefert wird diese Aussage im Talmud, Abschnitt “Pirkei Awot” (Sprüche der Väter).
Woher werden diese postmodernen Jungnazis ihre Vorbilder in Zukunft nehmen? Vielleicht bei der radikalen israelischen Siedlerbewegung “Gush Emunin”, zu deutsch: “Block der Getreuen”? Das würde uns auch schon nicht mehr wundern…