WITTSTOCK mit 12 500 Einwohnern zweitgrößte Stadt des Kreises Ostprignitz-Ruppin, zehn Kilometer vor der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern gelegen, entwickelt sich nach Einschätzung von Sicherheitsbehörden immer stärker zu einem Schwerpunkt rechtsextremistischer Umtriebe und Gewalt in Brandenburg. Bis Ende vorigen Jahres wurde im Zuständigkeitsbereich der Polizeiwache Wittstock ein 42-prozentiger Anstieg extremistischer Straftaten gegenüber dem Vorjahr registriert. Der Zuwachs extremistischer Delikte im gesamten Schutzbereich Ostprignitz-Ruppin betrug demgegenüber nur vier Prozent.
Das Potsdamer Innenministerium hat auf diese Entwicklung inzwischen reagiert und in Wittstock eine weitere Sonderkommission (Soko) gegen extremistische Gewalt installiert. “Wittstock ist unser absoluter Schwerpunkt”, sagt Kriminalhauptkommissar Steffen Decker. Der 45-Jährige leitet die neue “Soko Tomeg Nord”. “Tomeg” steht dabei für “Täterorientierte Maßnahmen gegen extremistische Gewalt”.
Die “Tomeg Nord” ist die siebte Einrichtung ihrer Art in Brandenburg und die erste, die schutzbereichs- und länderübergreifend operiert. Deckers Mitarbeiter haben deshalb nicht nur das rechtsextreme Klientel in Wittstock im Blick, sondern auch das der Nachbarstadt Pritzwalk sowie die Neonazi-Szene aus dem südlichen Mecklenburg.
“Die Täter bei uns handeln vermehrt schutzbereichsübergreifend”, begründet Decker das Konzept. Nach Beobachtungen der Polizei vermischen sich die Szenen. Dabei zeigt sich allerdings, dass rechtsextreme Täter aus dem Raum Pritzwalk eher in Wittstock zuschlagen als Wittstocker in Pritzwalk. Die Zahlen sprechen für sich: Während die extremistischen Straftaten rund um Wittstock um 42 Prozent anstiegen, sanken sie im Bereich der Polizeiwache Pritzwalk im vergangenen Jahr um 37 Prozent. Ein Grund für diese Verschiebung ist vermutlich die streitbare linke Szene, die es in Pritzwalk gibt, nicht aber in Wittstock.
Die nahe Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern hat zudem die Kooperation der Neonazi-Szenen beider Länder befördert. “Wir müssen deshalb länderübergreifend handeln”, sagt Kriminalist Decker. Darüber hinaus soll es gute Kontakte zur Berliner Neonazi-Szene geben.
Die Wittstocker reagieren längst verängstigt auf die aggressiv auftretenden Neonazis. Bei einer MAZ-Bürgerbefragung Ende vorigen Jahres sagte Messalina Marnitz: “Abends laufe ich auf keinen Fall alleine durch die Stadt, denn hier ist ja schon fast jeden Abend Treffpunkt der Glatzen.” Und Sandra Seerig forderte: “Hier sollte man erst einmal die eigenen Probleme, wie zum Beispiel Ausschreitungen von Jugendlichen in die Reihe kriegen.”
Die Empfindungen werden durch Erkenntnisse der Polizei untermauert: Rechtsextremistische und allgemeine Gewalt bilden danach ein diffuses Gemisch. Etliche Neonazis verüben auch Gewalttaten ohne politischen Hintergrund, und Allgemeinkriminelle haben Berührungspunkte mit rechtsextremistischen Tätern. 115 gewalttätige und dabei oft rechtsextreme junge Männer hat die “Tomeg Nord” im Blick: 60 aus Wittstock, 30 aus Pritzwalk, 25 aus Mecklenburg. Darunter sind in Wittstock 30 Rechtsextremisten und 15 in Pritzwalk. Zum ideologisch harten Kern zählen in Wittstock 15, in Pritzwalk zehn Personen. “Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher”, vermutet Decker jedoch.
