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Unser Chef ist da oben und sieht alles”

Roma-Lager am Bahn­hof Gen­sha­gen­er Hei­de zieht weit­er, wenn das jüng­ste Baby aus dem Kranken­haus kommt

(MAZ, 05.03.04) LUDWIGSFELDE “Wir fahren weit­er, wenn mein Baby aus dem Kranken­haus kommt”, sagt Raxi. Der Kleine ist neun Monate alt und ihr erstes Kind. Er liegt mit ein­er Lun­genentzün­dung in Lud­wigs­felde, erzählt die junge Frau. Sie hat braune Augen, blond gefärbte Haare. “Am Fre­itag oder Sonnabend”, da kön­nen sie ihn abholen, sagt sie, über die geöffnete Halbtür eines Wohn­wa­gens hin­weg. Hinter
ihr schaut ein Mäd­chen mit lan­gen Lock­en um die Ecke, auf der Couch krabbelt ein Junge mit Windel­hose um sie herum. Bei­de haben Nuck­el im Mund, bei­de schauen mit großen Augen. Raxi zeigt auf die Kinder ihrer Cou­sine — “es wird
kalt …”, entschuldigt sie sich, zieht die Tür zu. 

Raxi gehört zu ein­er Gruppe Roma, die vorige Woche mit zwölf Wohn­wa­gen drei Tage auf der Rollschuh­bahn Lud­wigs­felde stand, die anschließend nicht auf
dem Auto­bah­n­park­platz Rangs­dorf bleiben durfte, und die von der Gemeinde Großbeeren jet­zt den Platz am Bahn­hof Gen­sha­gen­er Hei­de zugewiesen bekom­men hat­te. Strom liefern Aggre­gate, die zwis­chen den Wohn­wa­gen ste­hen, Wass­er holen sie sich von der Tankstelle. 

Drei Monate leben sie in Straßburg, neun Monate sind sie in West€pa unter­wegs, heute oder mor­gen ver­lassen sie den Bahn­hof­s­platz Gen­sha­gen­er Hei­de. Jungs laufen herum, ren­nen, schmeißen Stöckchen, ver­suchen die drei Hunde zu
fan­gen, die jed­er in eine Hand­tasche passen wür­den. Die Jungs kom­men näher und erzählen. Wenn sie in Frankre­ich sind, gehen sie in die Schule; unter­wegs ler­nen sie “bei Mut­ter und Vater, alles — lesen, schreiben und rech­nen. Ich
bin 6. Klasse.” Neun Klassen muss er schaf­fen. Und er heißt Külo. Nur Külo? “Ja, bei uns haben alle nur einen Namen.” Gegenüber kommt Raxi aus dem Wohn­wa­gen. Sie erzählt, dass sich alle ein­mal im Jahr in Ham­burg tre­f­fen, “im neunten
Monat, zu ein­er großen Mis­sion”. Jet­zt betreut sie andere Kinder aus den zwölf Wohn­wa­gen am Bahn­hof mit, “hier sind viele Kinder.” Wie viele? “Vielle­icht 60.” Wovon leben sie alle? “Vom Kindergeld in Frankre­ich.” Son­st nichts?
“Doch, wir verkaufen.” Und was? “Tep­piche.” Wer macht die Tep­piche? “Die Groß­mut­ter in Straßburg.” 

Nebe­nan in der Klein­gar­te­nan­lage “Hei­de­grund” ist ein Lud­wigs­felder zugange. Nein, seinen Namen möchte er wirk­lich nicht sagen. Aber nach dem Recht­en sehen, das muss er ja wohl. Wo “die da” doch schon so lange hier stehen,
“die Zige­uner”. Er habe auch schon allen Nach­barn bescheid gesagt, damit die auch nach dem Recht­en sehen kön­nen. Man weiß ja nie … 

Aber Frank Ger­hard weiß, der stel­lvertre­tende Bürg­er­meis­ter von Lud­wigs­felde. Er hat fünf Beschw­er­den auf dem Tisch, “von Leuten, die Angst haben, dass ihr Zaun ein­geris­sen oder dass etwas geklaut wird”, wie er sagt. Drei Tage, das sei eine nir­gends genau fest­gelegte Regelung bun­desweit, so lange wür­den nicht sesshafte Grup­pen geduldet. Ein­schlägige Urteile legten lediglich fest,
dass das Haus­recht ein­er Gemeinde gelte und dass soziale Härte­fälle zu ver­mei­den seien. 

Beschw­er­den liegen auch bei Polizei­wachen­leit­er Klaus Licht­en­berg. Er ärg­ert sich wenn er so Dinge hört wie “Da wis­sen wir ja, warum jet­zt wieder so viele Autos geklaut wur­den.” Der Polizei­haup­tkomis­sar sagt: “Die Autodiebstähle
und ‑ein­brüche haben mit dieser Truppe nichts zu tun. Wir haben da ganz andere Spuren. Voher wurde auch geklaut. Und außer­dem sind die doch mit höherk­las­si­gen Fahrzeu­gen unter­wegs als aufge­brochen und geklaut wurden.” 

Lothar Schwarz, Ord­nungsamt­sleit­er in Großbeeren, erk­lärt, dies­mal gebe es über­haupt keine Prob­leme. “Das sind vernün­ftige Zige­uner. Da hat­ten wir voriges Jahr schon ganz andere, die hand­grei­flich wur­den.” Natür­lich dürfen
sie bleiben, bis das Baby aus dem Kranken­haus kommt. Den Müll “nehmen sie bes­timmt mit. Wenn nicht, klären wir das mit dem Kreis oder machen es selb­st”, sagt Schwarz. 

Am Bahn­hof Gen­sha­gen­er Hei­de fährt mal ein Vol­vo auf den Platz, mal ein BMW. Dann kommt ein Mer­cedes, ein Mann in Schwarz steigt aus. Er heißt Pora­do. Ob er der Chef ist? “Nein, Madame.” Er zeigt mit dem Fin­ger senkrecht hoch.
“Unser Chef ist da oben und sieht alles, Madame. Der sieht alles und heißt Gott.” Ein­fach Gott? “Wir sind alle evan­ge­lisch, alle Roma. Wir sind eine freie
Kirchenge­meinde. Ohne Gott kön­nte ich nicht leben.” Ein klein­er Junge, dem die schwarzen Haare aus einem Loch in der gestrick­ten Mütze quellen, tippt sich an den Kopf und sagt: “Der Gott sieht alles, auch deine Gedanken hier drin.”

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