Da die Tomeg sich nicht allein auf die Delikte konzentriert, sondern auf die Täter, kann sie alle strafrelevanten Informationen über ihr Klientel bündeln. “Wir versprechen uns viel davon, wenn der Staatsanwalt die gesamte Geschichte eines Täters kennt”, sagt Decker. “Das Ziel ist eine strengere Strafverfolgung.”
Dass Wittstock als eine neue Hochburg des Rechtsextremismus in Brandenburg wahrgenommen wird, hängt offenbar eng mit einer Einzelperson zusammen. Im Mittelpunkt des rechtsextremen Netzwerks in Nordbrandenburg steht Landwirt Mario Schulz aus Cumlosen bei Wittenberge, langjähriger Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes OPR.
Der Landesparteitag der NPD am 17. Februar im Kreis Oberhavel hat den Mittdreißiger sogar mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden des gemeinsamen Landesverbandes Berlin-Brandenburg bestimmt.
“Gewählt wurde Herr Schulz vermutlich wegen seiner Rührigkeit und seines Organisationstalents. Es ist ihm gelungen, in bestimmten Abständen immer wieder Demonstrationen auf die Beine zu stellen”, schätzt ein Sicherheitsexperte die Lage ein.
Allein seit August 2001 hatte NPD-Funktionär Schulz sechs Demonstrationen in Wittstock und Neuruppin angemeldet und sich damit in der Szene profiliert. Dabei trat die rechtsextreme Partei stets verdeckt als “Aktionsgemeinschaft für Frieden und Selbstbestimmung” oder “Aktionsgemeinschaft der Anständigen” an die Öffentlichkeit.
Besonders provozierte Schulz bei einer anti-amerikanischen Kundgebung am 22. September in Neuruppin, als er — strafrechtlich allerdings unerheblich — eine US-amerikanische Flagge verbrannte.
Auch wenn Schulz darauf achtet, dass NPD-Mitglieder nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden ist der “Chefdynamiker” (so ein Experte) auch der “Kristallisationspunkt für die nichtorganisierte Szene”.
Wozu die imstande ist, zeigte sie am 13. Oktober im Wittstocker Jugendclub “Havanna”: 58 Neonazis aus Nordbrandenburg und Mecklenburg-Vorpommern grölten “Wir lieben Adolf Hitler” und hörten lautstark volksverhetzende Texte der indizierten Berliner Nazi-Skinheadband “Landser”. Als die Polizei das Treiben beenden wollte, verbarrikadierten sich die Neonazis und lieferten sich eine Saalschlacht mit den Polizisten, die sie mit Flaschen, Tischen und Stühlen bombardierten.
Wo ist der Neger?
Einer der rabiatesten Überfälle des vorigen Jahres in Brandenburg ereignete sich am 20. Mai in Wittstock. Mit den Worten “Wo ist der Neger?” stürmten fünf junge Neonazis eine Wohnung, in der sie den dunkelhäutigen Manuel G. vermuteten. Als einer der Vermummten den Gesuchten auf dem Balkon entdeckte, hangelte sich der 23-Jährige auf den Balkon des dritten Stockwerks. Anschließend stürzte er in die Tiefe. Der junge Mann verletzte sich glücklicherweise nur leicht.
Beim Prozess gegen den 18-jährigen Hauptangeklagten Dennis St. zeigte sich die Dreistigkeit der Wittstocker Neonazi-Szene erneut. Als der 18-jährige Marco S. mit seinem offen zur Schau gestellten “NSDAP”-T-Shirt provozierte, ließ ihn der Staatsanwalt im Gerichtssaal festnehmen. Die zum Prozess angereisten 25 Jung-Neonazis schwiegen. “Die waren wohl geschockt, dass ein Staatsanwalt so durchgreift”, vermutete Neuruppins Chefankläger Gerd Schnittcher. Der Hauptangeklagte wurde zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, das Verfahren gegen die vier Mitangeklagten wurde abgetrennt, das Urteil gegen sie wird für heute vor dem Neuruppiner Amtsgericht erwartet.